Zwischenruf: Homosexualität und Kirche

Im „Zwischenruf“ reagiere ich auf Zeitschriftenartikel, die ich gerade gelesen habe. Manchmal möchte ich einfach Dampf ablassen. 

In den „Zeitzeichen 1/19“ las ich in einem Artikel über das christliche Eheverständnis von Horst Gorski – diese Zeitschrift ist nur für Abonnenten abrufbar, deshalb zitiere ich ausführlicher:

„1996 veröffentlichte der Rat der EKD [eine Schrift unter dem Titel] ‚Mit Spannungen leben. Eine Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Thema Homosexualität und Kirche‘, die unter Vorsitz von Wilfried Härle von einer im Jahre 1994 eingesetzten Ad-hoc-Kommission erarbeitet wurde. Der Text beginnt mit einer Entschuldigung für das Homosexuellen in der Vergangenheit angetane Unrecht. Sodann werden die biblischen Aussagen zu Sexualität und Homosexualität einer gründlichen Prüfung unterzogen. Es zeige sich, dass es keine biblischen Aussagen gibt, die Homosexualität in eine positive Beziehung zum Willen Gottes setzen. Homosexuelle Praxis als solche wird als dem ursprünglichen Schöpferwillen Gottes widersprechend qualifiziert. Angesichts der zentralen Stellung, die das Liebesgebot in der Heiligen Schrift habe, dürfe jedoch auch homosexuelles Zusammenleben nicht von seiner Geltung ausgenommen werden. Dies hebe jedoch den biblischen Widerspruch nicht auf. Die damit gegebene Spannung müsse ausgehalten werden.“

Bis hierher war ich gekommen. Eine ähnliche Argumentation höre ich, mal mit stärkerer, mal mit weniger Ablehnung der Homosexualität verbunden, immer wieder. Als die Nordkirche gegründet wurde, wollte der pommersche Bischof Abromeit das Thema „Homosexualität und Pfarramt“ wieder auf die Tagesordnung setzen. Der nordelbische Bischof Ulrich aber erklärte kategorisch: Über manche Dinge diskutieren wir nicht mehr.

Vor einigen Jahren erhielt ich im Zusammenhang mit einer Taufe einen Anruf einer Frau aus Leipzig. Sie wollte gerne Patin werden, sei aber nicht in der Kirche. Ich erklärte ihr: „In der Tat kann nur Patin werden, wer Mitglied der Kirche ist. Aber wir finden bestimmt eine Lösung.“ Daraufhin meinte sie: „Ich finde Kirche ja prinzipiell gut, und ich glaube auch an Gott.“ Und ich dachte: Das sagen sie alle. Und ich glaube ihnen ja auch, aber es geht trotzdem nicht.

Aber dann sprachen wir weiter, und sie erzählte: „Ich habe hier in Leipzig einen Gottesdienst besucht, und da hat der Pfarrer gesagt: Homosexualität ist Sünde, und deshalb sind Homosexuelle auch keine vollwertigen Mitglieder am Tisch des Herrn. Naja, und weil ich lesbisch bin, bin ich eben ausgetreten.“ Und ich antwortete ihr: „Recht so. Wenn ich schwul wäre, und ein Pfarrer würde das zu mir sagen, hätte ich es genau so gemacht. Ich bin mir nur nicht sicher, ob ich danach überhaupt noch mit einem Vertreter der Kirche gesprochen hätte.“ Und dann erzählte ich ihr von Hamburg: „Einer meiner früheren Pröpste ist bekennend schwul gewesen und jetzt einer der wichtigsten Theologen in der EKD. Und mit der Meinung des Leipzigers Pfarrers stimme ich überhaupt nicht überein.“ Es wurde noch ein gutes Gespräch – und, womit ich überhaupt nicht gerechnet hatte – zwei Wochen später besuchte sie mich und trat wieder in die Kirche ein. – Der „frühere Propst“ ist übrigens derselbe, der auch den zeitzeichen-Artikel geschrieben hat.

Ich selbst bin mit der Vorstellung groß geworden, Homosexualität sei ebenso Sünde wie vorehelicher Geschlechtsverkehr. Dann lernte ich die historisch-kritische Methode kennen. Das heißt: Die Bibel in ihrem historischen Kontext verstehen. Damals, vor zwei- bis dreitausend Jahren, war es einfach die Aufgabe des Mannes, viele Kinder zu zeugen. Es war eine Frage des Überlebens für die Familie, den Clan, das Volk. Wer sich freiwillig aus dieser Aufgabe verabschiedete, versündigte sich an seinen Nächsten. Onan zum Beispiel, ein Enkel des Erzvaters Jakob, „ließ seinen Samen zur Erde fallen“ (1. Mose 38,8-10) – nicht durchs Onanieren übrigens, sondern durch einen Coitus interruptus – und wurde dafür von Gott getötet. Sexualität war keine Privatsache, sondern Dienst an der Gemeinschaft. Das galt nicht nur für biblische Zeiten, sondern im Prinzip noch bis ins vorletzte Jahrhundert hinein.

Keiner wird bestreiten, dass sich Zeiten und Rahmenbedingungen grundlegend geändert haben. Kein Bischof tritt mehr für die Sklaverei ein, obwohl diese Gesellschaftsform für die biblischen Autoren völlig selbstverständlich war. Und ausgerechnet bei der Homosexualität tun wir so, als ob wir mit der Moral von Halbbeduinen die Welt von heute retten könnten.

Die Orientierungshilfe baut eine „Spannung“ auf zwischen dem Liebesgebot und dem Wortlaut der Bibel. Diese Spannung existiert nicht, wenn wir den Wortlaut der Bibel in den Dienst der Liebe stellen. Hat nicht Jesus so etwas immer wieder gefordert?

Im Artikel beschreibt Horst Gorski dann, dass die evangelische Kirche in den vergangenen 20 Jahren große Schritte getan hat auf dem Weg zur Gleichberechtigung von hetero- und homosexuellen Partnerschaften. Aber sie laviert immer noch hin und her. Und ich finde es schon unbefriedigend, dass darüber überhaupt geredet werden muss.

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Beitragsbild von geralt auf Pixabay

 

Auf den Punkt gebracht

Es gibt Menschen, deren Sätze keinen Punkt haben, sondern höchstens Kommas oder Semikola. Ihre Gedanken mäandern einfach weiter. Geistliche sollen dazu gehören. Ich kenne – öhm – jetzt gerade keinen, habe aber davon gehört.

Umso erstaunlicher, wenn ein Pfarrer ein Buch voller Aphorismen veröffentlicht, das nicht nur seinen Gedanken auf den Punkt bringt, sondern gleichzeitig unsere Gedanken weiterlaufen lässt. „Zärtlichkeit und Schmerz“ heißt das Buch, und Kurt Marti hat es geschrieben. Ich bekam es zu meinem Geburtstag 1982 von meinem Freund Johannes, und es wirkt seitdem wie eine Auffrischungsimpfung gegen die Bequemlichkeit des Denkens.

Ich kannte Kurt Marti schon. Seine „Leichenreden“, vor 50 Jahren erschienen, waren legendär. Und nicht wenige Theologiestudenten kannten den „Gustav E. Lips“ auswendig:

dem herrn unserem gott
hat es ganz und gar nicht gefallen
daß gustav e. lips
durch einen verkehrsunfall starb

Und Marti zählt etliche Gründe auf, warum es Gott nicht gefallen haben kann und meint schließlich:

im namen dessen der tote erweckte
im namen des toten der auferstand
wir protestieren gegen den tod von gustav e. lips

Wer die Sprache und Denkweise der Kirche der 60er Jahre im Ohr und vor Augen hat, der ahnt, welche Revolution Marti damit auslöste. Hier protestierte einer nicht nur gegen den Tod von Gustav E. Lips, sondern gegen eine Tradition, die einfach nachgesprochen wurde. Hier untersuchte ein Pfarrer die Wahrheit auf Wahrhaftigkeit.

Für viele von uns Theologiestudenten der 70er Jahre war es eine Befreiung. Und erst in der Gemeinde merkte ich, wie viel Mut Kurt Marti gehabt hatte. Denn noch Jahrzehnte später entfaltete die Tradition – auch mithilfe vieler Gemeindeglieder – eine ungeahnte Macht. Aber Kurt Martis „Zärtlichkeit und Schmerz“ hat bestimmt auch dazu beigetragen, dass der Stachel blieb: auch mal gegen das Selbstverständliche zu denken.

Aphorismen sind, wenn sie gut sind, witzig und intelligent, überraschend und anregend. Und wenn sie sehr gut sind, enthalten sie Gedanken, die sich festsetzen wie Widerhaken, immer wieder bewegen, ihre Wahrheit erst im Erleben freisetzen und neue Facetten aufscheinen lassen. Dies ist eine solche Sammlung.

Hier las ich zum ersten Mal den Satz: „Wer Mitleid fühlen will mit einem Europäer, muß ihn tanzen sehen.“ (Afrikanischer Christ über seine weißen Brüder)  Aber mehr noch beeindruckte mich die Folie divine: Gott? Jener Große, Verrückte, der noch immer an Menschen glaubt.“ Das gesamte Glaubensbekenntnis, unsere Lebensgrundlage und Hoffnung in neun Wörtern. Wie macht Marti das?

Und uns Geistlichen gibt er mit auf den Weg, zart und genau zu sein: Zart und genau: das sind ästhetische Kategorien. Nicht weniger sind es theologische. Vor allem sind es Kategorien einer Gerechtigkeit, die göttlich zu nennen erlaubt ist, weil ihr Recht … dem Willen entspringt, … den Menschen, den Dingen zutiefst gerecht zu werden.

Mein Lieblingsgedanke aber – und viele von euch kennen ihn, weil ich ihn wirklich schon oft zitiert habe, ist die Frage: Gott, so denkt man oft, so verkünden Eiferer lauthals, sei Antwort. Spröder sagt die Bibel, daß er Wort sei. Und wer weiß, vielleicht ist er meistens Frage: die Frage, die niemand sonst stellt.

Und zum Schluss ein Gedanke, der genau in unsere Situation hineinspricht. Wünsche: Wie, wenn Wünsche nicht fertig werden, wenn der Tod ihnen zuvorkommt? Und doch wäre dies das geringere Übel. Trauriger ist’s, wenn die Wünsche fertig sind, aber der Tod nicht kommen will.

Kurt Marti starb vor zwei Jahren. Aber seine Wünsche und Gedanken sind nach wie vor lebendig.

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Kurt Marti, Leichenreden, dtv München 2004 (Erstveröffentlichung 1969 Frankfurt/M). Die Leichenrede steht auf Seite 27.
Kurt Marti, Zärtlichkeit und Schmerz, Sammlung Luchterhand, Darmstadt und Neuwied 1981. Die Aphorismen stehen auf den Seiten 14, 24, 116, 107 und 37. Und das „Eismeer“ von C.D. Friedrich ist das Titelbild von Buch und Blog.

Beitragsbild: Von Caspar David Friedrich – The Yorck Project (2002) 10.000 Meisterwerke der Malerei (DVD-ROM), distributed by DIRECTMEDIA Publishing GmbH. ISBN: 3936122202., Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=151054

 

Durch die Hintertür

Die Bauernhäuser im Norden, die ich kenne, haben meistens eine Vordertür und eine Hintertür, die zum Stall rausgeht. So war es auch bei uns – man kam von hinten erst in die Waschküche, in der man das meist dreckige Schuhwerk ausziehen konnte, und dann direkt in die Küche. Diese Tür war fast nie abgeschlossen, man kam nahezu ungehindert direkt in die Wohnung. Die meisten nutzten diesen Zugang. Nach vorne kamen nur Fremde und Gäste bei größeren Festen. Sie gingen dann durch den – aufgeräumten und sauberen Flur – ins gute Wohnzimmer. Oder sogar in die „Beste Stube“, die nur zu besonderen Festen genutzt wurde.  Die Vordertür war die Schauseite.

Wir lernen unsere Welt und unser Land meist durch die Vordertür kennen. Wir bewegen uns auf den 6,2% versiegelten Flächen, auf sicherem Boden, möglichst sicher, möglichst planbar.

Das brachte Henning Sußebach, Reporter bei der Zeit, auf eine Idee: Er wollte einmal die sicheren Wege verlassen und sich auf eine Wanderschaft machen und dabei Straßen, Wege und Ortschaften meiden. Deutschland durch die Hintertür erleben. Sein Weg begann auf dem Darß und endete auf der Zugspitze. Und er erlebte das Land aus einem neuen Blickwinkel.

Ich erinnere mich, dass vor einigen Jahren schon einmal Zeit-Reporter das Land kennenlernen wollten. Als die AfD in Mecklenburg den Landtagswahlkampf aufmischte, wollten sie wissen: Wer sind die Menschen, die diese Partei wählen? Und sie fragten und beobachteten. Sie machten es gut und differenziert. Aber beide Seiten blieben sich fremd. So richtig verstanden haben sie sich nicht. Diese Reporter kamen durch die Vordertür.

Auch Henning Sußebach lernt Mecklenburg kennen. Er trifft AfD-Wähler, zufällig, am Wegrand. Sie laden ihn ein. Er geht praktisch durch die Hintertür und sitzt mit ihnen in der Küche. Und sie erzählen, und sie kommen sich nahe. Für mich gehört dieses Kapitel zu den berührendsten im Buch „Deutschland ab vom Wege“.

Sußebach lernt auch andere Menschen kennen, ganz unterschiedliche. Er trifft Hippies und kommt in einen Golfclub. Und als er die Grenze zu Bayern überschreitet, spürt er, dass dort wieder etwas anders ist. Das Leben ist schneller, und er, der Fußgänger, fühlt sich mehr als zuvor als Fremder.

Und am 50. Tag steigt er in die Wolken der Zugspitze hinauf. Und mit ihm, so schreibt er, gehen all die Menschen, denen er auf seiner Wanderung begegnet und denen er wirklich nahe gekommen ist.

„Deutschland ab vom Wege“ ist ein langsames Buch, das wir sehr schnell gelesen haben. Es hat uns berührt, neue Perspektiven eröffnet. Vor allem aber hat es uns noch einmal den großen Satz Martin Bubers vor Augen geführt: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“

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Henning Sußebach, Deutschland ab vom Wege. Eine Reise durch das Hinterland. rororo Taschenbuch, Rowohlt, Reinbek b. Hamburg. 183 Seiten. ISBN 978 3 499 63169 6

 

Parallelgesellschaft

Nach meiner privaten Theorie hat der Norddeutsche an sich seinen Wikingerglauben nie ganz abgelegt. Die Götter unserer Vorfahren waren, im Unterschied zum Gott der Bibel, grundsätzlich bedrohlich. Wenn sie auftauchten, wurde es gefährlich: auf See, in der Schlacht, bei der Ernte, in der Nacht. Im besten Fall bekam man später einen anständigen Platz in Walhalla. Die Menschen wurden von Geistern geängstet und gequält. Entsprechend hielt man sich tunlichst von ihnen fern. Und die Geistlichkeit hatte genau diese Aufgabe, sie zu bannen – oder, wenn sie schon mal da waren, sie zu besänftigen.

Warum also, so die norddeutsche Überzeugung, muss ich zur Kirche, wenn es mir gut geht? Erst zu den prekären Zeiten wird sie gebraucht: Bei Geburt und Tod, in der Pubertät oder bei der Hochzeit, bei Ernte und dann, wenn es dunkel ist: im tiefen Winter. Dann ist die Kirche traditionell auch knallvoll. In der modernen Gesellschaft haben sich die Bedingungen gewandelt, das Prinzip aber ist geblieben – wenn man sich z.B. den Boom der Schulanfängergottesdienste anschaut; dieser Lebensübergang ist ja vor allem für die Eltern angstbesetzt.

In Brinkebüll aber ist diese Naturerfahrung noch unmittelbar. Die Nordfriesen, so erzählt Dörte Hansen in der „Mittagsstunde“, seien „gegen jeden Glauben imprägniert“. Alles Göttliche liefe ab an ihrem Fell wie Wasser am Gefieder einer Gans.

Gemeint ist natürlich der Gott der Bibel, den die Pastoren den Menschen nahe bringen wollen. Die Menschen aber glauben an einen anderen Gott, der näher an ihren eigenen Erfahrungen ist: Unberechenbar und bedrohlich wie die Natur. Und der geht es „gar nicht um das bisschen Mensch“, wie Dörte Hansen am Anfang und am Ende ihres Buches betont. Der Mensch kommt und geht, aber größer noch, wichtiger und beständiger ist das Altmoränenland, der Wind, die Natur.“ Und so hatte „der Gott, an den Sönke Friedrichsen glaubte, nicht viel Väterliches, und besonders gnädig war er auch nicht, nur gerecht“. So einer überhört am besten die lebensferne Botschaft des fremden Evangeliums: „Verrückte und Pastoren, einfach klappern lassen.“ Evangelium auf der Geest ist das, was hilft, in diesem Leben zurecht zu kommen. Und so wird das biblische Sabbatgebot denn auch zur „Middachstunde“, zur heiligen Ruhe mitten am Tag: An ihm darfst du keine Arbeit tun: du und dein Sohn und deine Tochter, dein Sklave und deine Sklavin und dein Vieh und dein Fremder in deinen Toren. (2. Mose 20,10)

Es gab allerdings auch Pastoren, die den Zugang zu ihrer Gemeinde fanden. Sie ehrten die Alten mit ihrem Besuch bei runden Geburtstagen. Sie nahmen selbstverständlich am Beerdigungskaffee teil. Sie sagten nicht nur Moin, sie sprachen platt und sahen, wann ein Schwein reif für den Schlachter war. Sie achteten auf die Moral in der Gemeinde, sahen dann aber nicht mehr so genau hin. Und wenn man dann mal zur Kirche ging, hörte man lebensnahe Predigten, nicht so pastoral.

Pastor Ahlers hat diesen Ton offensichtlich nicht ganz getroffen. Sein Zuhause war eher das Studierzimmer. Bis zuletzt hoffte er „mit aller Demut und Sanftmut, mit Langmut, die Seelen zu erquicken und sie aus den dunklen Tälern zu befreien“. Die Seelen aber hatten andere Sorgen.

In meiner Heimatgemeinde Toestrup gab es nun vor hundert Jahren einen Pastor, der sich noch einmal in ganz anderer Weise den Erwartungen widersetzte. Ja, er machte unzählige Hausbesuche. Aber sein Ziel war kein unverbindlicher Klönschnack. Er wollte Seelen zu Jesus bekehren. Er achtete auf die Moral in der Gemeinde und sah auch im Nachhinein genau hin. Als Christ, so seine Botschaft, spielt man keine Karten, man trinkt nicht und lässt die Ehefrau des Nachbarn in Ruhe.

Und siehe, einige Familien ließen sich überzeugen. Zumal dieser Schritt auch mit wirtschaftlichen Vorteilen verbunden war: Man hatte morgens beim Melken einen Kirche Toestrupklaren Kopf, nicht schon die Hälfte der Haushaltskasse verspielt, und das Verhältnis zum Nachbarn war wesentlich gelassener geworden.

Der Kröger im Nachbardorf schenkte nur noch Nichtalkoholisches aus und stellte seinen Gastraum dem kirchlichen Posaunenchor zur Verfügung. Und die Gottesdienste waren auch an normalen Sonntagen gut besucht.

Als mein Vater in der Gemeinde seinen Hof baute, verstand er sich besonders gut mit diesen Familien. Er selbst gehörte zur Gemeinschaft in der Landeskirche, einer Art Freikirche innerhalb landeskirchlicher Strukturen. Und auch meine Mutter gehörte zu den Frommen im Lande. Sie war geprägt von der Breklumer Mission, die 1876 vom Pastor Christian Jensen gegründet worden war. In ihrem Heimatdorf Vollstedt gab es einen aktiven „Missionsnähkreis“, jedes Jahr räumte ein Bauer seine Scheune für das „Missionsfest“, und meine Großmutter hielt am Sonnntagnachmittag die „Sonntagsschule“, in der sie uns und Kindern aus dem Dorf biblische Geschichten beibrachte.

In dieser Welt bin ich groß geworden. Wir lebten in einer Parallelgesellschaft, gut vernetzt bis nach Hamburg – in einer Zeit, in der die meisten Angeliter knapp hinter die Schlei guckten, durchaus ungewöhnlich. Unser Jugendchor kooperierte mit einem anderen aus Altona, und die „Gemeinschaft“ veranstaltete ihre Jahrestreffen in den Holstenhallen in Neumünster. Viele von ihnen sahen wir auf dem Jahresfest des „Elisabethheims“ wieder, einem Waisenhaus in Havetoft zwischen Flensburg und Schleswig. Und beim Jahresfest der Breklumer Mission kamen Delegierte aus der ganzen Welt ins dörfliche Schleswig-Holstein. Mag die Frömmigkeit auch eher eng gewesen sein, der Blick ging weit über den Tellerrand hinaus.

Auch über den der eigenen Gemeinschaft. Bewusst engagierten sich viele Mitglieder in Kirchenvorständen und leitenden Gremien der Landeskirche – durchaus mit missionarischem Impuls: Nach unserer Vorstellung waren die „Kirchenchristen“ mit dem rechten Evangelium eher unterversorgt und von modernen Theologien unterwandert. Das führte manchmal zu harten Auseinandersetzungen und Abgrenzungen, aber auch zum Austausch und besserem Verständnis füreinander.

Es war nicht immer leicht, in einer solchen Parallelgesellschaft zu leben. Wir waren vielleicht nicht unbedingt Außenseiter, aber doch etwas Besonderes – und fühlten uns auch so. Wenn andere erzählen, wieviel Spaß sie in ihrer Jugend gehabt, auf Feten geknutscht und am Strand  abgehangen haben, dann erzähle ich von der Arbeit in der Ernte und dem Schülergebetskreis.

Andererseits habe ich von der frommen Atmosphäre sehr profitiert. Wir fragten immer nach den wirklich wichtigen Dingen: Gibt es einen Gott, einen Sinn? Was hält unsere Welt zusammen? Wie wollen wir leben? Und Spaß hatten wir durchaus auch.

Und dann ging mein Weg ja weiter. Im Studium, in der Ferne konnte ich dann für mich ganz neue Erfahrungen machen.

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Das Beitragsbild zeigt die Nicolaikirche zu Bredstedt, zu deren Kirchengemeinde Högel – und damit wohl auch Brinkebüll – gehört: Von Goegeo – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3838642
Bild im Text: St. Johanniskirche zu Toestrup © Erik Thiesen

Mittagsstunde

Högel ist ein kleiner Ort irgendwo auf der nordfriesischen Geest. Dörte Hansen ist dort aufgewachsen. Und, 3 km weiter, jenseits der Feldmark in Vollstedt, meine Mutter. Auch in Högel hatten wir Verwandte.

mittagsstunde.jpgDörte Hansen hat einen Roman über diese Gegend geschrieben: Mittagsstunde. Sie erzählt von Ingwer Feddersen, der nach Kiel gegangen ist und nun zurück kommt, um seine Eltern zu pflegen. Und sie berichtet in Rückblenden von den 60er Jahren, als sich mit der Flurbereinigung die jahrhundertealten Dorfstrukturen dramatisch veränderten.

Ich kenne diese Zeit, und sie wurde beim Lesen wieder sehr lebendig. Ich spürte den „Schrägregen“ auf meiner Haut, der aus „Wolken wie Mühlsteinen“ fiel, nahm die „norddeutsche Schonhaltung“ dagegen ein und hörte über mir die Düsenjäger aus Leck und Jagel. Auch bei uns wurde die Hintertür nicht abgeschlossen und die Mittagsstunde strikt eingehalten.

Und selbst die Menschen erkannte ich wieder. Den Schmied an der Esse und den Höker – in Vollstedt betrieben meine Pateneltern selbst einen Kaufmannsladen. Der „Halfbackten“ konnte man dort noch im selben Biotop begegnen wie dem Überflieger. Es gab diejenigen, die als Hoferben im Dorf blieben, und die Nestflüchter, die nach der Schule schnellstmöglich die Gegend verließen.

Und Dorfschullehrer konnten genauso skurril sein wie Lehrer Steensen. Vier Jahre ging ich auf die „Volksschule“ – 18 Schülerinnen und Schüler, 8 Klassen, ein Raum. Der Lehrer hielt viel von schwarzer Pädagogik. Ich mochte ihn nicht. Damals wurde der Peter JünkGrund gelegt für meine Abneigung gegen Sport und Mathe. Heimatkunde aber liebte ich und bin begeistert mit „Peter Jünk auf der Silbermöwe kreuz und quer durch Schleswig -Holstein“ geflogen.

Als ich zum Gymnasium kam, wurde diese Schule aufgelöst. Auch sonst hielt der Fortschritt bei uns Einzug. Im Umkreis von 10 km eröffneten die Discounter, und ein Dorfladen nach dem andern gab auf. Auch die Nebenstraßen wurden nun geteert und zu gefährlich zum Spielen. Als ich später selbst den Führerschein hatte – auf dem Land wichtiger als das Abitur -, habe ich so manche von ihnen mit dem Nürburgring verwechselt. Dass nichts passiert ist, habe ich wohl nur der Trägheit des Mercedes Diesel zu verdanken und der Tatsache, dass ich schon ein Jahr später von dort wegzog.

Die Knicks, in denen in Jahrzehnten natürliche Baumhäuser gewachsen waren, wurden vernichtet und ein paar neue im Rechteckformat wieder angepflanzt – die Flurbereinigung hielt Einzug.

Damit verschwand die ursprüngliche Natur. Die FAZ meinte, Dörte Hansen beschriebe die „Zerstörung der ländlichen Idylle“. Ein städtisches Missverständnis. Idyllisch war es nie: Die Bauern „hatten sich von diesem Land vorschreiben lassen, wie sie leben sollten, ärmlich und bescheiden auf der Geest, als Hungerleider. Jetzt drehten sie den Spieß mal um und wiesen die Natur in ihre Schranken“. Erst später, als auch die bäuerliche Arbeit durch die Technisierung einfacher geworden war, stellte man wieder Hinweisschilder zu den letzten Hünengräbern auf oder gestaltete gleich einen ganzen Thingplatz völlig neu.

Zu spät merkten die meisten, dass in dieser neuen Welt nur noch für Einzelne Platz sein würde. Feste wurden in gewohnter Größenordnung gefeiert, der neue Trecker und das größere Auto angeschafft, selbst wenn der Hof nicht mehr zu halten war.

Mit dem Fortschritt kamen die Zuzügler aus der Stadt. Einige von ihnen integrierten sich, andere nicht – je nachdem, ob sie auf der Straße Moin sagten oder nicht. „Seggt keen moin, die Sorte war erledigt.“ Das habe ich selbst erlebt, als Vikar in Waabs, einer Dorfgemeinde an der Eckernförder Bucht. Abends in der Kneipe sagte der Wirt vorwurfsvoll. „Magst du uns nicht mehr?“ Es stellte sich heraus, dass ich ihn nicht gegrüßt hatte, als er im Auto an mir vorbeigefahren war. Es spielte auch keine Rolle, dass man ihn hinter der Scheibe gar nicht erkennen konnte. Danach grüßte ich jedes Auto, das ein RD-Kennzeichen trug.

Die Lektüre von „Mittagsstunde“ hat in mir viele Saiten zum Klingen gebracht. In dieser Welt bin ich groß geworden. Aber ich habe auch andere Erfahrungen gemacht, die mich geprägt haben. Denn ich bin nicht auf der Geest groß geworden, sondern in Angeln. Und in einem ganz anderen kirchlichen Umfeld.

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Dörte Hansen, Mittagsstunde. 3. Aufl. 2018, Penguin Vlg München, 309 Seiten

 

Sailing to Philadelphia

Als Mark Knopfler vor vier Jahren nach Hamburg kam, hatte ich noch keinen besonderen Zugang zu seiner Musik. Die Dire Straits, ja klar, Sultans of Swing. Schöne Musik, für den Hintergrund, wie David Bowie und Bruce Springsteen. Aber nichts für meinen Flash.

Aber ich wurde neugierig, hörte mich ein – und war fasziniert. Vielleicht war die Zeit reif für seinen relaxten Rock. Und es war noch mehr. Mark Knopfler ist nicht nur ein genialer Künstler auf der Gitarre, er erzählt Geschichten. Mit ihm vermesse ich die Mason-Dixon-Linie neu („Sailing to Philadelphia“), werde zu Phil Marlowe („Private Investigations“), segle als Pirat durch die Karibik („Privateering“) und leide mit „Romeo and Juliet“. Und wenn ich „Local Hero“ höre, den gesamten Soundtrack, möchte ich sofort eine Reise nach Schottland buchen.

Deshalb dauerte es ein wenig, bis ich mich entschloss, Karten für sein Konzert zu kaufen. Es war zu spät. Nur eine windige Firma in Berlin bot noch Restposten an, für ein Monatsgehalt, irgendwo unterm Dach der Arena. Und diese Firma war bekannt dafür, dass sie gerne das Geld nahm, aber ungerne die Karten verschickte…

Und dann kam Weihnachten. Ein unscheinbarer Umschlag, zwei Karten. „An Evening With Mark Knopfler“. Am 25. Juni 2019 in der Arena. Und Ute war froh, dass ich noch nichts von seiner Deutschland-Tour gewusst hatte.

Moment – der 25. Juni? Das ist ein halbes Jahr hin! In den letzten zwei Jahren sind Planungen, die weit kurzfristiger angesetzt waren, durchkreuzt worden: Unsere Urlaube in Schweden und auf Teneriffa, der November-Gottesdienst… Immer kam irgendeine Metastase dazwischen. Und jetzt irgendetwas im Juni? Wir wissen ja noch nicht einmal, was im März sein wird!

Eben. Wir wissen es nicht. „Hoffen lernt man auch dadurch, dass man handelt, als sei Rettung möglich. Hoffnung garantiert keinen guten Ausgang der Dinge“, sagt Fulbert Steffensky. Wir tun einfach mal so, als ob es mir am 25. Juni gut geht – so gut, dass ich in der 4. Reihe im Oberrang sitzen kann, voller Spannung, ob Mark Knopfler einen meiner Lieblingssongs spielt. Eines weiß ich heute schon: Ich werde es genießen. Die Musik – und dass ich sie hören kann.

Spiel mir das Lied vom Tod

Es gibt Frauen- und es gibt Männerfilme, definitiv. Ich weiß zwar nicht genau, „was Frauen wollen“Ich weiß aber definitiv, dass ich den Frauen – zumindest in meiner Familie – nicht mit „Die Hard“ und Bruce Willis kommen kann oder gar „Rambo II“ mit Sylvester Stallone. Solche Filme gehen nur gemeinsam mit meinem Sohn.

Und so hatten wir uns schon lange zu einer „Paten-Nacht“ verabredet. Es wurden zwei draus, denn schon die ersten beiden Filme dauerten Stunden. Um Religion geht es in dieser Mafia-Trilogie zwar nur am Rande – und wenn, wie in der „Taufszene“, in der Verbindung mit Gewalt -, aber wir haben es genossen.

Wir wiederholten unsere Filmnächte, erst mit der „Dollar-Trilogie“ und Clint Eastwood und dem Soundtrack von Ennio Morricone, dann mit dem sehr schönen Robert Redford/Paul Newman-Klassiker „The Entertainer“. Jetzt freuen wir uns noch auf „Spiel mir das Lied vom Tod“ – Soundtrack wieder von Morricone.

So ganz klar ist es mir nicht, warum wir Jungs auf solche Filme stehen. Sicher, sie sind gut gemacht. Aber bis auf den Entertainer sind sie auch ziemlich gewalttätig, die Dialoge nicht wirklich geschwätzig, die Inhalte archaisch: Rache, Ehre, Heldenmut. Werte, die traditionell den Männern zugeschrieben werden. Werte, die ich so im wirklichen Leben nur in ihrer gezähmten Weise leben will und kann. Aber sie sind offenbar ein Teil von mir.

Wie auch immer – sie verbinden mich auch mit meinem Sohn. Und wir haben zwar noch keinen Termin, um Sergio Leones Filmklassiker zu sehen. Aber er hat mich eingeladen. Heute abend in die Laeiszhalle, zu „The Best Of Ennio Morricone“. Ein tolles Weihnachtsgeschenk.

 

 

Ein schönes Leben

Es gibt ja viele Weihnachtsfilme. Einige habe ich gesehen, und sie bewegten sich zwischen „ja, kann man sich gönnen“ und „geht gar nicht“. Zwei von ihnen allerdings spielen für mich in der Ausnahmeliga. Neben dem „Kleinen Lord“ ist es „Ist das Leben nicht schön?“ von Frank Capra mit James Stewart in der Hauptrolle. Der Film „erzählt die Geschichte des engagierten Bürgers George Bailey, der in der Weihnachtsnacht wegen eines Missgeschicks seinen Lebensmut verliert und sich von einer Brücke stürzen will – bis er von einem Engel gerettet und ihm gezeigt wird, wie seine Heimatstadt aussehen würde, wenn er nie geboren wäre“ (Wikipedia).Bedford Falls1

Natürlich ist dieser Film hemmungslos kitschig, unglaubwürdig und überzeichnet. Aber er berührt mich immer noch ganz tief, weil nach meinem Empfinden seine Botschaft so wichtig ist. George Bailey möchte eigentlich gerne reich werden und die Welt bereisen. Doch durch eine Reihe von Zufällen und seiner eigenen Mischung aus Naivität und Gutmütigkeit (James Stewart in einer Paraderolle) muss er in seinem Kaff Bedford Falls bleiben – und rettet dadurch die Stadt. Diese wiederum hilft ihm am Ende aus seiner Misere. Und sein Bruder Harry, der genau das erreicht hat, was er gerne wollte, nennt ihn am Ende den „reichsten Mann der Stadt“. Dabei wird der Lebensstil der beiden Brüder nicht gegeneinander ausgespielt. Harry wird seine reiche Verlobte heiraten und bleibt der gefeierte Kriegsheld.

Capra – bzw. Philip Van Doren Stern, der die Buchvorlage geschrieben hat – gibt eine Antwort auf die Frage nach dem, was wirklich wichtig ist im Leben: füreinander da sein und dort, wo man gerade ist, einen guten Job machen. Diese Erkenntnis deckt sich mit den Recherchen des Journalisten Sebastian Junger. Er vertritt „die These, dass für Menschen nichts so wichtig sei wie das Gefühl des Gebrauchtwerdens und des Eingebundenseins – und dass unsere moderne Gesellschaft in dieser Hinsicht völlig versage. Denn sie habe ‚die Kunst perfektioniert, den Menschen das Gefühl der Nutzlosigkeit zu geben'“. (Ulrich Schnabel, Sinn des Lebens, in: Die Zeit 1/2019, S. 35).

Dazu muss man nicht Pastor werden oder Ärztin. Eine befreundete Richterin dehnt die Gesetze so weit, dass sie den Menschen helfen. George Bailey gibt denen Kredit, die anderswo abgeblitzt wären. Ein Freund organisiert für ein afrikanisches Krankenhaus Geräte, die hier verschrottet worden wären. Eine Niendorferin lacht Menschen an, die ihr auf der Straße begegnen, einfach so.

Ulrich Schnabel gibt auch Tipps, wie man den Lebenssinn findet. Es gibt keinen allgemein gültigen Sinn, sagt er. Man muss schon seinen eigenen finden. Dabei kommt es nicht so sehr darauf an, auch das Ziel zu erreichen. Wichtig ist, sich auf den Weg zu machen. Und: Sinn produziert nicht nur Glücksgefühle. Beispiel Kinder; Eltern wissen jetzt, was ich meine. Aber Sinn führt auf Dauer zu größerer Zufriedenheit, besserer Gesundheit und Stressbewältigung. Es lohnt sich also.

Wir können das nur bestätigen. Schon immer, aber besonders in den letzten Jahren haben wir erfahren, wie viel Lebensmut wir aus der Gemeinschaft schöpfen. Und wie gut es tut, füreinander da zu sein. Und so wünschen wir uns und euch, dass wir gemeinsam auf dem Weg bleiben, der uns Sinn gibt und Zufriedenheit, Gesundheit und vor allem das Zutrauen, dass wir die Herausforderungen des kommenden Jahres bewältigen.

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Beitragsbild: Bedford Falls, It’s officially Christmas Eve — „It’s a Wonderful Life“ movie is on TV, von Tom auf Flickr.
Bild im Text: Bedford Falls on Christmas Eve 1946. By Liberty Films – Own work, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=20372871

So schön wie hier

Wer findet den Fehler? Es war Peter, beruflich eher naturwissenschaftlicher Hintergrund, der bei seinem letzten Besuch darauf hinwies, dass der Satz von Christoph Schlingensief irgendwie merkwürdig ist: „So schön wie hier kann’s im Himmel gar nicht sein.“ Der Himmel – egal, ob wir christlich angehaucht sind oder Hardcore-Atheisten – steht für das Schöne an sich: „Wie im Himmel“ heißt der berührende schwedische Film. Verliebte sind gar im „7. Himmel“. Und „einfach himmlisch“ waren die Weihnachtskekse von Schwiegermutter, die unsere Tochter nun kongenial nachbackt.

Und „hier“, auf der Erde, ist die Lage doch eher gemischt. Schlingensief gab diesen Satz seinem Bericht über seine Krebserkrankung, der er nach fünf Jahren erlag. Und die auch bei ihm von jeder Menge unangenehmer Therapien und vor allem immer der Aussicht auf den Tod begleitet war. Und trotzdem: „So schön wie hier…“

Aber er hat auch nicht geschrieben: Auf der Erde ist es schöner als im Himmel. Diese Aussage könnte man zu Recht bezweifeln, denn der Himmel… siehe oben.

Ich könnte zum Beispiel aus voller Überzeugung sagen: „So schön wie in Niendorf kann’s in Spannbrück gar nicht sein.“ Ich weiß, wovon ich rede, denn ich komme von da. Mein Bruder, der immer noch von da kommt, sagt dagegen mit derselben Überzeugung: „So schön wie in Spannbrück kann’s in Niendorf gar nicht sein.“ Und wer hat nun recht?

Natürlich beide. Denn wir sagen nichts über die schönere Schönheit der Orte an sich. Sondern über unsere Beziehung zu unserem Ort. Der „Hamburger an sich“ weiß natürlich, dass unsere Stadt die schönste der Welt ist. Auch wenn internationale Rankings etwas anderes behaupten, und eins sogar München bevorzugt. Ausgerechnet München! Na gut…

Schlingensief sagt also im Grunde nichts über den Himmel, sondern alles über sein Verhältnis zur Erde: Er lebt gerne, und zwar weil das Leben so schön ist. Schöner als im Himmel. Trotz aller Gegengründe, die auch er zur Genüge hat.

Und das heißt auch: Er will nicht dorthin. Zumindest noch nicht. Und er schreibt im Vorwort: „Nicht zuletzt wünsche ich der Kirche, dass sie aufhört, uns mit den Geheimnissen des Jenseits unter Druck zu setzen. Das Leben ist zu schön, um uns Menschen permanent mit kommendem Unglück zu drohen. Gottes Liebe und Hilfe – egal, wer oder was das auch sein möge … manifestiert sich vor allem in der Liebe zu uns selbst! … Wir sind ganz einfach wunderbar. Also lieben wir uns auch mal selbst. Gott kann nichts Besseres passieren.“ (Seite 11) 

Nach der Diagnose setzt er sich intensiv mit seiner Krankheit auseinander. „Mal wütend und trotzig, mal traurig und verzweifelt, aber immer mit berührender Poesie und Wärme umkreist er die Fragen, die ihm die Krankheit aufzwingen: Wer ist man gewesen? Was kann man noch werden? Wie weiterarbeiten, wenn das Tempo der Welt plötzlich zu schnell geworden ist? Wie lernen, sich in der Krankheit einzurichten? Wie sterben, wenn sich die Dinge zum Schlechten wenden? Und wo ist eigentlich Gott?“ So steht es im Klappentext.

Trotz – oder wegen? – seiner Krankheit arbeitet er an einer Vision: Ein Operndorf in Afrika. In der Nähe von Ougadougou, Burkina Faso. Ein internationales Kultur- und Begegnungszentrum. Abgedreht, menschenfreundlich und „eines der gegenwärtig interessantesten Kulturprojekte weltweit“ (Chris Dercon).

Genauso verstehe ich auch den Titel der Biographie des chilenischen Dichters Pablo Neruda: „Ich bekenne, ich habe gelebt.“ Als Aussage ist er banal: Dass jemand gelebt hat, muss man nicht bekennen. Das gilt für alle Lebewesen. Aber gerade durch dieses Wort „ich bekenne“ wird die Aussage großartig und geheimnisvoll. Sie beschreibt in fünf Wörtern ein Leben voller Hingabe und Lust, Neugier und Leiden – und der Liebe zum Leben und zu seinem Land.

Von seiner Rückkehr aus Europa schrieb er: „Gegen Ende 1943 kam ich wieder nach Santiago. „Ich richtete mich im eigenen … Haus ein … und begann nochmals das schwierige Leben. Von neuem ging ich auf die Suche nach den Herrlichkeiten meines Vaterlandes, der starken Schönheit der Natur, dem Zauber der Frauen, der Arbeit meiner Gefährten, der Intelligenz meiner Landsleute.“ Und beschreibt dann auch deren überaus schwere Lebensbedingungen.

Bis zum Schluss blieb er seinen Überzeugungen treu, setzte sich für die Menschen ein und schrieb seine Gedichte. Er lebte sein Leben.

Ich bin weder Künstler wie Schlingensief noch dichtender Politiker wie Neruda. Aber in ihren Überzeugungen bin ich ihnen nahe: „Ich bekenne, ich habe gelebt“, und so will ich weiterleben, denn „so schön wie hier kann’s im Himmel gar nicht sein.“

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Beitragsbild: pxhere, Torres del Paine, Chile

Killing the Blues

Auf meinen Streifzügen durch die Welt der Musik bin ich schon auf so richtig tolle Sachen gestoßen. Manchmal kommt es mir aber auch so vor, dass nicht ich dieses Lied gefunden habe – es hat mich entdeckt. Dann fließen Melodie und Text, Stimmung und Botschaft zusammen. Und ich höre es immer wieder. Es spiegelt meine Seele, erhebt sie und gibt ihr Impulse.

So ging es mir jetzt mit „Killing the Blues“. Ursprünglich war ich nur neugierig, wie sich die Rockstars meiner Jugend entwickelt hatten. Viele sind bei dem geblieben, was sie immer gemacht haben. Einige aber haben sich auch ganz neue Stile erschlossen. Robert Plant zum Beispiel von Led Zeppelin. Er tat sich vor gut zehn Jahren mit Alison Krauss und – Moment, Alison Krauss? Ich hatte nie von ihr gehört, in den USA aber ist sie offensichtlich eine sehr bekannte und erfolgreiche Country-Sängerin. Country und Led Zeppelin? Im Ernst?

Ich mochte die Musik auf Anhieb. Als ich dann aber das Original von Rowland Salley hörte, war ich richtig gefangen.

Die Musik passte einfach zu gut in meine Stimmung, sogar genau in diese Jahreszeit:

Leaves were falling, just like embers, in colors red and gold, they set us on fire,
Burning just like a moonbeam in our eyes.
Somebody said they saw me, swinging the world by the tail, bouncing over a white cloud,
Killing the blues.

Blätter fielen wie stiebende Glut,
In den Farben Rot und Gold, entbrannten sie uns
Entbrannt wie ein Mondstrahl in unseren Augen.
Jemand sagte, dass er mich sah
Wie ich die Welt am Schwanz herumwirbelte
Über eine weiße Wolke hüpfte
Die Schwermut tötend.

Und wie geht das? Die kanadische Sängerin Madeleine Peyroux hat einmal gesagt: „Bei uns in Kanada gibt es ein Sprichwort: An apple a day keeps the doctor away. Und genauso gilt: A blues a day keeps the blues away.“ Das entspricht meinem eigenen Erleben.

Ich bin nicht so der Rock’n’Roll-Typ. Es würde mir nie einfallen, für ein Konzert der Rolling Stones viel Geld auszugeben oder gar, wie in Hamburg geschehen, dafür die Karriere zu riskieren. Ich mag das Trotzige und das Trotzdem am Blues: Ja, die Welt spielt uns übel mit, Freunde. Darauf „one bourbon, one scotch, one beer“ (John Lee Hooker), und weiter geht es.

Deshalb liegt mir Chris Smither oft noch näher.

Wenn es nicht gleich Malcolm Holcombe sein soll.

Aber das ist ja Geschmackssache. Zur Not gibt es auch noch weitere Varianten. Wenn es nur dem Ziel dient: Killing the Blues.