Es gibt Menschen, deren Sätze keinen Punkt haben, sondern höchstens Kommas oder Semikola. Ihre Gedanken mäandern einfach weiter. Geistliche sollen dazu gehören. Ich kenne – öhm – jetzt gerade keinen, habe aber davon gehört.
Umso erstaunlicher, wenn ein Pfarrer ein Buch voller Aphorismen veröffentlicht, das nicht nur seinen Gedanken auf den Punkt bringt, sondern gleichzeitig unsere Gedanken weiterlaufen lässt. „Zärtlichkeit und Schmerz“ heißt das Buch, und Kurt Marti hat es geschrieben. Ich bekam es zu meinem Geburtstag 1982 von meinem Freund Johannes, und es wirkt seitdem wie eine Auffrischungsimpfung gegen die Bequemlichkeit des Denkens.
Ich kannte Kurt Marti schon. Seine „Leichenreden“, vor 50 Jahren erschienen, waren legendär. Und nicht wenige Theologiestudenten kannten den „Gustav E. Lips“ auswendig:
dem herrn unserem gott
hat es ganz und gar nicht gefallen
daß gustav e. lips
durch einen verkehrsunfall starb
Und Marti zählt etliche Gründe auf, warum es Gott nicht gefallen haben kann und meint schließlich:
im namen dessen der tote erweckte
im namen des toten der auferstand
wir protestieren gegen den tod von gustav e. lips
Wer die Sprache und Denkweise der Kirche der 60er Jahre im Ohr und vor Augen hat, der ahnt, welche Revolution Marti damit auslöste. Hier protestierte einer nicht nur gegen den Tod von Gustav E. Lips, sondern gegen eine Tradition, die einfach nachgesprochen wurde. Hier untersuchte ein Pfarrer die Wahrheit auf Wahrhaftigkeit.
Für viele von uns Theologiestudenten der 70er Jahre war es eine Befreiung. Und erst in der Gemeinde merkte ich, wie viel Mut Kurt Marti gehabt hatte. Denn noch Jahrzehnte später entfaltete die Tradition – auch mithilfe vieler Gemeindeglieder – eine ungeahnte Macht. Aber Kurt Martis „Zärtlichkeit und Schmerz“ hat bestimmt auch dazu beigetragen, dass der Stachel blieb: auch mal gegen das Selbstverständliche zu denken.
Aphorismen sind, wenn sie gut sind, witzig und intelligent, überraschend und anregend. Und wenn sie sehr gut sind, enthalten sie Gedanken, die sich festsetzen wie Widerhaken, immer wieder bewegen, ihre Wahrheit erst im Erleben freisetzen und neue Facetten aufscheinen lassen. Dies ist eine solche Sammlung.
Hier las ich zum ersten Mal den Satz: „Wer Mitleid fühlen will mit einem Europäer, muß ihn tanzen sehen.“ (Afrikanischer Christ über seine weißen Brüder) Aber mehr noch beeindruckte mich die Folie divine: Gott? Jener Große, Verrückte, der noch immer an Menschen glaubt.“ Das gesamte Glaubensbekenntnis, unsere Lebensgrundlage und Hoffnung in neun Wörtern. Wie macht Marti das?
Und uns Geistlichen gibt er mit auf den Weg, zart und genau zu sein: Zart und genau: das sind ästhetische Kategorien. Nicht weniger sind es theologische. Vor allem sind es Kategorien einer Gerechtigkeit, die göttlich zu nennen erlaubt ist, weil ihr Recht … dem Willen entspringt, … den Menschen, den Dingen zutiefst gerecht zu werden.
Mein Lieblingsgedanke aber – und viele von euch kennen ihn, weil ich ihn wirklich schon oft zitiert habe, ist die Frage: Gott, so denkt man oft, so verkünden Eiferer lauthals, sei Antwort. Spröder sagt die Bibel, daß er Wort sei. Und wer weiß, vielleicht ist er meistens Frage: die Frage, die niemand sonst stellt.
Und zum Schluss ein Gedanke, der genau in unsere Situation hineinspricht. Wünsche: Wie, wenn Wünsche nicht fertig werden, wenn der Tod ihnen zuvorkommt? Und doch wäre dies das geringere Übel. Trauriger ist’s, wenn die Wünsche fertig sind, aber der Tod nicht kommen will.
Kurt Marti starb vor zwei Jahren. Aber seine Wünsche und Gedanken sind nach wie vor lebendig.
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Kurt Marti, Leichenreden, dtv München 2004 (Erstveröffentlichung 1969 Frankfurt/M). Die Leichenrede steht auf Seite 27.
Kurt Marti, Zärtlichkeit und Schmerz, Sammlung Luchterhand, Darmstadt und Neuwied 1981. Die Aphorismen stehen auf den Seiten 14, 24, 116, 107 und 37. Und das „Eismeer“ von C.D. Friedrich ist das Titelbild von Buch und Blog.
Beitragsbild: Von Caspar David Friedrich – The Yorck Project (2002) 10.000 Meisterwerke der Malerei (DVD-ROM), distributed by DIRECTMEDIA Publishing GmbH. ISBN: 3936122202., Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=151054
Danke, lieber Erik für diesen informativen Text über Kurt Marti. Sehr spannend, den zeitlichen udn gesellschaftlichen Kontext hervorzuheben. Ich finde seine Texte zeitlos gut, aber jetzt finde ich sie sogar noch besser, wenn ich mir den Hintegrund bewusst mache.
Danke auch bei dieser Gelegenheit für deine „Rezension“ samt persönlichen Erlebnissen rund um Dörte Hansens „Mittagsstunde“. Muss ich unbedingt lesen, habe richtig Lust dazu bekommen.
Liebe Grüße! Maren
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Danke für die Erinnerung an Kurt Marti! Lange nicht mehr gelesen. Ich gucke gleich nach, was ich von ihm habe, und bestelle morgen „Zärtlichkeit und Schmerz“. Auch die „Mittagstunde“ liegt schon bereit – danke auch dafür!
Haltet durch!!
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