Jeremia. Zwei Predigten

Eigentlich hätte ich am letzten Sonntag auf der Kanzel stehen sollen. Aber dann grätschte eine gefährliche Metastase dazwischen. Die Predigt stand im Entwurf, und ich habe sie nun noch einmal aufbereitet. So wie hier abgedruckt hätte sie also aussehen können.

Daniel Birkner hat dann den kompletten Gottesdienst übernommen. Als ich meine Predigt überarbeitete, kannte ich die seine nicht. Jetzt finde ich es beeindruckend, wie gut sich beide ergänzen. Aber urteilt selbst. 

Die Last des Prophetenamts (Jeremias fünfte Klage)

7 Herr, du hast mich überredet und ich habe mich überreden lassen. Du bist mir zu stark gewesen und hast gewonnen; aber ich bin darüber zum Spott geworden täglich, und jedermann verlacht mich. 8 Denn sooft ich rede, muss ich schreien; »Frevel und Gewalt!« muss ich rufen. Denn des Herrn Wort ist mir zu Hohn und Spott geworden täglich. 9 Da dachte ich: Ich will seiner nicht mehr gedenken und nicht mehr in seinem Namen predigen. Aber es ward in meinem Herzen wie ein brennendes Feuer, verschlossen in meinen Gebeinen. Ich mühte mich, es zu ertragen, aber konnte es nicht. 10 Denn ich höre, wie viele heimlich reden: »Schrecken ist um und um!« »Verklagt ihn!« »Wir wollen ihn verklagen!« Alle meine Freunde und Gesellen lauern, ob ich nicht falle: »Vielleicht lässt er sich überlisten, dass wir ihm beikommen können und uns an ihm rächen.« 11 Aber der Herr ist bei mir wie ein starker Held, darum werden meine Verfolger fallen und nicht gewinnen. Sie müssen ganz zuschanden werden, weil es ihnen nicht gelingt.

(Hier geht es gleich zur Predigt von Erik Thiesen, die wieder kursiv gesetzt ist.)

Daniel Birkner: 

Liebe Gemeinde!

Jeremia leidet. Er leidet an seinem Leben, er leidet an seinem Gott, er leidet an seinem Auftrag, er leidet an sich selbst.

Er kann einem leid tun.

Wut und Verzweiflung stecken in seinen Worten. Er ringt mit seinem Gott.

„Ich bin zum Spott geworden. Sie lachen mich aus!“

Und er hat Angst: Sie wollen mich verklagen! Sie warten nur darauf, dass ich einen Fehler mache und falle. Sie wollen Rache an mir üben!

Er spricht das Klagegebet eines Menschen, der sich von Gott verlassen und sogar getäuscht fühlt. Und vielleicht die eine oder der andere von uns auch manchmal so.

„Du hast mich überredet. Ich habe das eigentlich nicht gewollt – und jetzt stehe ich hier und alles ist anders als gedacht. Als ich darüber nachdachte, dir zu folgen Gott, hatte ich mir erhofft, durch den Glauben ein erfülltes Leben zu finden, aber jetzt erlebe ich die andere Seite der Nachfolge. Ich leide unter meinem Auftrag.“

Um Nachfolge geht es heute. Und Jesus, das haben wir im Evangelium gehört, verschweigt nicht, dass es schwierig sein kann, dem eigenen Glauben zu folgen. Die Beschäftigung mit dem Glauben verändert einen Menschen: In seiner Wahrnehmung des eigenen Lebens, in der Wahrnehmung seiner Umwelt und der Menschen, in seiner Sicht auf das Leiden anderer. Wer sich mit dem Glauben beschäftigt, wer sich damit auch auf den Gedanken der Nächstenliebe einlässt, wird achtsamer und empfindsamer.

Das Leiden und das Kreuz Jesu – damit ist eine weitführende, tiefgehende Theologie verbunden – aber als erstes will es vielleicht erst einmal das: Mitgefühl erzeugen. Und zwar nicht mit Gott oder Jesus – es geht Jesus nie um sich selbst – sondern Mitgefühl mit Menschen, die leiden. Im Kreuz erblicken wir einen Auftrag: Nehmt das Leiden wahr. Verschließt euch nicht denen gegenüber, die Leid tragen.

Und dann entdecken wir das Leid so vieler Menschen auf unserer Erde und wissen erst einmal gar nicht, wie wir damit umgehen sollen. Am liebsten wieder weggucken.

Jeremia aber bekommt es nicht mehr hin, dass seine innere Stimme schweigt. Er wollte nicht mehr an Gott denken, er wollte nicht mehr predigen, aber es brannte in ihm wie Feuer, sagt er. Das Leid der anderen hat ihm weh getan. Er konnte und wollte dazu nicht mehr schweigen.

„Frevel und Gewalt!“ muss er rufen. Das bringt ihm keine Freunde ein. Im Gegenteil.

Die Menschen mögen es nicht, kritisiert zu werden. Der Überbringer schlechter Nachrichten wurde in der Antike auch schon mal deswegen umgebracht. Zumindest mundtot möchte man sie manchmal machen.

In den letzten Wochen dreht sich viel um Greta und die Schülerproteste bei der Aktion „Friday for future“.

Und die einen zollen ihr größten Respekt und die anderen überschütten das Mädchen persönlich wie auch die ganze Kampagne mit Hohn und Spott.

„Die gehen doch nur auf die Demo, um Schule zu schwänzen!“ „Die haben keine Ahnung von dem, was sie reden und fordern.“ Sie könnten doch auch am Wochenende demonstrieren“ schallt es ihnen entgegen.

Aber sie demonstrieren nicht aus Lust am Demonstrieren oder Schuleschwänzen, sondern aus Angst und Sorge. Und sie bekommen die Aufmerksamkeit nur durch den Rechtsbruch, es am Freitag zu tun. Und ich frage mich, warum die Schulen nicht aufspringen und das Thema aufgreifen? Warum nehmen sie das Interesse nicht auf, um mit ihren Schülerinnen und Schülern Projekte jetzt entwickeln, um dieses brennende Lebensthema zu vertiefen? Und dann sollten sie als Schulveranstaltung zu den Demos gehen. Wie oft habe ich in der Schule gesessen und mich gefragt: „Wofür brauche ich das in meinem Leben?“  Die Beschäftigung mit diesem Thema würde dem Lehrauftrag „Lernen fürs Leben“ und dem Bedürfnis der Jugendlichen entsprechen und es miteinander verbinden.

Viele Erwachsene stimmen nun den Jugendlichen und Kindern zu – ich tue das auch. Aber ich tue es auch mit einem schlechten Gewissen und mit Schuldgefühlen. Wir haben – wider besseren Wissens – zu wenig bisher gemacht. Wir sind zu selten wie sie auf die Straße gegangen, um zu protestieren und die Politik unter Druck zu setzen. Und zugleich ist ja nicht nur die Politik Schuld: Wir waren und sind in unserem Verhalten unverantwortlich gegenüber nachfolgenden Generationen gewesen.

Das kath. Hilfswerk Misereor hat im vergangenen Jahr eine Ausstellung mit 99 Karikaturen zu dem Thema: „Klima, Konsum und andere Katastrophen“ gemacht. Es war ein Blick in einen kritischen Spiegel. Eine Karikatur stellte einen Großvater mit seiner Enkeltochter dar. Sie stehen vor einer Landschaft mit kaputten Bäumen, und der Großvater sagt: „Ja meinst du denn im Ernst, da wäre auch nur einer noch in sein Auto gestiegen, wenn wir das gewusst hätten damals?“ Jetzt klagen die Jugendlichen uns an. „Ihr habt es gewusst und habt nichts getan!“

Martin Buber schreibt: „Die große Schuld des Menschen sind nicht die Sünden, die er begeht – die Versuchung ist mächtig und seine Kraft gering -, die große Schuld des Menschen ist, dass er in jedem Augenblick die Umkehr tun kann und nicht tut.“

Es gibt Menschen, die den Klimawandel immer noch leugnen, andere, die ihn relativieren: „Vor 30 Jahren dachten wir, dass das Ozonloch immer größer würde! Dass alle Wälder sterben. Ist doch alles nicht so schlimm gekommen.“ Das erinnert mich an den Evangeliumstext: „Ach nein, Jesus. Ich würde gerne was tun und dir folgen, aber nicht gleich!“ Wenn Jesus sagt: „Wer die Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes“, dann verstehe ich ihn so: „Sobald du die Wahrheit erkannt hast, ist es Zeit danach zu handeln.“

Die nachfolgende Generation hat Angst, dass Punkte in der Entwicklung des Klimas erreicht werden, in denen Prozesse in der Natur in Gang kommen, die unumkehrbar sind und zu dramatischen Veränderungen der Lebensbedingungen führen werden.

Dem Gewissen, dem Glauben, der inneren – auch anklagenden Stimme zu folgen ist nicht leicht. Nachfolge ist nicht immer leicht. Sie kann dazu führen, sich selbst hinterfragen zu müssen und auch die Welt mit anderen Augen zu beurteilen.

Was ich an Greta und all den demonstrierenden Jugendlichen bewundere, was ich an Jeremia bewundere – ist, dass er, dass sie es trotz des Gegenwinds, der ihnen entgegenschlägt, tun und dass sie nicht mehr schweigen wollen.

Das ist auch eine Form von Zivilcourage. Davon möchte ich lernen.

Das ist auch damit gemeint: den Hand an den Pflug zu legen und dann nach vorne zu sehen und was not ist zu tun.

Nachfolge braucht Mut.

Man muss kein Christ sein, um so zu handeln, zu fühlen und zu denken. Aber unser Glaube kann uns zu einer solchen kritischen Haltung führen und er kann uns den Mut geben, entsprechend zu reden und zu handeln.

Auch Jeremia kommt schließlich wieder dahin, doch zu hoffen: Gott wird bei mir sein wie ein starker Held.

Gegen die inneren Stimmen, die er hört und gegen die Stimmen von außen, die ihn einschüchtern wollen, hofft er, dass Gottes Stimme in ihm stärker sein wird. Und dass er Kraft aus dem Glauben bekommt.

Als zu Beginn der Woche in einer Diskussionsrunde bei Markus Lanz die Hamburger Schülerin, die hier die Demonstrationen organisiert, gefragt wurde, zu welchen Opfern sie bereit wäre, antwortete sie zunächst, dass sie vegan lebe und auf Flugreisen verzichten würde. Aber, und das fand ich noch viel interessanter, sie sagte, das seien aber keine Opfer für sie. Sie tue das ja für ihre Zukunft und ihr Leben.

Das ist Weisheit! Denn der Gedanke „sich einschränken zu sollen“ löst sofort Abwehr aus. Aber die Einsicht, dass es dem eigenen Leben dient, weckt Bereitschaft. Schon in der antiken Philosophie hat man über Glück so nachgedacht, dass man erkannte: es gibt Dinge oder Handlungen, die uns jetzt glücklich machen, aber auf Dauer Unglück bringen. Dem gegenüber gibt es andere Dinge, die nicht gleich, aber auf Dauer dann zu einem glücklichen Leben führen. Und natürlich ist letzteres vorzuziehen.

Wenn der Glaube in uns zur Anklage wird, dann nicht um uns zu sagen, wie schlecht wir sind, sondern um uns zu einem besseren, weil gerechteren und nachhaltigeren Leben zu locken. Der Glaube appelliert an unsere Kreativität, an unsere Phantasie, an unsere Liebe und Gefühl für Gerechtigkeit. Er macht uns, wie ich eingangs sagte, achtsam und mitfühlsam. Was wir tun, tun wir für uns, für die Generationen nach uns, für Menschen und Mitgeschöpfe, die andernorts schon unter dem Klimawandel leiden.

Die Schülerin wurde von Markus Lanz dann abschließend eingeladen, ein Schlusswort zu sprechen. Er sagte sinngemäß: „Du hast jetzt noch 1 ½ Minuten, alles zu sagen, was dir wichtig ist.“

Sie überlegte kurz, und antwortete: „Ich fasse es mal so zusammen: Wenn nicht jetzt, wann dann?“

„Wer die Hand an den Pflug legt und sieht zurück, ist nicht geschickt für das Reich Gottes.“

Amen

Erik Thiesen:

Liebe Gemeinde!

Jeremia gehört zu den bekanntesten Propheten und wird in der Bibel zu den drei „großen“ gezählt. Das liegt in erster Linie am Umfang seines Buches. Aber auch daran, dass er uns wie kaum ein anderer biblischer Autor auch persönlich ganz intensiv nahe kommt. In verschiedenen Kapiteln seines Buches öffnet er sich und sein Innerstes. Und was wir sehen und erleben – ist dunkel. Er ist enttäuscht, er leidet.

Er leidet an seinen Mitmenschen, die ihn ausstoßen und sogar verfolgen und ins Gefängnis stecken. Noch nicht einmal seine Familie hält zu ihm. Bis auf ganz wenige Freunde, Baruch gehört zu ihnen, ist er allein und vor allem einsam. Und das, weil er ihnen eine Botschaft zu verkünden hat, die er selbst nicht mag – die Botschaft vom Untergang Israels und Judas.

„Anstatt positiv zu denken“, sagen sie, untergräbt Jeremia die gesellschaftliche Moral. Und das gerade jetzt, im Angesicht der Gefahr aus Babylon, in der wir alle Kräfte mobilisieren müssen.“ – „Im Gegenteil“, meint Jeremia, „unterwerft euch dem Angreifer und überlasst den Rest dem Willen Gottes.“

Und nicht zuletzt leidet Jeremia an sich selbst, an seiner eigenen Schwäche: Er ist zu jung, zu ungeschickt, zu hilflos, um ein guter Prophet zu sein und das Wort Gottes wirksam zu verkünden. Eines Gottes, an dem er übrigens selbst leidet. Denn der hat ihm diese Unheilsbotschaft aufgetragen. Und ihm versprochen, bei ihm zu sein. Und ihn dann doch allein gelassen und an seine Feinde ausgeliefert.

Denkt Jeremia an Gott, dann nicht an Geborgenheit und Liebe, sondern an Dunkelheit und Einsamkeit. Und da stellt sich doch die Frage: Warum bleibt er bei ihm? Warum kehrt er ihm dann nicht den Rücken? Täte er das, er bräuchte keine Unheilsbotschaften mehr zu überbringen, das Verhältnis zu Familie, Freunden und Nachbarn könnte sich normalisieren. Jeremia würde es einfach besser gehen. Für den modernen Menschen wäre das völlig normal.

Aber nein, Jeremia bleibt. „Von Gott gepackt“, so nennt Elie Wiesel sein kleines Buch über „prophetische Gestalten“. Das gilt für Jeremia, besonders für ihn. Aber wie macht Gott das? In welcher Sprache spricht er zu Jeremia? Als Stimme aus dem Off? Welche Möglichkeiten hatte Gott damals, Menschen zu überzeugen? Oder waren die Menschen einfach naiver als wir heute?

Nun, möglicherweise hat sich auch gar so viel verändert seit damals. Vielleicht hat Jeremia gar keine sonderbaren Stimmen gehört. Vielleicht war seine Botschaft, seine Überzeugung wie bei mir entstanden: Durch Beobachtung der politischen Zustände, durch innere Überzeugungen, durch das geduldige Hören auf eine innere Erkenntnis.

Jeremia kam aus Anatot. Dieser Ort liegt eigentlich nicht weit weg von Jerusalem, etwa 7 km. Und doch war er ein Ort der Verbannung, man kam schlecht hin, und er lag ganz am Rand des Jerusalemer Verwaltungsbezirks. Jeremia war also nah genug am Zentrum der Macht, um sich ein Bild von der politischen Realität machen zu können. Aber er war nicht Teil des Systems, er konnte sich einen unabhängigen Blick bewahren. Und das machte ihn hellsichtig. Und wenn er den Willen und die Worte Gottes verkündet, dann klingt es wie: Seht ihr denn nicht, was vor Augen liegt? Sehr ihr nicht die übergroße Bedrohung durch die Babylonier? Woher eure katastrophale Überschätzung eurer Möglichkeiten?

Seine Gegner aber denken in anderen Kategorien. Sie sehen den Aufwiegler. Wenn wir jetzt nicht alle an einem Strang ziehen, sagen sie, dann erst kommt die Katastrophe. Wir brauchen keinen, der in Frage stellt. Keinen, der den Zweifel nährt. Wir wollen überleben, und wir werden es, denn Gott ist mit uns. Und die Ägypter sind es auch.

Und beide Seiten graben sich ein, kämpfen verzweifelt und mit allen Mitteln – wobei Jeremia natürlich in einer ganz schwachen Position ist. Das Einzige, was er auf seiner Seite hat, ist seine Überzeugung. Dass er letztlich auch politisch Recht haben wird, kann damals noch keiner wissen.

Und Jeremia ist auch keineswegs so selbstsicher, wie seine Botschaft manchmal glauben lassen will – wenn er mit großem Pathos verkündet: So spricht der Herr! Immer wieder fragt er nach dem Sinn des Ganzen, und er findet ihn nicht. Immer wieder sucht er nach sich selbst, sucht nach einer Gemeinschaft, die ihn trägt, und immer wieder wird er ausgestoßen, ja verfolgt. Nur wenige Freunde bleiben ihm. Denn wenn es darauf ankommt, will er auch keine Kompromisse eingehen. Er sucht nach der Wahrheit – oder besser: nach Wahrhaftigkeit in Zeiten der Unaufrichtigkeit.

Generationen von Predigern und Predigerinnen haben versucht, in Jeremias Fußstapfen zu treten. Sich nicht von der Politik oder der Wirtschaft einfangen zu lassen, sondern zu sagen, was ist. Ich denke da zum Beispiel an Margot Käßmanns Ausspruch: „Nichts ist gut in Afghanistan.“ Sie hat damit der offiziellen Lesart widersprochen und gerade von sogenannten Realpolitikern viel Gegenwind bekommen. Sie hat sich an ihrer Überzeugung orientiert, ihrer Ethik vom Frieden, ihrer Orientierung an Bibel und Glauben.

Trotzdem hat sie mich nicht überzeugt. Gerade weil sie sich so sehr an ihrer christlichen Botschaft orientiert hat. Zu Recht, so meine ich, muss sie sich fragen lassen, ob man die Taliban wirklich effektiv mit Gebeten bekämpfen kann. Und welche Strategie nun wirklich die richtige ist, kann man erst im Nachhinein sagen. Wenn überhaupt.

Ich glaube auch nicht, dass wir als Christinnen und Christen der Politik sagen müssen oder auch nur können, wie sie zu handeln habe – so gerne wir auch ein solches sogenanntes „Wächteramt“ ausüben würden. Ich glaube viel eher, dass wir gar keine Antworten geben sollten, sondern vielmehr die Fragen stellen, die sonst keiner stellt.

Martin Buber erzählte dazu einmal eine Geschichte: „Es ereignete sich, dass ich einmal den Besuch eines unbekannten jungen Menschen empfing, ohne mit der Seele dabei zu sein. Ich ließ es durchaus nicht an einem freundlichen Entgegenkommen fehlen, ich unterhielt mich mit ihm aufmerksam und freimütig – und unterließ nur, die Fragen zu erraten, die er nicht stellte. Diese Fragen habe ich später ihrem wesentlichen Gehalt nach erfahren, erfahren, dass er nicht beiläufig, sondern schicksalhaft zu mir gekommen war, nicht um Plauderei, sondern um Entscheidung, gerade zu mir, gerade in dieser Stunde. Was erwarten wir, wenn wir verzweifeln und doch noch zu einem Menschen gehen? Wohl eine Gegenwärtigkeit, durch die uns gesagt wird, dass es ihn dennoch gibt, den Sinn.“ Und was wir für den persönlich-seelsorglichen Bereich erwarten, gilt genauso für den politischen.

Wenn wir uns als Christinnen und Christen mit den Fragen unserer Gesellschaft beschäftigen, mit der Politik oder mit der Wirtschaft, dann ist unser Ort nicht der Tempel der Kirche – also nicht unser religiöser Elfenbeinturm, unser biblisches Sonderwissen. Dann ist es aber auch nicht der Tempel der Macht. Es ist nicht unsere Aufgabe, irgendeine politische Richtung zu unterstützen.

Dann ist es der Ort, der für Jeremia Anatot war: Nahe genug, dass wir dabei sind, mit den Menschen fühlen und denken, den politischen Wind spüren, dass wir die Fragen erahnen, die die Menschen nicht stellen und nicht zu stellen wagen. Und weit genug weg, dass wir uns nicht von ihnen vereinnahmen lassen. Dass wir uns die Zeit nehmen und geduldig sind, bis die Antworten vielleicht sogar von selbst kommen. Es ist der Vorteil einer Kirche, die kleiner und unbedeutender wird: Wir können auch einmal zu spät kommen. Die Hauptsache ist, dass wir dann das hilfreiche Wort zu sagen haben, das weiterbringt, den Frieden fördert, Menschen zusammenführt. Dann wird aus unserem Wort Gottes Wort.

Amen.

Ein Bild für die Ewigkeit

Eine Szene im Weltraum. Rechts sehe ich einen großen Planeten, links darunter einen kleinen. Auf diesem kleinen steht ein Harlekin, angelehnt an den großen, die Hände in den Hosentaschen, den Blick nach unten. Langsam schaut er mich an, lächelnd und fröhlich. Da erscheint hinter ihm eine Hand, der Finger schnippst ihn an. Mit großer Geschwindigkeit fährt der Harlekin um den großen Planeten herum und schießt in den Weltraum, begleitet von den Schlussakkorden der Titelmelodie von „StarTrek – Raumschiff Voyager“.

Diesen Traum träumte ich, während ich nach der letzten OP aus der Narkose erwachte. Es war ein fröhlicher, ein heiterer Traum. Der Harlekin deutet schon darauf hin. Und die Voyager? Wir schauen gerade die ganze Serie der StarTrek – Saga. Das prägt, bis ins künstliche Koma hinein.

Vor allem aber ist es die Aussage, die mich fasziniert. Die Serie „Voyager“ hat zwar kein eigenes gesprochenes Intro. Die Mission ist aber die gleiche wie die der Vorgänger – Raumschiffe: „…um fremde Welten zu entdecken, unbekannte Lebensformen und neue Zivilisationen. Die Enterprise dringt in Galaxien vor, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat.“

Ich glaube, dass unsere Vorstellungen vom Jenseits von unserer Persönlichkeit und unseren Erfahrungen in diesem Leben geprägt sind. Wer einen starken Gerechtigkeitssinn hat, wird darauf Wert legen, dass die Sünder bestraft werden. Menschen mit einem geringeren Selbstwertgefühl möchten, dass Gott sie bedingungslos liebt. Solche mit einem Sinn fürs Schöne oder die, die eine besonders hässliche Welt erlebt haben, erfreuen sich an der Musik des Engelorchesters.

Ich füge diesen Vorstellungen noch eine Variante hinzu. Ich halte es für möglich, dass uns auf der anderen Seite eine neue Aufgabe erwartet. Eine neue Challenge. Die dann aber hoffentlich netter ist als der Krebs, den wir hier gerade erleben.

Ich bin neugierig, wie die Mannschaften bei StarTrek. Wie es aber genau sein wird, wenn es überhaupt sein wird, das werden wir erst herausfinden, wenn wir dort angekommen sind. Und das kann ruhig noch ein wenig warten.

Bridge Over Troubled Water

In den letzten Jahren sind wir immer wieder Menschen begegnet, die mit uns im Tumorland unterwegs sind. Auch Manuela muss ihren Mann auf diesem Weg begleiten. Sie hat mich besucht und von dem Bild erzählt, das sie für ihre Situation gefunden hat: „Bridge Over Troubled Water“ von Simon & Garfunkel. Sie stellt sich vor, dass die Brücke die Form der Japanischen Brücke von Claude Monet hat – aber natürlich ist sein Bild viel zu friedlich. Sie schreibt:

Das Leben ist wie eine Wanderung, eine Reise von der Geburt zum Leben, von einem Ort zum andern. Diese Reise ist nicht immer einfach. Immer wieder stoßen wir auf Hindernisse, die zu überwinden sind – raues Wetter, hohe Berge, breite Flüsse. Wir konnten sie immer überwinden, erst alleine, dann gemeinsam zu zweit, in der Familie oder auch mit Hilfe von Freundinnen und Freunden.

Wilder FlussDann aber stießen wir auf einen Fluss, der so ganz anders war. Aufgewühltes Wasser, reißende Strömung. Wir kamen nicht weiter.

Denn mein Mann wurde krank. Er bekam Krebs. Wir mussten die Komfortzone verlassen und konnten unser Leben nur noch in Grenzen selbst bestimmen – Operationen, Chemotherapie und weitere Behandlungen nahmen unsere Zeit und unsere Kraft in Anspruch. Es war – und ist – eine raue und bewegte Zeit wie ein Fluss mit troubled water. Gleichzeitig war es so, als ob das Leben zu einem Stillstand gekommen war. Dieser Fluss war zu gefährlich, als dass wir ihn hätten überqueren können.

Und doch haben wir im Lauf der letzten vier Jahre viel gelernt. Wir lernten, die Situation anzunehmen und das Leben bewusster zu leben. Das Grün ist grüner geworden. Nichts ist mehr selbstverständlich. Wir haben die Seiten und auch den Blickwinkel gewechselt.

Und wir wollen mehr. Wir wollen weiterleben. Auch für uns gilt das Motto: Der Krebs ist nur Beifahrer und wir behalten das Steuer in der Hand! Wir wollen über den Fluss.

Wir brauchten eine Brücke. Und dann war da jemand, der uns diese Brücke zeigte, ja, der selbst diese Brücke war:

When you’re weary, feeling small / When tears are in your eyes / I will dry them all / I’m on your side / Oh when times get rough / And friends just can’t be found
Like a bridge over troubled water / I will lay me down / Like a bridge over troubled water / I will lay me down…

Es war wie eine Botschaft aus einer anderen Welt, eine Botschaft von Gott. Und um auf die andere Seite zu kommen, hat mir mein Glaube geholfen:

In Räumen der Kirche komme ich immer gut zur Ruhe. Das war bei mir schon immer so. Ich suche hier nicht nach Lösungen, sondern Zeiten des inneren Friedens. Ich fühle dabei, siehe Liedtext:

– Ich bin an deiner Seite, sagt – für mich – Gott. Er ist an meiner Seite
– den Boden unter den Füßen behalten – im Text heißt es: ich werde mich niederlegen.
– da segelt jemand hinter mir.

Und tatsächlich, meine Gedanken werden leichter.

Ein väterlicher Freund hat mir in jungen Jahren gesagt: Es wäre gut, wenn ich eines verinnerliche: Wir sind allein, wenn wir geboren werden, und wir sind allein, wenn wir sterben, und zwischendurch haben wir zwar Weggefährten an unserer Seite, aber wir sind immer allein.

Das stimmt. Aber durch den Glauben fühle ich mich nicht allein. Gott tröstet mich, wenn ich völlig fertig bin!

Und mit seiner Hilfe überqueren wir den Fluss. Das Leben geht weiter.

© Manuela F. Schwarz, Bearbeitung: Erik Thiesen

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Beitragsbild: Claude Monet (1840-1926), Japanische Brücke in Giverny – Reprography from art book, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=7169264
Bild im Text: Pxhere

Zwischenruf: Homosexualität und Kirche

Im „Zwischenruf“ reagiere ich auf Zeitschriftenartikel, die ich gerade gelesen habe. Manchmal möchte ich einfach Dampf ablassen. 

In den „Zeitzeichen 1/19“ las ich in einem Artikel über das christliche Eheverständnis von Horst Gorski – diese Zeitschrift ist nur für Abonnenten abrufbar, deshalb zitiere ich ausführlicher:

„1996 veröffentlichte der Rat der EKD [eine Schrift unter dem Titel] ‚Mit Spannungen leben. Eine Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Thema Homosexualität und Kirche‘, die unter Vorsitz von Wilfried Härle von einer im Jahre 1994 eingesetzten Ad-hoc-Kommission erarbeitet wurde. Der Text beginnt mit einer Entschuldigung für das Homosexuellen in der Vergangenheit angetane Unrecht. Sodann werden die biblischen Aussagen zu Sexualität und Homosexualität einer gründlichen Prüfung unterzogen. Es zeige sich, dass es keine biblischen Aussagen gibt, die Homosexualität in eine positive Beziehung zum Willen Gottes setzen. Homosexuelle Praxis als solche wird als dem ursprünglichen Schöpferwillen Gottes widersprechend qualifiziert. Angesichts der zentralen Stellung, die das Liebesgebot in der Heiligen Schrift habe, dürfe jedoch auch homosexuelles Zusammenleben nicht von seiner Geltung ausgenommen werden. Dies hebe jedoch den biblischen Widerspruch nicht auf. Die damit gegebene Spannung müsse ausgehalten werden.“

Bis hierher war ich gekommen. Eine ähnliche Argumentation höre ich, mal mit stärkerer, mal mit weniger Ablehnung der Homosexualität verbunden, immer wieder. Als die Nordkirche gegründet wurde, wollte der pommersche Bischof Abromeit das Thema „Homosexualität und Pfarramt“ wieder auf die Tagesordnung setzen. Der nordelbische Bischof Ulrich aber erklärte kategorisch: Über manche Dinge diskutieren wir nicht mehr.

Vor einigen Jahren erhielt ich im Zusammenhang mit einer Taufe einen Anruf einer Frau aus Leipzig. Sie wollte gerne Patin werden, sei aber nicht in der Kirche. Ich erklärte ihr: „In der Tat kann nur Patin werden, wer Mitglied der Kirche ist. Aber wir finden bestimmt eine Lösung.“ Daraufhin meinte sie: „Ich finde Kirche ja prinzipiell gut, und ich glaube auch an Gott.“ Und ich dachte: Das sagen sie alle. Und ich glaube ihnen ja auch, aber es geht trotzdem nicht.

Aber dann sprachen wir weiter, und sie erzählte: „Ich habe hier in Leipzig einen Gottesdienst besucht, und da hat der Pfarrer gesagt: Homosexualität ist Sünde, und deshalb sind Homosexuelle auch keine vollwertigen Mitglieder am Tisch des Herrn. Naja, und weil ich lesbisch bin, bin ich eben ausgetreten.“ Und ich antwortete ihr: „Recht so. Wenn ich schwul wäre, und ein Pfarrer würde das zu mir sagen, hätte ich es genau so gemacht. Ich bin mir nur nicht sicher, ob ich danach überhaupt noch mit einem Vertreter der Kirche gesprochen hätte.“ Und dann erzählte ich ihr von Hamburg: „Einer meiner früheren Pröpste ist bekennend schwul gewesen und jetzt einer der wichtigsten Theologen in der EKD. Und mit der Meinung des Leipzigers Pfarrers stimme ich überhaupt nicht überein.“ Es wurde noch ein gutes Gespräch – und, womit ich überhaupt nicht gerechnet hatte – zwei Wochen später besuchte sie mich und trat wieder in die Kirche ein. – Der „frühere Propst“ ist übrigens derselbe, der auch den zeitzeichen-Artikel geschrieben hat.

Ich selbst bin mit der Vorstellung groß geworden, Homosexualität sei ebenso Sünde wie vorehelicher Geschlechtsverkehr. Dann lernte ich die historisch-kritische Methode kennen. Das heißt: Die Bibel in ihrem historischen Kontext verstehen. Damals, vor zwei- bis dreitausend Jahren, war es einfach die Aufgabe des Mannes, viele Kinder zu zeugen. Es war eine Frage des Überlebens für die Familie, den Clan, das Volk. Wer sich freiwillig aus dieser Aufgabe verabschiedete, versündigte sich an seinen Nächsten. Onan zum Beispiel, ein Enkel des Erzvaters Jakob, „ließ seinen Samen zur Erde fallen“ (1. Mose 38,8-10) – nicht durchs Onanieren übrigens, sondern durch einen Coitus interruptus – und wurde dafür von Gott getötet. Sexualität war keine Privatsache, sondern Dienst an der Gemeinschaft. Das galt nicht nur für biblische Zeiten, sondern im Prinzip noch bis ins vorletzte Jahrhundert hinein.

Keiner wird bestreiten, dass sich Zeiten und Rahmenbedingungen grundlegend geändert haben. Kein Bischof tritt mehr für die Sklaverei ein, obwohl diese Gesellschaftsform für die biblischen Autoren völlig selbstverständlich war. Und ausgerechnet bei der Homosexualität tun wir so, als ob wir mit der Moral von Halbbeduinen die Welt von heute retten könnten.

Die Orientierungshilfe baut eine „Spannung“ auf zwischen dem Liebesgebot und dem Wortlaut der Bibel. Diese Spannung existiert nicht, wenn wir den Wortlaut der Bibel in den Dienst der Liebe stellen. Hat nicht Jesus so etwas immer wieder gefordert?

Im Artikel beschreibt Horst Gorski dann, dass die evangelische Kirche in den vergangenen 20 Jahren große Schritte getan hat auf dem Weg zur Gleichberechtigung von hetero- und homosexuellen Partnerschaften. Aber sie laviert immer noch hin und her. Und ich finde es schon unbefriedigend, dass darüber überhaupt geredet werden muss.

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Beitragsbild von geralt auf Pixabay

 

Nachdenken über den Heiligen Geist

Nachdenken über…In dieser kleinen Serie über Gott, Jesus und den Heiligen Geist versuche ich zusammenzufassen, was mir in den letzten Jahren wichtig geworden ist. Es ist sozusagen ein persönliches Glaubensbekenntnis und nimmt den Gedanken von „Christentum to go“ wieder auf.

Die Entscheidung, am 17. Februar den Gottesdienst zu halten, obwohl gesundheitlich alles dagegen sprach, war kein bewusstes Abwägen. Ich nahm zwar wahr, wie es um mich stand, aber das spielte keine Rolle. Irgendetwas in mir hatte den Beschluss schon gefasst. Als Ute davon einer Freundin erzählte, meinte die spontan: Das war der Heilige Geist.

Der Heilige Geist. Er ist schwer zu fassen und weht eben, wo er will, wie Jesus sagt. Und je nachdem, wen man fragt, scheint er auch an ganz unterschiedlichen Orten aufzutauchen und ganz verschiedene Eigenschaften zu haben. Die Charismatiker identifizieren ihn zum Beispiel überall dort, wo bei christlichen Menschen übernatürliche Gaben festgestellt werden können: Wunderheilungen, Exorzismen, unverständliches Reden zum Beispiel. In der Feministischen Theologie wird er gendergerecht oft die Heilige Geistkraft genannt. Das weibliche Element darf schließlich auch in der Trinität nicht fehlen, und schließlich ist die hebräische Grundbedeutung רוּחַ auch weiblich. Die Vorstellung, wie oder wer der Heilige Geist sei, hat eben viel mit der Gottesvorstellung zu tun.

Durch den Heiligen Geist wird die Botschaft Jesu heute konkret. Und für mich ist die wichtigste Eigenschaft dieses Geistes, dass er der Tröster ist. „Und ich will den Vater bitten und er wird euch einen andern Tröster geben, dass er bei euch sei in Ewigkeit“, sagt Jesus (Johannes 14,16). Wir haben in den letzten Jahren unendlich viele tröstende Worte bekommen. Sie berührten unser Herz, sie richteten uns auf, sie waren ohne Zweifel geistgesättigt.

Bei Ignatius spielt der Trost eine zentrale Rolle. Wenn ich Gott liebe – und das heißt für mich: wenn ich das Leben liebe -, wenn Glaube, Liebe und Hoffnung in mir wachsen, wenn ich innerlich ruhig werde und ausgeglichen, dann sind es deutliche Zeichen: Hier wirkt der gute Geist.

„Die Liebe zum Leben“, schreibt Fulbert Steffensky, „bringt Feuer und Wasser zusammen: die harten Fakten und die gerupfte, aber nicht erschlagene Hoffnung. Die Liebe zum Leben lässt sich nicht durch falsche Stimmigkeit betören. Sie wird nicht zynisch und sie bleibt nicht blind.“ 

In diesem Satz klingen zentrale Elemente meines Glaubens an. Zunächst einmal das Hohelied der Liebe: Die Liebe „erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand … Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe. Die Liebe aber ist die größte unter ihnen.“ (1. Korinther 13,7) Und das Bild von Feuer und Wasser erinnert mich an das Wasser der Taufe, das Jesus mit dem Geist in Verbindung gebracht hat („Wenn jemand nicht geboren wird aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen,“ sagt er in Johannes 3,5) und das Feuer von Pfingsten (Apostelgeschichte 2). An dem Tag werden die Jüngerinnen und Jünger be-geistert (eine beliebte kirchliche Schreibweise).

Der Neurobiologe Gerald Hüther betont, dass Begeisterung die Voraussetzung von Lernen ist und eine Umgebung benötigt, in der wir mit anderen Menschen verbunden sind und persönlich wachsen können. Das klingt nach einer Gemeinde, in der der Geist das Sagen hat.

Die Gaben des Geistes sind die „Charismen“, die Gnadengaben. „Charisma“ ist eine Ableitung von „Charis“, der Gnade (grch. χάρις, lat. gratia). Wir verstehen darunter vor allem ein Geschenk, das ein Mächtiger einem Schuldigen macht: Der Erlass der Strafe – in der Theologie die Folgen der Sünden, in der Justiz die der Schuld. Im Prinzip aber bleibt der Schuldige schuldig und abhängig und der Mächtige mächtig.

Ursprünglich aber hat die Charis nichts mit dem Recht zu tun, sondern mit der Ästhetik. Es bedeutete Schönheit oder, mit einem schon fast vergessenen Wort, Anmut – eine Qualität, die Navid Kermani gerade unter Protestanten so schmerzlich vermisst. Später wandelte sich die Bedeutung auch zur Wohltat. Auch das hebräische Chanan (חנן)   wandelt sich in seiner Bedeutung – nur in entgegengesetzter Richtung von Wohltat zu Schönheit. Ist der gnädige Gott vielleicht eher ein schöner Gott? Und was ändert sich, wenn wir statt „Die Gnade Gottes sei mit dir“ sagen: „Die Schönheit Gottes sei mit dir“? Für mich hat sich mit dieser Vorstellung eine völlig neue Glaubenswelt aufgetan.

Und ich erinnerte mich an einen meiner Lieblingssätze: „So schön wie hier kann’s im Himmel gar nicht sein“ (Christoph Schlingensief). Dieses Wort hat ihm der Heilige Geist gegeben.

Nachdenken über Jesus

Jesus sei ganz Gott und ganz Mensch, heißt es. Aber wie ist das zu verstehen? Die Menschen stritten sich, ob „der Sohn“ mit „dem Vater“ nun wesensgleich sei oder nur wesensähnlich – griechisch ὁμοούσιος oder ὁμοιούσιος. Es ging um einen Buchstaben, den kleinsten im Alphabet, das ι. Deshalb wurden Kriege geführt und Konfessionen getrennt. War es das wert?

Nein, definitiv nicht. Schon die Fragestellung ist mir herzlich egal.

Wichtig ist mir nicht, ob er mit dem Vater, sondern mit mir wesensähnlich oder sogar wesensgleich ist. Denn ich habe das tiefe Gefühl: Er steht auf meiner Seite. Er ist wie ich. Oder ich wie er. Oder besser: Ich auf seiner Spur.

Wie er habe ich einen handwerklichen Beruf ausgeschlagen. Uns zog es wohl beide eher zu Büchern – ihn zur Heiligen Schrift, mich eher zu Karl May. Beide suchten wir unseren eigenen Weg, gerade auch in der Auseinandersetzung mit der Familie. Mir gefällt auch sein Hang zum Feiern, ob in Kana, bei den Zöllnern oder den Pharisäern.

Er sucht und findet immer wieder die positive und leichte Seite im Leben – und an Gott. Gott ist jemand, der die Vögel und Blumen beschützt – und mich erst recht. Gott fragt nicht nach Schuld und Irrwegen. Wer zurückfindet wie der „verlorene Sohn“, bekommt erst einmal einen Kaffee oder gleich ein Festmahl ausgerichtet. Und dabei weiß er sehr wohl um die Gefahren und Untiefen des Lebens, um die Wankelmütigkeit des Schicksals, um die Unberechenbarkeit des Vaters. Schau nicht zu sehr dahin, sagt Jesus. Hoffe gegen die Erfahrung.

Und immer wieder sucht er den Weg des Friedens, des Ausgleichs, der Gerechtigkeit. Auch wenn ihn das in große Schwierigkeiten bringt. Schließlich hat er nur die Wahl, entweder seinen Weg zu verlassen oder ans Kreuz zu gehen. Und dieser innere Kampf, wie er ihn im Garten Gethsemane ausgefochten hat, ist mein Kampf mit der Krankheit. „God, Thy will is hard, but you hold every card…“ (Jesus Christ Superstar). Und von seinen letzten Worten am Kreuz darf keines fehlen. Denn sie alle umfassen das Leben wie das Sterben: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ Mk. 15,34 und Mt. 27,46), „Es ist vollbracht“ (Joh. 19,30) und „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist.“ (Lk. 23,46).

Paulus selbst betont immer wieder, dass wir mit Jesus eins sind. Ja, wir sind mit ihm gestorben und auferstanden (Römer 6,3-5). Jesus lebt in uns und wir in ihm. Das kann ich so allerdings (noch?) nicht ganz nachvollziehen.

menas-meditationVorerst reicht es mir, wenn ich Jesus als meinen Freund bezeichnen kann. Der mich stützt und unterstützt und gleichzeitig den Raum gibt, damit ich mich entfalten kann. Der mir die Wahrheit sagt, die gerade gut ist für mich. Der meinen Weg mit mir geht.

Diese Ikone liegt auf meiner Meditationsmatte; ich gehe täglich daran vorbei. Sie erinnert mich an meine Sehnsucht, geborgen und aufgehoben zu sein und zur Ruhe zu kommen. Die Realität sieht zurzeit anders aus. Aber diese Ikone holt mich immer wieder ein bisschen aus der Realität heraus in die Wirklichkeit Jesu. Das tut gut.

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Beitragsbild: Jesus-Mosaik in der Ayia Napa Kapelle, Zypern. Bild von dimitrisvetsikas1969 auf Pixabay
Menas-Ikone: Die Quelle kann ich nicht mehr zurückverfolgen. Bitte ein Hinweis, wenn eine Urheberrechtsverletzung vorliegt.

 

Nachdenken über Gott

„Wenn dir der Gedanke kommt, dass alles, was du über Gott gedacht hast,
verkehrt ist, und dass es keinen Gott gibt, so gerate darüber nicht in Bestürzung.
Es geht vielen so. Glaube aber nicht, dass dein Unglaube daher rühre,
dass es keinen Gott gibt.

Wenn du nicht mehr an den Gott glauben kannst, an den du früher geglaubt hast,
so rührt das daher, dass in deinem Glauben etwas verkehrt war,
und du musst dich besser bemühen, zu begreifen, was du Gott nennst.

Wenn ein Wilder an seinen hölzernen Gott zu glauben aufhört, heißt das nicht,
dass es keinen Gott gibt, sondern nur, dass der wahre Gott nicht aus Holz ist.“
(Leo Tolstoi)

Mit dem Krebs veränderte sich mein Bild vom Glauben, von Gott. Vielleicht war es auch gar keine Veränderung, sondern eine Intensivierung; die Grundlinien waren schon früher gelegt. Aber die Voraussetzungen hatten sich verändert.

Mein erster Lehrer auf dem Weg war Leonard Cohen: You want it darker. Was ist, wenn der Krebs kein Versehen Gottes war, kein „Ich geh denn mal kurz Kaffee trinken“, während der Teufel den Hiob quält. Was ist, wenn er den Krebs wollte?

Wir kennen diesen dunklen Gott, den Richter und den, der das Leid Unschuldiger zulässt. Martin Luther nennt ihn „deus absconditus“ – den verborgenen Gott. Für den „natürlichen“ Menschen verborgen und unverständlich. Der Glaubende wendet sich dem „deus revelatus“ zu, der sich in Jesus offenbart hat – als derjenige, der die Sünde wegnimmt und den Menschen nur Gutes will.

Für mich wird der Mensch dadurch entmündigt und Gott nicht ernst genommen. Für mich gibt es keinen „lieben Gott“ mehr, einen, der von seinen dunklen Seiten reingewaschen wird.

Widerspricht das aber nicht der gesamten biblischen Botschaft? Ist Gott nicht Liebe, menschenfreundlich und gut?

Ja, auch. Er ist sogar ganz großartig. Wenn er in allem ist und alles in ihm, dann ist sein Wesen ebenso schön und grandios, wie es das Leben eben – auch – ist.

Er ist beides, mal so und mal so, gut und böse, die coincidentia oppositorum (Nicolaus von Kues), das Zusammenfallen der Gegensätze. In der Theorie. Und deshalb in der Praxis vor allem: Unberechenbar.

Wie ich damit umgehen kann, habe ich bei Psychologinnen und Neurobiologen, Ärztinnen und Theologen gelernt. Die Kunst scheint darin zu bestehen, die Realität und eigene Wahrnehmung nicht zu leugnen – und dann die Fähigkeit zu haben, auf das Gute zu schauen.

Unsere Freundin Jutta Seeland (Psychotherapeutin) betont mit Gerald Hüther (Neurobiologe), dass unser Bewusstsein nicht nur unser Verhalten, sondern sogar das Verhalten unserer Zellen beeinflusst. Ärzte sagen, dass nachgewiesenermaßen – neben der Bewegung – eine gute Einstellung eine positive Wirkung hat. Für alle anderen alternativen Therapien gibt es keine ausreichenden Belege.

Giovanni Maio (Arzt) sagt: „Hoffnung ist ein Offensein für das, was kommen wird, und ein Vertrauen darauf, es bewältigen zu können.“ Und Fulbert Steffensky (Theologe): Hoffen ist „zu handeln, als gäbe es einen guten Ausgang“. Schließlich noch Sebastian Murken (Religionspsychologe): „Eine Religion hilft vor allem denen, die stark daran glauben, dass sie ihnen hilft.“

So verstehe ich auch die Botschaft Jesu: Er weiß darum, wie gefährlich das Leben ist. Er weiß um die Gefahr voPsalsssssssssssssssssn Hunger und Krankheit, um Unterdrückung und Folter. Und doch sagt er: Sorget nicht! (Matthäus 5,25ff.) Wenn wir ihn nicht für unzurechnungsfähig halten sollen, dann meint er damit: Schaut auf die hoffnungsvolle Seite des Lebens. Geht nicht auf in den Bedrängungen der Welt. Sucht die gute Seite Gottes als Verbündete.

Es ist also wenig hilfreich, einfach nur auf Gott zu vertrauen und zu glauben, dass er es schon gut machen werde. Weniger „Der Herr ist mein Hirte“ (Psalm 23,1) als vielmehr: „Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen.“ (Psalm 18,30)

Ich halte den Psalm 23 immer noch für einen schönen Text, der trösten kann und beruhigen und in den Schlaf wiegen. Aber er trägt mich nicht mehr, wenn es darauf ankommt. Genausowenig wie der Satz, den Margot Käßmann anlässlich ihrer Krebserkrankung gesagt hat: „Ich kann nicht tiefer fallen als in Gottes Hand.“ Ich fürchte: Doch, ich kann. Ich muss nicht. Selbst wenn ich bisher immer gehalten wurde, kann ich beim nächsten Mal durchgereicht werden. Zu vielen ist es schon passiert.

Die Frage, wie ich denn mit einem unberechenbaren Gott umgehen soll, werde ich nicht durch das Fürwahrhalten solcher Glaubenssätze lösen, auch nicht, indem ich über ihn rede, sondern mit ihm. Ganz grundsätzlich sagt Martin Buber dazu: „Wenn an Gott glauben bedeutet, von ihm in der dritten Person reden zu können, glaube ich nicht an Gott. Wenn an ihn glauben bedeutet, zu ihm reden zu können, glaube ich an Gott.“

Im Grunde ist es das Gottesbild der Bibel, besonders des Alten Testaments. Dort wird eigentlich relativ wenig über Gott geredet, dafür umso mehr mit ihm. Einer der für mich wichtigsten Texte steht in 2. Mose 3, die Unterhaltung des Mose mit Gott am Dornbusch. Mose erhält von Gott den Auftrag, die Hebräer aus Ägypten zu befreien. Mose lehnt ab. Alles spricht dagegen, dass er es könnte. Gott besteht darauf. Mose verlangt Garantien. Gott gibt ihm keine. Nur seinen Namen.

Und der lautet eben nicht: „Ich bin, der ich bin“ – ich bin der Ewige, der Herrscher des Himmels und der Erde. Das ist griechisches Denken. Er lautet: אֶֽהְיֶ֖ה אֲשֶׁ֣ר אֶֽהְיֶ֑ה „Ich werde mich als der erweisen, als der ich mich erweisen werde. Mit anderen Worten: Du wirst es nur herausfinden, wenn du es ausprobierst.

Und Mose geht los. Mit nichts an der Hand als den Trick mit der Schlange (2. Mose 4,2-4) und einem Bruder, der zur Not für ihn reden soll. Nicht gerade viel gegen den Herrn der damals bekannten Welt.

Es hätte schief gehen können. Und es ist auch nicht gerade glatt gegangen. Aber die Hebräer konnten Ägypten verlassen.

Schließlich ist er dann doch gestorben, bevor er am Ziel war. Sein Lebenstraum hat sich nicht erfüllt, aber seine Aufgabe hat er bewältigt.

Und ich glaube, genau das ist Leben: Nicht dass wir unsere Träume verwirklichen können, sondern dass wir eine Aufgabe haben und sie bewältigen, jeden Tag neu. Václav Havel hat gesagt: Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.“

 

Aufs Leben schauen

In diesem Jahr habe ich zwei Gottesdienste gehalten, und jeder war auf seine Weise ein Highlight. Im Januar war es die Kombination mit der Musik. Ich erinnere mich noch an den Auftakt, Picinellis C-Dur Sonate, von Andrii Spharkyi auf der Posaune gespielt, und ich bin immer noch und immer wieder ganz geflasht. Es war ein schöner Gottesdienst.

Während dieser Gottesdienst besonders war wegen der Dinge, die in ihm geschahen, gewann der zweite seine Bedeutung vor allem durch die, die vor ihm passierten. Denn am Freitag und am Sonnabend ging es mir so schlecht, dass nicht klar war, ob ich wirklich auf die Kanzel würde steigen können. Nein, eigentlich war völlig klar, dass ich es nicht könnte. Glieder-, Magen- und Rückenschmerzen waren schon schlimm genug. Vor allem mein Kreislauf machte mir zu schaffen – ich kam kaum unfallfrei vom Sofa zum Sessel. Bis in die Nacht war nichts, aber auch gar nichts mit mir anzufangen. Und Ute meint, dass ich mit dieser Beschreibung noch nicht einmal besonders dramatisiere.

Und doch habe ich meine Kollegin Friederike Waack nicht angerufen und sie gebeten, die Predigt zu übernehmen. Obwohl ich wusste, wie es mir geht, habe ich diesen Gedanken nicht zugelassen. Denn ich wollte diesen Gottesdienst und wäre nur gewichen, wenn mich der Krebs von der Kanzel geschubst hätte. Und das wollte ich doch erstmal sehen.

Ich weiß nicht, was mich dazu getrieben hat. So unvernünftig kenne ich mich sonst nicht. Es war auch nicht so sehr eine bewusste als vielmehr eine instinktive Entscheidung. An dieser Stelle gönnte ich dem Tiger keinen Zentimeter. Ich dachte an Sonja (Ein Mann namens Ove): Wir können an den Tod denken oder wir können weiterleben. Gottesdienst bedeutete für mich Leben. Ich hatte mich vorbereitet und wollte meine Gedanken mit euch teilen. Ich wollte euch sehen. Ich wollte nicht zuhause liegen und an den Tod denken.

Ich glaube, dass ich noch nie mit solch wackeligen Beinen zur Kirche gegangen bin. Aber es gelang. Ich weiß nicht, ob mir diese Erfahrung in anderen Situationen nützen wird. Aber ich habe sie gemacht, und sie hat schon ihren Wert in sich.

Ich glaube, dass ich in einem gewissen Rahmen Entscheidungen treffen kann. Welche Medikamente will ich nehmen und welche Therapie durchführen? Blog schreiben oder Netflix gucken? Gottesdienst ja oder nein? Gespräche führen oder doch lieber nicht? Diese Entscheidungen beeinflussen mein Leben und seine Qualität. Aber ich spüre eine Grenze. Auf den Zeitpunkt meines Todes habe ich keinen Einfluss. Weder durch innere Vorstellungen, indem ich mir z.B. ausmale, wie wir die Route 66 fahren, noch durch irgendwelche anderen Entscheidungen.

Ich glaube, dass Gott der Herr ist über Leben und Tod. Er bestimmt Anfang und Ende des Lebens. Ich weiß nicht, ob Gott den Tod irgendwann für jeden Menschen von Anfang an vorherbestimmt hat oder ob er das adhoc entscheidet. Mir geht es aber ganz gut damit, das Ganze ihm zu überlassen.

route66-schild1-e1503652216841.jpgMeine Aufgabe ist es, die Zeit zwischen Geburt und Tod zu gestalten und die Möglichkeiten auszuloten. Im Moment ist die Route 66 in weite Ferne gerückt. Aber ausgeschlossen ist sie immer noch nicht. Ich schaue täglich auf das Schild im Wohnzimmer und freue mich daran und weiß: Wenn die Zeit dafür kommt, werde ich sie nutzen. Das Straßenschild ist ein Symbol für die Zukunft, wie (un-)wahrscheinlich sie auch immer sein mag.

Am Gottesdienst-Wochenende habe ich erfahren, wie recht Fulbert Steffensky hat, wenn er schreibt: Hoffen ist „zu handeln, als gäbe es einen guten Ausgang“.

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Beitragsbild: Aus dem Gottesdienst am 17. Januar; Gudrun Fliegner an der Orgel und Andrii Spharkyi mit der Posaune © Ingelor Schmidt
Route 66: © Erik Thiesen

 

Auf den Punkt gebracht

Es gibt Menschen, deren Sätze keinen Punkt haben, sondern höchstens Kommas oder Semikola. Ihre Gedanken mäandern einfach weiter. Geistliche sollen dazu gehören. Ich kenne – öhm – jetzt gerade keinen, habe aber davon gehört.

Umso erstaunlicher, wenn ein Pfarrer ein Buch voller Aphorismen veröffentlicht, das nicht nur seinen Gedanken auf den Punkt bringt, sondern gleichzeitig unsere Gedanken weiterlaufen lässt. „Zärtlichkeit und Schmerz“ heißt das Buch, und Kurt Marti hat es geschrieben. Ich bekam es zu meinem Geburtstag 1982 von meinem Freund Johannes, und es wirkt seitdem wie eine Auffrischungsimpfung gegen die Bequemlichkeit des Denkens.

Ich kannte Kurt Marti schon. Seine „Leichenreden“, vor 50 Jahren erschienen, waren legendär. Und nicht wenige Theologiestudenten kannten den „Gustav E. Lips“ auswendig:

dem herrn unserem gott
hat es ganz und gar nicht gefallen
daß gustav e. lips
durch einen verkehrsunfall starb

Und Marti zählt etliche Gründe auf, warum es Gott nicht gefallen haben kann und meint schließlich:

im namen dessen der tote erweckte
im namen des toten der auferstand
wir protestieren gegen den tod von gustav e. lips

Wer die Sprache und Denkweise der Kirche der 60er Jahre im Ohr und vor Augen hat, der ahnt, welche Revolution Marti damit auslöste. Hier protestierte einer nicht nur gegen den Tod von Gustav E. Lips, sondern gegen eine Tradition, die einfach nachgesprochen wurde. Hier untersuchte ein Pfarrer die Wahrheit auf Wahrhaftigkeit.

Für viele von uns Theologiestudenten der 70er Jahre war es eine Befreiung. Und erst in der Gemeinde merkte ich, wie viel Mut Kurt Marti gehabt hatte. Denn noch Jahrzehnte später entfaltete die Tradition – auch mithilfe vieler Gemeindeglieder – eine ungeahnte Macht. Aber Kurt Martis „Zärtlichkeit und Schmerz“ hat bestimmt auch dazu beigetragen, dass der Stachel blieb: auch mal gegen das Selbstverständliche zu denken.

Aphorismen sind, wenn sie gut sind, witzig und intelligent, überraschend und anregend. Und wenn sie sehr gut sind, enthalten sie Gedanken, die sich festsetzen wie Widerhaken, immer wieder bewegen, ihre Wahrheit erst im Erleben freisetzen und neue Facetten aufscheinen lassen. Dies ist eine solche Sammlung.

Hier las ich zum ersten Mal den Satz: „Wer Mitleid fühlen will mit einem Europäer, muß ihn tanzen sehen.“ (Afrikanischer Christ über seine weißen Brüder)  Aber mehr noch beeindruckte mich die Folie divine: Gott? Jener Große, Verrückte, der noch immer an Menschen glaubt.“ Das gesamte Glaubensbekenntnis, unsere Lebensgrundlage und Hoffnung in neun Wörtern. Wie macht Marti das?

Und uns Geistlichen gibt er mit auf den Weg, zart und genau zu sein: Zart und genau: das sind ästhetische Kategorien. Nicht weniger sind es theologische. Vor allem sind es Kategorien einer Gerechtigkeit, die göttlich zu nennen erlaubt ist, weil ihr Recht … dem Willen entspringt, … den Menschen, den Dingen zutiefst gerecht zu werden.

Mein Lieblingsgedanke aber – und viele von euch kennen ihn, weil ich ihn wirklich schon oft zitiert habe, ist die Frage: Gott, so denkt man oft, so verkünden Eiferer lauthals, sei Antwort. Spröder sagt die Bibel, daß er Wort sei. Und wer weiß, vielleicht ist er meistens Frage: die Frage, die niemand sonst stellt.

Und zum Schluss ein Gedanke, der genau in unsere Situation hineinspricht. Wünsche: Wie, wenn Wünsche nicht fertig werden, wenn der Tod ihnen zuvorkommt? Und doch wäre dies das geringere Übel. Trauriger ist’s, wenn die Wünsche fertig sind, aber der Tod nicht kommen will.

Kurt Marti starb vor zwei Jahren. Aber seine Wünsche und Gedanken sind nach wie vor lebendig.

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Kurt Marti, Leichenreden, dtv München 2004 (Erstveröffentlichung 1969 Frankfurt/M). Die Leichenrede steht auf Seite 27.
Kurt Marti, Zärtlichkeit und Schmerz, Sammlung Luchterhand, Darmstadt und Neuwied 1981. Die Aphorismen stehen auf den Seiten 14, 24, 116, 107 und 37. Und das „Eismeer“ von C.D. Friedrich ist das Titelbild von Buch und Blog.

Beitragsbild: Von Caspar David Friedrich – The Yorck Project (2002) 10.000 Meisterwerke der Malerei (DVD-ROM), distributed by DIRECTMEDIA Publishing GmbH. ISBN: 3936122202., Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=151054

 

Sapere aude

„Habe den Mut, weise zu sein“, lautet das lateinische Sprichwort. Immanuel Kant machte es zum Motto der Aufklärung und übersetzte: „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ Im Grunde könnte dieser Satz aber auch der Bibel entstammen… 

Der heutige Gottesdienst stand unter dem Motto „Glaube und Wissen“. Ausgangspunkt war ein Text aus dem Buch Kohelet, Kapitel 7,15-18 (E).

15 In meinen Tagen voll Windhauch habe ich beides beobachtet: Es kommt vor, dass ein gesetzestreuer Mensch trotz seiner Gesetzestreue elend endet, und es kommt vor, dass einer, der sich nicht um das Gesetz kümmert, trotz seines bösen Tuns ein langes Leben hat. 1Halte dich nicht zu streng an das Gesetz und sei nicht maßlos im Erwerb von Wissen! Warum solltest du dich selbst ruinieren? 1Entfern dich nicht zu weit vom Gesetz und verharre nicht im Unwissen: Warum solltest du vor der Zeit sterben? 1Es ist am besten, wenn du an dem einen festhältst, aber auch das andere nicht loslässt. Wer Gott fürchtet, wird sich in jedem Fall richtig verhalten.

Begrüßung:

Liebe Gemeinde, herzlich willkommen zu diesem Gottesdienst am Sonntag Septuagesimae. „Credo quia absurdum“ lautete in der Alten Kirche ein geflügeltes Wort: Ich glaube, weil es absurd ist. Das klang damals nicht ganz so widersinnig wie heute. Denn damals setzte man gleichberechtigt neben das Vernunftwissen das Erfahrungswissen. So schreibt Paulus (1. Korinther 1,18): „Denn das Wort vom Kreuz ist denen, die verloren gehen, Torheit; uns aber, die gerettet werden, ist es Gottes Kraft.“ Wenn wir im unvernünftigen Wort vom Kreuz Gottes Kraft erfahren, dann ist Gott anders als wir meinen, und mit dem Menschen und seiner Vernunft kann etwas nicht stimmen. Der moderne Mensch aber setzt die Vernunft an die erste Stelle und kommt zum Schluss, dass dann mit Gott etwas nicht stimmen kann.

Müssen wir also, wenn wir an das Wort vom Kreuz glauben wollen, denken wie die vormittelalterlichen Menschen? Oder gibt es eine Brücke zum modernen Denken? Für diese Frage habe ich einen interessanten Gesprächspartner gefunden. Einen Denker aus der ganz alten Zeit, der sehr modern gedacht hat. Kohelet, den Prediger Salomo.

In diesem Gottesdienst soll aber nicht nur das Denken zu seinem Recht kommen, sondern auch das Feiern: Musik und Singen, Beten und Hören und Segnen – in christlicher Gemeinschaft unter Beteiligung des Heiligen Geistes, der mit dem Vater und dem Sohn lebt und regiert von Ewigkeit bis Ewigkeit. Amen.

Und die Predigt:

Liebe Gemeinde!

Obwohl sich das Wissen der Menschen enorm vergrößert hat und wir durch das Internet Zugang zu allen möglichen Informationen haben, halten sich immer noch eine Reihe von populären Irrtümern. Sie werden immer weitererzählt, sind aber trotzdem falsch. Falsch ist z.B., dass die Menschen im Mittelalter dachten, die Erde sei eine Scheibe, dass die Wikinger Helme mit Hörnern trugen und die Beatles und Rolling Stones miteinander verfeindet waren. Das alles kann man auch überall bei ernsthaften Wissenschaftlern nachlesen.

Es gibt aber einen Irrtum, dem selten widersprochen wird, gerade auch von Wissenschaftlern. Und das ist die Meinung, dass Glauben und Wissen Gegensätze seien. Und Wissen besser sei als glauben.

Gut, früher glaubten die Menschen, Jupiter schleudert die Blitze und die Erde ist in 7 Tagen à 24 Stunden erschaffen – und einige glauben das heute immer noch. Aber wir wissen es eigentlich besser. Und keine Frage: Da ist das Wissen dem Glauben überlegen.

Aber es gibt ja noch ein anderes „glauben“. Wenn ich sage: Ich glaube, dass es regnet, heißt es: Ich weiß es nicht, ich vermute mal. Wenn ich es wissen will, muss ich es anschauen, untersuchen, prüfen. Ich muss mich distanzieren, damit ich ein möglichst objektives Urteil fällen kann.

Wenn ich an etwas glaube, an den Sieg des HSV, an meine Kinder, an die Liebe oder auch an Gott, dann muss ich es ganz nah an mich heranlassen. Dann werde ich emotional, subjektiv. Der Glaube an die Kinder oder an Gott hat mit Logik nicht mehr viel zu tun; er ist eine Frage der Beziehung. Dann gibt es auch, objektiv gesehen, plötzlich mehrere Wahrheiten. Denn andere glauben an Borussia Dortmund und hoffentlich ihre eigenen Kinder.

Alles also nur ein großes Missverständnis, weil wir glauben und glauben nicht auseinanderhalten können? Religion und Wissenschaft gehören also nur in verschiedene Schubladen – wobei die Religion in unserer Gesellschaft immer mehr an Bedeutung verliert.

So dachte ich. Und dann lernte ich, dass Religion und Wissenschaft durchaus in eine Schublade gehören und sich nicht ausschließen müssen, ja, dass die Wissenschaft sogar ihre Wurzeln im Glauben, in der Religion hat.

Am Anfang jeder Wissenschaft steht die Frage: Könnte es nicht sein, dass…? Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem und jenem? Eine Theorie wird aufgestellt und wieder verworfen, und so erweitert sich das Wissen von der Welt. Und je mehr wir wissen, desto mehr können wir beeinflussen.

Und genauso ist die Religion entstanden. Die Ägypter erkannten Zusammenhänge zwischen den Sternen und dem Nilhochwasser. Ihre Theorie: Da wirken Götter im Hintergrund. Und je besser wir diese Götter verstehen, desto mehr können wir sie beeinflussen.

Und genauso lesen wir es auch in der Bibel. Ursprünglich, so lesen wir in der Schöpfungsgeschichte, lebten Mensch, Natur und Gott in einer engen Beziehung. Dann stellt die Schlange die Frage: Sollte Gott gesagt haben…? Gott wird Objekt einer Untersuchung – der Anfang der Wissenschaft. Die enge Beziehung bricht auseinander. Und einen Weg zurück gibt es nicht, denn ein Engel steht davor. Der Garten wird zum Dornenfeld. Schmerzen und Leid gehören nun zu uns Menschen. Und wir können diese Folgen nur in den Griff bekommen, wenn wir forschen und erfinden, in der Landwirtschaft wie in Medizin und Technik. Macht euch die Erde untertan. Wir sind auf diesem Weg schon ganz schön weit gekommen. Und all das wird in der Bibel nicht Sünde oder Sündenfall genannt, sondern einfach nur erzählt.

In der Bibel geht es dann nicht so sehr um Fragen der Technik, sondern des Zusammenlebens: Was ist richtig, was falsch, damit wir leben und überleben können? Wenn sich etwas als erfolgreich erwies, wurde es aufgeschrieben und bekam mit der Zeit vielleicht sogar den Rang eines göttlichen (Zehn-)Gebots. Nach diesem Prinzip fanden auch die Propheten ihren Eingang in die Bibel – wenn ihnen der Lauf der Geschichte Recht gegeben hatte.

Die Autoren der Bibel waren Forscher. Und das gilt besonders für den, den Martin Luther den „Prediger“ genannt hat. Sein Name „Kohelet“ hat aber vielmehr mit „versammeln“ zu tun. Er sammelt Sprüche und Weisheiten – aber nicht die alten, die überlieferten und bewährten. Er beobachtet selbst.

Kohelet ist ein Philosoph ganz im Sinne des Sokrates. „Ich richtete“, schreibt er am Anfang des Buches, „mein Herz darauf, die Weisheit zu suchen und zu erforschen bei allem, was man unter dem Himmel tut.“ Und das macht er, konsequent und ohne Kompromisse. Er sieht die Welt an, und er ist erschüttert. Das Leben? Ein Hauch, mehr nicht. Gott? Auch er schenkt keine Geborgenheit mehr, sondern ist unberechenbar und letztlich ungerecht. Eine Gerechtigkeit nach dem Tod gibt es für Kohelet nicht. Das Streben nach Sicherheit ist sinnlos. Ja, selbst die Moral ist relativ. Kohelet ist der Existentialist unter den biblischen Autoren, melancholisch, manchmal sogar pessimistisch.

Und dann gibt er auch Ratschläge gegen den Weltschmerz: „Sieh, was ich Gutes sah: Es ist schön, zu essen und zu trinken und Gutes zu genießen für all die Mühe und Arbeit unter der Sonne in der ganzen Zeit seines Lebens, die Gott einem gegeben hat.“ Und er meint es keineswegs ironisch wie später Paulus, sondern wiederholt diesen Rat an mehreren Stellen.

Gut, er sieht auch, dass es den einen mehr als anderen vergönnt ist zu genießen. Wir sollten es akzeptieren, meint er. Und uns im Übrigen an Gott und seine Gebote halten. Was das allerdings genau bedeutet, wird bei ihm nicht so ganz klar. Auf alle Fälle nicht übertreiben, meint er, weder mit den Gesetzen noch mit dem Wissen:

Halte dich nicht zu streng an das Gesetz und sei nicht maßlos im Erwerb von Wissen! Warum solltest du dich selbst ruinieren? Entfern dich nicht zu weit vom Gesetz und verharre nicht im Unwissen: Warum solltest du vor der Zeit sterben? Es ist am besten, wenn du an dem einen festhältst, aber auch das andere nicht loslässt. Wer Gott fürchtet, wird sich in jedem Fall richtig verhalten.

Kohelet hat gesehen, wie schnell Gesetzestreue in Selbstgerechtigkeit und Einbildung umschlagen kann. Er weiß, dass das Wissen zum Guten wie zum Schlechten verwendet wird und dass alles, was doch dem Leben dienen soll, schnell auch zum Tod führen kann.

Wer die Kunst des Maßhaltens beherrscht, so seine Überzeugung, der findet Ruhe in seiner Seele. Ganz ähnlich hören wir es von den griechischen Philosophen. Und er gibt uns den Rat: „Geh deinen Weg mit Verstand und mit offenen Augen.“ Das klingt auch sehr nach dem „Sapere aude“, das der Aufklärer Immanuel Kant viele Jahrhunderte später verkündete: Wage es, selber zu denken.

Wenn wir selber denken, können wir allerdings auch zu anderen Schlüssen kommen als Kohelet. Es kann Zeiten geben, in denen der Mittelweg nicht der richtige ist, in denen man sich entscheiden muss. Oder in denen man sich am besten ganz zurückhält. Und was für den einen gilt, muss für die andere noch lange nicht stimmen. Wir stehen an ganz unterschiedlichen Stellen in unserem Leben und haben ganz verschiedene Aufgaben. Das finden wir aber nur heraus, wenn wir uns unseres eigenen Verstandes bedienen.

Warum nur sind Wissenschaft und Glaube in einen Gegensatz geraten? Weil wir angefangen haben, an die Autoren der Bibel zu glauben und nicht, wie sie zu glauben. Wir haben gemeint, die Bibel wäre irgendwann vor fast 2000 Jahren abgeschlossen gewesen. Aber sie wird weitergeschrieben, durch jeden, jede von uns. Jeden Tag.

Wir sind, wie die Autoren der Bibel, auf einer Pilgerreise durch ein Land, das uns bekannt ist und dann wieder ganz neu. Wir haben keine Sicherheit – noch nicht einmal die, dass Gott uns trägt und wir tatsächlich ans Ziel kommen. Wir haben nur sein vages Versprechen: Ich werde mit dir sein. Ob es stimmt, werden wir nur herausfinden, wenn wir gehen. Und Pilger reisen mit leichtem Gepäck. Pablo Neruda nennt die Dinge, die wir brauchen. Er schreibt:

Nur drei Dinge nahm er mit
auf seine Pilgerreise:
die Augen geöffnet für die Weite,
die Ohren gespitzt
und den leichten Schritt.

Amen.

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Beitragsbild: Motto der Manchester Grammar School, by Sallyannewilliamson – Own work, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=9950216