Brunow

Wer bei Brunow an irgendein Dorf im Osten denkt – der liegt völlig richtig. 20 km östlich von Ludwigslust, 312 Einwohner, Mecklenburg an der Grenze zu Brandenburg. Viel Natur. Irgendwo im Nirgendwo, von Hamburg aus gesehen.

Zu Mecklenburg habe ich allerdings immer schon eine besondere Beziehung gehabt. Als ich ein Kind war, hat uns Oma aus Fritz Reuter vorgelesen – Mecklenburger Platt mit Angeliter Aussprache. Das war ähnlicher, als es klingt. Überhaupt haben beide Regionen viele Gemeinsamkeiten – angefangen von der Landschaft bis hin zur Mentalität der Menschen. Auch die Haltung zu Religion und Kirche kommt mir vertraut vor. Inzwischen nähert sich auch die Anzahl der Kirchenmitglieder in Nord und Ost einander an. In Angeln ist die Kirche noch eher ein Teil der Gesellschaft, aber auch diese Zusammengehörigkeit scheint zu bröckeln. Sehen wir in Mecklenburg vielleicht die Zukunft der Angeliter Volkskirche?

Brunow also. Der Pfarrsitz der Kirchengemeinde Brunow-Muchow. Hier ist Veronika Hansberg Pastorin. Veronika hat uns Mitte März besucht. Und was sie erzählte, war sehr spannend. Und so entstand die Idee zu diesem Interview.

Veronika, kannst Du Dich und Deine Gemeinde kurz vorstellen?

Geboren 1974 in Dresden, da habe ich aber nicht gelebt, es war die Heimatstadt meiner Mutter. Aufgewachsen bin ich im nordwestlichen Niedersachsen. In Münster habe ich nach meinem Abitur Ev. Theologie und Pädagogik studiert. Mein Vikariat damals in der Kirche, zu der ich gehörte: Oldenburg (in Oldenburg). Leider gehörte ich zu den Jahrgängen, die die Kirche wirklich nicht gut behandelt hat. Mit einer doch erstaunlichen Herzlosigkeit setzte man den ganzen Vikarskurs im Anschluss vor die Tür. Für mich ist wirklich eine Welt zusammengebrochen damals. Seit ich denken kann, wollte ich Pastorin werden und dann das.
Im Jahr darauf bekam ich unser zweites Kind, eine Tochter (unser großer Sohn war da vier Jahre alt). Ich arbeitete nun in verschiedenen Bereichen: als Öffentlichkeitsarbeiterin im Kirchenkreis, als freie Redakteurin bei der regionalen Zeitung, in der Lebensberatung in der Mutter-Kind-Klinik, erteilte Konfirmandenunterricht in der Förderschule für geistige Entwicklung, absolvierte eine Zusatzausbildung in Notfallseelsorge, entwickelte Seminare für Schülerinnen und Schüler und Konfirmanden und führte sie durch (in der Ev. Jugendbildungsstätte Asel in Ostfriesland) und stand fast jeden Sonntag als ordinierte (ehrenamtlich tätige) Pastorin auf einer anderen ostfriesischen Kanzel, vertrat die Kollegen bei Urlaub und Krankheit auch bei Taufen, Beerdigungen und Trauungen.
Leider ging die Vorstellung, dass ich als Pastorin in einer Kirchengemeinde tätig sein werde, mir nicht aus dem Sinn, vor allem aber wohl nicht aus dem Herz. So beschloss ich damals, mich nicht länger von den Landeskirchen Oldenburg und Hannover hinhalten zu lassen und schaute mich um. Ein Praktikum in einer schwedischen Kirchengemeinde beflügelte mich und eröffnete neue Perspektiven.
Eine Initiativbewerbung in der damals neu gegründeten Nordkirche war dann  sehr schnell erfolgreich. Man fragte mich, ob ich auch bereit sei, in Mecklenburg aufs Land zu gehen. Dorfpastorin war durchaus Teil meiner jahrelangen Vorstellung gewesen, und Mecklenburg fanden wir beide –  mein Mann Tjark und ich – schon immer schön. Für Tjark war es fast heimatlich, er ist in Ratzeburg aufgewachsen. Deshalb sagte ich der Kirchenleitung: Ja, ich bin bereit dazu. So kamen wir –  mit inzwischen noch einem Sohn mehr (geb. 2009) als Familie nach Brunow ins Pfarrhaus. Das war 2013.
Ich bin froh, dass ich mich in den Jahren vorher nicht verschätzt hatte. Es ist mein Ding. Auch wenn nicht alles schön und nicht alles leicht ist (und auch nicht alles gleich viel Spaß macht, manches macht auch gar keinen). Aber so ist das immer. Ich bin glücklich, in meinem Beruf arbeiten zu können. Für mich der schönste Beruf, den ich kenne.
Ich liebe – auch seit ich denken kann –  Bücher. Und Sprache fasziniert mich. Außerdem liebe ich Schweden, Schwimmen und  Natur. Und gute Musik (da bin ich sehr großzügig). Und ich liebe meine Familie. Die steht natürlich weiter vorn, ganz vorn.

Brunow-Muchow heißt unsere Kirchengemeinde seit diesem Jahr. Fusioniert aus den Kirchengemeinden Brunow & Muchow. 15 kleine bis mittelgroße Dörfer, acht ganz verschiedene schöne Kirchen, sechs kirchliche Friedhöfe, knapp 750 Gemeindeglieder (ca. 19% der Bewohner). Zwei Pfarrhäuser. In einem (in Brunow) wohnen wir, das andere wird im Moment von unserer (50%) Gemeindepädagogin bewohnt. In Muchow arbeiten wir momentan an einem Nutzungskonzept. In diesem Haus befindet sich auch die im letzten Jahr gegründete Ev.-öffentliche Bücherei – die erste in Mecklenburg, wie ich von Ute lernen durfte.

Soweit.

Eine Gemeinde, 8 Kirchen, Friedhof, Mitarbeitende – das klingt nach unglaublich viel Routine- und Verwaltungsarbeit und nach weiten Wegen. Bleibt da noch Zeit für Anderes? 

Leider zu wenig. Denn: Ja,  es ist viel Verwaltungsarbeit. Aber die Gemeinde leistet sich eine 5-Std./Woche-Sekretärin zur Entlastung (entgegen der mecklenburgischen Gepflogenheiten). Und es gibt beeindruckend viele Menschen auf den Dörfern, die helfen. Sonst ginge es gar nicht. Dienstliche Telefonate erledige ich oft auf den Autofahrten, um die Zeit zu nutzen. Die Investition in eine gute Freisprechanlage hat sich gelohnt. Leider kann ich die Ankündigung, Pastores von Verwaltungsarbeiten zu entlasten, damit Zeit für die „Kernkompetenz“ bleibt, nicht mehr hören und schon gar nicht glauben. In der Zeit, in der ich aktiv für Kirche bin, hat sich der Verwaltungsaufwand für Pastores (und sonstige Dinge, die ich NICHT gelernt habe), proportional zur Ankündigung der Reduzierung verhalten. Ist also, je mehr er angekündigt wurde, umso mehr gestiegen.

Wie sind die Mecklenburger Dir als Pastorin mit westdeutschen Wurzeln begegnet?

Oft erstaunlich offen und positiv. Ich habe den großen „Vorteil“, dass meine Eltern in der DDR aufgewachsen sind und ich wirklich aus meiner Kindheit weiß, wie es war. Meine Großeltern und viele andere Verwandte und die besten und engsten Freunde meiner Eltern haben alle in der DDR gelebt. Ich bin doch verhältnismäßig erstaunt gewesen, wie sehr das hier noch Thema ist. Wie gegenwärtig noch die (unsichtbare) Mauer ist. Das hat mich echt von den Socken gehauen. Meine Eltern können es gar nicht glauben, wenn ich das erzähle. Dazu muss man wohl hier leben, um zu merken, wie sehr es die Menschen geprägt hat (das kann ich verstehen) und wie sehr sie daran hängen (das kann ich wahrnehmen, aber nicht immer verstehen).
Ich versuche, darüber im Gespräch zu sein mit den Menschen. Möglicherweise kann das auch Aufgabe von Kirche sein vor Ort: Das zu hören, aber die Menschen auch nicht immer so zu lassen in ihrem „Gefangensein“ – so nenne ich es mal – in der Vergangenheit. Es gibt viele interessante Gespräche. Ich habe oft das Gefühl, ich darf den Menschen sagen, was sie sich von vielen anderen nicht anhören würden. Wichtig ist, glaube ich, den Menschen zu sagen, dass es nicht um die Abwertung von persönlichen Biographien geht, sondern im Gegenteil, dass der so genannte realexistierende Sozialismus viele um ihre Möglichkeiten gebracht hat. Und die Menschen damit eher aufzuwerten. Die Menschen hier können was. Davon bin ich beeindruckt.

Vor welchen Herausforderungen steht Deiner Meinung nach die Kirche in Mecklenburg ganz besonders?

Viel Gegend, wenig Leute. Und diese wenigen werden älter, haben weniger Möglichkeiten. Viele Gebäude und doch ziemlich wenig liquide. Das ist die Situation der Kirchengemeinden. Hohes Engagement der Kerngemeinde. Das gibt es auch. Es gibt viele Abschiede (wie überall). Wie können wir die miteinander gestalten? Abschiede sind ja nicht per se was Schlechtes. Bewusst und gut gestaltete Abschiede machen offen für Neues. Deshalb tun sie oft natürlich trotzdem weh, die Abschiede. Aber Kirchengemeinde soll auch ein Ort sein, der Schmerzen und Trauer gemeinsam trägt.
Wie machen wir möglichst vielen Menschen klar, wofür die Kirche steht? Leitend sind für uns „Werte“ wie Hoffnung, Nächstenliebe, Gastfreundschaft, Vertrauen. Aber wie bilden wir das ab? Woran können Menschen bei uns erkennen –  am besten auch jene, die die Kirche gar nicht kennen oder sie sogar meiden -, dass uns das leitet? Die Hoffnung als Kernkompetenz der Kirche (da haben wir ein Monopol und das ist ein Schatz!) findet hier fruchtbaren Boden. Nicht abgehängt und es kommt nichts mehr – wie es sich hier oft als Stimmung breitmacht -, sondern nach vorn ausgerichtet. Nicht an der Vergangenheit kleben, sondern auf Zukunft hin. Ein Gegenentwurf zu den anderen Entwicklungen. Ja, vielleicht ist das die größte Herausforderung: Den Versuchungen zu widerstehen, es der kommunalen Entwicklung gleich zu tun. Leider sehe ich im Moment oft anderes.

Ganz praktisch: Wie erfahren die Menschen von unserer Hoffnung?  Wir müssen davon sprechen. Und das in einer Sprache, die die Menschen verstehen. Das fällt nicht allen leicht. Ob unsere Hoffnung auch zu ihrer Hoffnung werden kann, liegt ja nicht nur in unserer Hand. Nur auf Zahlen zu starren, führt nicht zum Glück, da bin ich sicher.

Ich habe festgestellt: Hier gelingt alles gut, wo viele Menschen an der Durchführung beteiligt werden. Deshalb werden wir immer stärker eine Beteiligungskirche bekommen müssen und das ist auch gut so. Die Mecklenburger werden Abschied nehmen müssen von der rein pastorenzentrierten Gemeindeform (was übrigens auch Vorteile hat, aber das nur nebenbei).
Möglichst viele Menschen sollen mit dem Evangelium in Berührung kommen. Das ist die klare Aufgabe. In welcher Form auch immer wir das einlösen. Da sind der Phantasie und Kreativität keine Grenzen gesetzt. Das ist das Spannende und Gute hier bei der Arbeit als Pastorin in mecklenburgischen Kirchengemeinden. Willkommen!

Ute und Du habt Euch kennengelernt, weil Du den Kontakt zum Bibliotheks- und Medienzentrum der Nordkirche gesucht hast. Wie bist Du auf die Idee gekommen?

Ich habe schon gesagt: Ich liebe Bücher. Und ich habe als 18 jährige (damals jüngste bundesweit) die Ausbildung zur Bibliotheksassistentin im kirchlichen Dienst absolviert. Muchow BüchereiDie Liebe zu den Büchern ist geblieben, die Büchereiarbeit ruhte viele Jahre. Nun haben wir ein großes Pfarrhaus in Muchow und bekamen viele Bücherspenden. Da ist es wieder neu entflammt bei mir. Und ich finde es immer einen Gedanken wert, Kultur aufs platte Land zu bringen, wo sonst nichts ist. Man kommt auch einfach nochmal mit anderen Menschen in Kontakt. Es ist ein –  wie wir gern innerkirchlich sagen –  relativ „niederschwelliges Angebot“. Die Menschen kommen in ein Haus der Kirche, treffen sich, trinken Kaffee, unterhalten sich und manchmal leihen sie auch ein Buch aus. Und das Gute daran ist: Sie kommen mindestens einmal wieder. Um es abzugeben. Und vielleicht ist dann der Weg über die Schwelle eines kirchlichen Hauses nicht mehr ganz so schwer.

Auf noch größere Resonanz stoßen Deine Passionsandachten: „Kreuzwege vor Ort“, Gedanken an wunden Punkten unserer Gemeinden. Magst Du davon erzählen?

Der Gottesdienstbesuch an einem „normalen“ (was ist schon normal?) Sonntag  ist –  sagen wir –  ziemlich überschaubar.  Es gibt Sonntage, da kann ich das gut ab. Aber leider ist es nicht immer so. Es macht auch Frust, da bin ich ganz ehrlich.
Und vor vier Jahren, da hatte ich mal wieder besonders Frust. Es war im Januar. Und ich dachte: Und nun kommt auch noch die Passionszeit und da kommen besonders wenige. Dabei verstehe ich das nicht. LEIDEN, das kennt doch nun wirklich jede, das kennt jeder, ob nun Christ oder nicht.
Und so kamen wir zu der Frage: Woran leiden die Menschen eigentlich heute? Also, DIESE Menschen HIER in DIESER ZEIT? Bei jedem Hausbesuch kamen Themen, die die Menschen umtreiben. Also, warum nicht davon sprechen? Und in die Bibel schauen, was sie uns dazu sagt. Es fielen uns gleich Themen ein. Aber habe ich als Pastorin Ahnung davon? Nein, natürlich nicht von allem. Also, ich kann mich in alles hineinlesen und hineinfragen und hineindenken. Aber als Theologin. Warum also nicht eine andere Perspektive dazu holen? Zu jedem Thema kommt also ein Experte oder eine Expertin. Es ist gar nicht so einfach, jemanden zu finden dazu.
Und vielleicht sind vielen Menschen, die seit Generationen nichts mehr mit Kirche zu tun hatten, unsere Kirchen zu alt und zu fremd, vielleicht die Kirchenmauern zu dick. Also, raus aus den alten Mauern. Wohin? Wo leiden denn Menschen heute? Also an die Orte. Und die stehen oft nur stellvertretend, symbolisch für die Frage, die uns da bewegt. Andachten am Kriegermal, auf dem Friedhof, an der Bushaltestelle, bei einem Milchbauern, bei der Feuerwehr, an der Schule, vor geschlossenen Kitas und Einkaufsläden auf den Dörfern, vor verlassenen Häusern, an den Müllcontainern, an einem Unfallschwerpunkt und die Andacht über „burn-out“ am Stoppschild (eines der beiden, die wir im ganzen Gemeindegebiet haben, eine Ampel haben wir gar nicht, haben wir festgestellt).
An fünf Freitagen in der Passionszeit um 18 Uhr. Wenn Ostern früh liegt, ist es bei den ersten Andachten noch dunkel und oft ziemlich kalt. Und die Menschen stehen. Deshalb dauern die Andachten nie länger als 30, allerhöchstens 35 Minuten. Die Musik ist instrumental (wir können doch nicht die, die sonst nicht kommen, als erstes durch das Singen ihnen unbekannter und oft gruseliger Passionslieder wieder verschrecken) und muss je nach Veranstaltungsort auch mal ohne Strom gehen. Im Anschluss gibt es eine Tasse heißen Tee oder Punsch und um 19 Uhr sind fast alle auf dem Weg nach Hause.
Mecklenburger fahren für eine Zahnbürste ins 20km entfernte Parchim, aber selten bis nie gehen sie in eine Kirche in der gleichen Kirchengemeinde im Nachbardorf, 4 km entfernt. Warum, weiß ich nicht. Weiß keiner.
Aber für eine Passionsandacht unserer Reihe geht das schon. Sie kommen aus allen Dörfern, sogar aus anderen Gemeinden. Die Kirchenältesten (die mich übrigens anfangs für verrückt hielten –  ja, das haben sie wörtlich so gesagt, – als ich diese Idee vorschlug) sind inzwischen enttäuscht, wenn weniger als 40 Menschen kommen. Dabei kommen im Sonntagsgottesdienst trotzdem weiter unter zehn, abnehmende Tendenz. Es kann nicht als Konkurrenz gesehen werden, sondern als eine Art Ergänzung. Wer möchte denn sagen, dass eine Andacht, die „im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“ beginnt, in der ein Bibeltext gelesen wird, dieser kurz ausgelegt wird, zwei Gebete gesprochen werden, ein gemeinsames Vaterunser und ein Segen kein vollwertiger Gottesdienst ist?  „Inzwischen“, das heißt übrigens, wir haben die Andachtsreihe „Kreuzwege vor Ort- Gedanken an wunden Punkten unserer Gemeinden“ in diesem Jahr das vierte Mal gehabt. Immer denke ich, jetzt fallen mir keine Orte und keine Themen mehr ein. Doch bis jetzt stimmte das nicht.

Die Liste Deiner Gäste, die das „Wort zur Sache“ sprechen, liest sich beeindruckend: Fachärztin für Neurologie, Staatssekretär, Klimawissenschaftler… Ist das Absicht?

Ja…. Die Menschen auf dem platten Land haben doch ein Recht, auch von diesen Fachleuten zu hören, was es zu sagen gibt zu diesem Thema. Der Bestatter auf dem Friedhof zur Andacht „Was bleibt?“, den hören die Menschen nie dazu etwas sagen, sie sehen immer nur, was er tut und irgendwie wirkt es so, als assistiere er der Pastorin oder so, aber er hat eine ganz eigene Sicht auf die Dinge. Die Neurologin erklärt, warum Menschen krank werden können, wenn sie aus der Mühle der Schnelllebigkeit nicht rauskommen, die Rettungsassistentin ermutigt die Leute zu helfen an der Unfallstelle, der Feuerwehrseelsorger berichtet darüber, was Feuerwehrleute bewegt. Der Schulpsychologe erzählt von seinem Umgang mit Versagensängsten bei Kindern, und der Leiter des Abfallbetriebes erläutert die Dimensionen der Wegwerfgesellschaft, die ich nur erahnen kann. Und der erste Staatssekretär aus der Landesregierung kommt hier aufs Dorf und hört, wie sich das mit dem Abgehängtsein  anfühlt und versucht aus der Politik dazu etwas zu sagen. Das eröffnet viele Räume. Ich bin selbst immer wieder beeindruckt, was sie da sagen.  Übrigens ist es ja oft meine Aufgabe bei diesen Andachten zum Thema einen Bibeltext zu finden, also genau der umgekehrte Weg zu der üblichen sonntäglichen Predigtvorbereitung. Das ist oft gar nicht einfach, macht aber ungeheuer Spaß. Deutliche Empfehlung!

Besonders einfühlsam finde ich den Ausdruck der „wunden Punkte unserer Gemeinden“. Wie bist Du darauf gekommen?

Wie bin ich darauf gekommen? Ja, zunächst liebe ich wohl Wortspiele.
Und dann: Fast bei jedem Besuch geht es um Wunden, wenn man genau hinhört. Und bei Wunden hilft es nicht, sie zu ignorieren. Den Finger hineinlegen erhöht den Schmerz erst einmal, meistens zumindest. Notwendigerweise, glaube ich. Kirche kann und muss aus meiner Sicht auch einen Beitrag dazu leisten, dass Menschen sprachfähig werden. Man kann das auch immer nur als „Jammern“ abtun, kann man machen, hilft aber nicht weiter. Keinem, wenn wir ehrlich sind. Oder man kann sie als offene Wunden wahrnehmen, die die Menschen mir hinhalten. Ich bin nun keine Ärztin und erst recht keine Wunderheilerin, will ich auch gar nicht sein. Aber ich kann die Menschen erst einmal ernst nehmen (zumindest das können wir machen), die Wunden sehen und hören, wenn sie davon erzählen. Ich kann den Menschen etwas anbieten, wo sie Trost und so etwas wie einen Heilungsprozess finden können. Die Andachten haben nicht den Anspruch, das „Problem“, das „Leid“ zu lösen – wie könnten wir das? Aber sie können Trauer und Schmerz teilen. Im ersten Jahr sagte ein Mann, der der Kirche nicht gerade nahe steht, um es vorsichtig zu sagen, zu mir: „Die Kirche geht dahin, wo es wehtut.“ Er war erstaunt darüber. Das war ganz offenkundig neu für ihn.

Veronika, ich danke Dir – für dieses Gespräch, für die Gedanken und unsere Begegnung.

Erik, ich danke Dir. Du bist eine Bereicherung für mich –  persönlich und beruflich.

Liebe Veronika, das kann ich so zurückgeben. Vielen Dank.

_____________________________________
Beitragsbild: Kirche in Brunow. © Tjark Hansberg. Die frühere Version dieses Beitrags zeigte irrtümlich die Kirche von Heckelberg-Brunow im Märkischen Oderland. Wir bitten dieses Versehen zu entschuldigen.
Bild im Text: Die Bücherei von Muchow, Anfangsstadium © Ute Thiesen

 

 

 

 

Jeremia. Zwei Predigten

Eigentlich hätte ich am letzten Sonntag auf der Kanzel stehen sollen. Aber dann grätschte eine gefährliche Metastase dazwischen. Die Predigt stand im Entwurf, und ich habe sie nun noch einmal aufbereitet. So wie hier abgedruckt hätte sie also aussehen können.

Daniel Birkner hat dann den kompletten Gottesdienst übernommen. Als ich meine Predigt überarbeitete, kannte ich die seine nicht. Jetzt finde ich es beeindruckend, wie gut sich beide ergänzen. Aber urteilt selbst. 

Die Last des Prophetenamts (Jeremias fünfte Klage)

7 Herr, du hast mich überredet und ich habe mich überreden lassen. Du bist mir zu stark gewesen und hast gewonnen; aber ich bin darüber zum Spott geworden täglich, und jedermann verlacht mich. 8 Denn sooft ich rede, muss ich schreien; »Frevel und Gewalt!« muss ich rufen. Denn des Herrn Wort ist mir zu Hohn und Spott geworden täglich. 9 Da dachte ich: Ich will seiner nicht mehr gedenken und nicht mehr in seinem Namen predigen. Aber es ward in meinem Herzen wie ein brennendes Feuer, verschlossen in meinen Gebeinen. Ich mühte mich, es zu ertragen, aber konnte es nicht. 10 Denn ich höre, wie viele heimlich reden: »Schrecken ist um und um!« »Verklagt ihn!« »Wir wollen ihn verklagen!« Alle meine Freunde und Gesellen lauern, ob ich nicht falle: »Vielleicht lässt er sich überlisten, dass wir ihm beikommen können und uns an ihm rächen.« 11 Aber der Herr ist bei mir wie ein starker Held, darum werden meine Verfolger fallen und nicht gewinnen. Sie müssen ganz zuschanden werden, weil es ihnen nicht gelingt.

(Hier geht es gleich zur Predigt von Erik Thiesen, die wieder kursiv gesetzt ist.)

Daniel Birkner: 

Liebe Gemeinde!

Jeremia leidet. Er leidet an seinem Leben, er leidet an seinem Gott, er leidet an seinem Auftrag, er leidet an sich selbst.

Er kann einem leid tun.

Wut und Verzweiflung stecken in seinen Worten. Er ringt mit seinem Gott.

„Ich bin zum Spott geworden. Sie lachen mich aus!“

Und er hat Angst: Sie wollen mich verklagen! Sie warten nur darauf, dass ich einen Fehler mache und falle. Sie wollen Rache an mir üben!

Er spricht das Klagegebet eines Menschen, der sich von Gott verlassen und sogar getäuscht fühlt. Und vielleicht die eine oder der andere von uns auch manchmal so.

„Du hast mich überredet. Ich habe das eigentlich nicht gewollt – und jetzt stehe ich hier und alles ist anders als gedacht. Als ich darüber nachdachte, dir zu folgen Gott, hatte ich mir erhofft, durch den Glauben ein erfülltes Leben zu finden, aber jetzt erlebe ich die andere Seite der Nachfolge. Ich leide unter meinem Auftrag.“

Um Nachfolge geht es heute. Und Jesus, das haben wir im Evangelium gehört, verschweigt nicht, dass es schwierig sein kann, dem eigenen Glauben zu folgen. Die Beschäftigung mit dem Glauben verändert einen Menschen: In seiner Wahrnehmung des eigenen Lebens, in der Wahrnehmung seiner Umwelt und der Menschen, in seiner Sicht auf das Leiden anderer. Wer sich mit dem Glauben beschäftigt, wer sich damit auch auf den Gedanken der Nächstenliebe einlässt, wird achtsamer und empfindsamer.

Das Leiden und das Kreuz Jesu – damit ist eine weitführende, tiefgehende Theologie verbunden – aber als erstes will es vielleicht erst einmal das: Mitgefühl erzeugen. Und zwar nicht mit Gott oder Jesus – es geht Jesus nie um sich selbst – sondern Mitgefühl mit Menschen, die leiden. Im Kreuz erblicken wir einen Auftrag: Nehmt das Leiden wahr. Verschließt euch nicht denen gegenüber, die Leid tragen.

Und dann entdecken wir das Leid so vieler Menschen auf unserer Erde und wissen erst einmal gar nicht, wie wir damit umgehen sollen. Am liebsten wieder weggucken.

Jeremia aber bekommt es nicht mehr hin, dass seine innere Stimme schweigt. Er wollte nicht mehr an Gott denken, er wollte nicht mehr predigen, aber es brannte in ihm wie Feuer, sagt er. Das Leid der anderen hat ihm weh getan. Er konnte und wollte dazu nicht mehr schweigen.

„Frevel und Gewalt!“ muss er rufen. Das bringt ihm keine Freunde ein. Im Gegenteil.

Die Menschen mögen es nicht, kritisiert zu werden. Der Überbringer schlechter Nachrichten wurde in der Antike auch schon mal deswegen umgebracht. Zumindest mundtot möchte man sie manchmal machen.

In den letzten Wochen dreht sich viel um Greta und die Schülerproteste bei der Aktion „Friday for future“.

Und die einen zollen ihr größten Respekt und die anderen überschütten das Mädchen persönlich wie auch die ganze Kampagne mit Hohn und Spott.

„Die gehen doch nur auf die Demo, um Schule zu schwänzen!“ „Die haben keine Ahnung von dem, was sie reden und fordern.“ Sie könnten doch auch am Wochenende demonstrieren“ schallt es ihnen entgegen.

Aber sie demonstrieren nicht aus Lust am Demonstrieren oder Schuleschwänzen, sondern aus Angst und Sorge. Und sie bekommen die Aufmerksamkeit nur durch den Rechtsbruch, es am Freitag zu tun. Und ich frage mich, warum die Schulen nicht aufspringen und das Thema aufgreifen? Warum nehmen sie das Interesse nicht auf, um mit ihren Schülerinnen und Schülern Projekte jetzt entwickeln, um dieses brennende Lebensthema zu vertiefen? Und dann sollten sie als Schulveranstaltung zu den Demos gehen. Wie oft habe ich in der Schule gesessen und mich gefragt: „Wofür brauche ich das in meinem Leben?“  Die Beschäftigung mit diesem Thema würde dem Lehrauftrag „Lernen fürs Leben“ und dem Bedürfnis der Jugendlichen entsprechen und es miteinander verbinden.

Viele Erwachsene stimmen nun den Jugendlichen und Kindern zu – ich tue das auch. Aber ich tue es auch mit einem schlechten Gewissen und mit Schuldgefühlen. Wir haben – wider besseren Wissens – zu wenig bisher gemacht. Wir sind zu selten wie sie auf die Straße gegangen, um zu protestieren und die Politik unter Druck zu setzen. Und zugleich ist ja nicht nur die Politik Schuld: Wir waren und sind in unserem Verhalten unverantwortlich gegenüber nachfolgenden Generationen gewesen.

Das kath. Hilfswerk Misereor hat im vergangenen Jahr eine Ausstellung mit 99 Karikaturen zu dem Thema: „Klima, Konsum und andere Katastrophen“ gemacht. Es war ein Blick in einen kritischen Spiegel. Eine Karikatur stellte einen Großvater mit seiner Enkeltochter dar. Sie stehen vor einer Landschaft mit kaputten Bäumen, und der Großvater sagt: „Ja meinst du denn im Ernst, da wäre auch nur einer noch in sein Auto gestiegen, wenn wir das gewusst hätten damals?“ Jetzt klagen die Jugendlichen uns an. „Ihr habt es gewusst und habt nichts getan!“

Martin Buber schreibt: „Die große Schuld des Menschen sind nicht die Sünden, die er begeht – die Versuchung ist mächtig und seine Kraft gering -, die große Schuld des Menschen ist, dass er in jedem Augenblick die Umkehr tun kann und nicht tut.“

Es gibt Menschen, die den Klimawandel immer noch leugnen, andere, die ihn relativieren: „Vor 30 Jahren dachten wir, dass das Ozonloch immer größer würde! Dass alle Wälder sterben. Ist doch alles nicht so schlimm gekommen.“ Das erinnert mich an den Evangeliumstext: „Ach nein, Jesus. Ich würde gerne was tun und dir folgen, aber nicht gleich!“ Wenn Jesus sagt: „Wer die Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes“, dann verstehe ich ihn so: „Sobald du die Wahrheit erkannt hast, ist es Zeit danach zu handeln.“

Die nachfolgende Generation hat Angst, dass Punkte in der Entwicklung des Klimas erreicht werden, in denen Prozesse in der Natur in Gang kommen, die unumkehrbar sind und zu dramatischen Veränderungen der Lebensbedingungen führen werden.

Dem Gewissen, dem Glauben, der inneren – auch anklagenden Stimme zu folgen ist nicht leicht. Nachfolge ist nicht immer leicht. Sie kann dazu führen, sich selbst hinterfragen zu müssen und auch die Welt mit anderen Augen zu beurteilen.

Was ich an Greta und all den demonstrierenden Jugendlichen bewundere, was ich an Jeremia bewundere – ist, dass er, dass sie es trotz des Gegenwinds, der ihnen entgegenschlägt, tun und dass sie nicht mehr schweigen wollen.

Das ist auch eine Form von Zivilcourage. Davon möchte ich lernen.

Das ist auch damit gemeint: den Hand an den Pflug zu legen und dann nach vorne zu sehen und was not ist zu tun.

Nachfolge braucht Mut.

Man muss kein Christ sein, um so zu handeln, zu fühlen und zu denken. Aber unser Glaube kann uns zu einer solchen kritischen Haltung führen und er kann uns den Mut geben, entsprechend zu reden und zu handeln.

Auch Jeremia kommt schließlich wieder dahin, doch zu hoffen: Gott wird bei mir sein wie ein starker Held.

Gegen die inneren Stimmen, die er hört und gegen die Stimmen von außen, die ihn einschüchtern wollen, hofft er, dass Gottes Stimme in ihm stärker sein wird. Und dass er Kraft aus dem Glauben bekommt.

Als zu Beginn der Woche in einer Diskussionsrunde bei Markus Lanz die Hamburger Schülerin, die hier die Demonstrationen organisiert, gefragt wurde, zu welchen Opfern sie bereit wäre, antwortete sie zunächst, dass sie vegan lebe und auf Flugreisen verzichten würde. Aber, und das fand ich noch viel interessanter, sie sagte, das seien aber keine Opfer für sie. Sie tue das ja für ihre Zukunft und ihr Leben.

Das ist Weisheit! Denn der Gedanke „sich einschränken zu sollen“ löst sofort Abwehr aus. Aber die Einsicht, dass es dem eigenen Leben dient, weckt Bereitschaft. Schon in der antiken Philosophie hat man über Glück so nachgedacht, dass man erkannte: es gibt Dinge oder Handlungen, die uns jetzt glücklich machen, aber auf Dauer Unglück bringen. Dem gegenüber gibt es andere Dinge, die nicht gleich, aber auf Dauer dann zu einem glücklichen Leben führen. Und natürlich ist letzteres vorzuziehen.

Wenn der Glaube in uns zur Anklage wird, dann nicht um uns zu sagen, wie schlecht wir sind, sondern um uns zu einem besseren, weil gerechteren und nachhaltigeren Leben zu locken. Der Glaube appelliert an unsere Kreativität, an unsere Phantasie, an unsere Liebe und Gefühl für Gerechtigkeit. Er macht uns, wie ich eingangs sagte, achtsam und mitfühlsam. Was wir tun, tun wir für uns, für die Generationen nach uns, für Menschen und Mitgeschöpfe, die andernorts schon unter dem Klimawandel leiden.

Die Schülerin wurde von Markus Lanz dann abschließend eingeladen, ein Schlusswort zu sprechen. Er sagte sinngemäß: „Du hast jetzt noch 1 ½ Minuten, alles zu sagen, was dir wichtig ist.“

Sie überlegte kurz, und antwortete: „Ich fasse es mal so zusammen: Wenn nicht jetzt, wann dann?“

„Wer die Hand an den Pflug legt und sieht zurück, ist nicht geschickt für das Reich Gottes.“

Amen

Erik Thiesen:

Liebe Gemeinde!

Jeremia gehört zu den bekanntesten Propheten und wird in der Bibel zu den drei „großen“ gezählt. Das liegt in erster Linie am Umfang seines Buches. Aber auch daran, dass er uns wie kaum ein anderer biblischer Autor auch persönlich ganz intensiv nahe kommt. In verschiedenen Kapiteln seines Buches öffnet er sich und sein Innerstes. Und was wir sehen und erleben – ist dunkel. Er ist enttäuscht, er leidet.

Er leidet an seinen Mitmenschen, die ihn ausstoßen und sogar verfolgen und ins Gefängnis stecken. Noch nicht einmal seine Familie hält zu ihm. Bis auf ganz wenige Freunde, Baruch gehört zu ihnen, ist er allein und vor allem einsam. Und das, weil er ihnen eine Botschaft zu verkünden hat, die er selbst nicht mag – die Botschaft vom Untergang Israels und Judas.

„Anstatt positiv zu denken“, sagen sie, untergräbt Jeremia die gesellschaftliche Moral. Und das gerade jetzt, im Angesicht der Gefahr aus Babylon, in der wir alle Kräfte mobilisieren müssen.“ – „Im Gegenteil“, meint Jeremia, „unterwerft euch dem Angreifer und überlasst den Rest dem Willen Gottes.“

Und nicht zuletzt leidet Jeremia an sich selbst, an seiner eigenen Schwäche: Er ist zu jung, zu ungeschickt, zu hilflos, um ein guter Prophet zu sein und das Wort Gottes wirksam zu verkünden. Eines Gottes, an dem er übrigens selbst leidet. Denn der hat ihm diese Unheilsbotschaft aufgetragen. Und ihm versprochen, bei ihm zu sein. Und ihn dann doch allein gelassen und an seine Feinde ausgeliefert.

Denkt Jeremia an Gott, dann nicht an Geborgenheit und Liebe, sondern an Dunkelheit und Einsamkeit. Und da stellt sich doch die Frage: Warum bleibt er bei ihm? Warum kehrt er ihm dann nicht den Rücken? Täte er das, er bräuchte keine Unheilsbotschaften mehr zu überbringen, das Verhältnis zu Familie, Freunden und Nachbarn könnte sich normalisieren. Jeremia würde es einfach besser gehen. Für den modernen Menschen wäre das völlig normal.

Aber nein, Jeremia bleibt. „Von Gott gepackt“, so nennt Elie Wiesel sein kleines Buch über „prophetische Gestalten“. Das gilt für Jeremia, besonders für ihn. Aber wie macht Gott das? In welcher Sprache spricht er zu Jeremia? Als Stimme aus dem Off? Welche Möglichkeiten hatte Gott damals, Menschen zu überzeugen? Oder waren die Menschen einfach naiver als wir heute?

Nun, möglicherweise hat sich auch gar so viel verändert seit damals. Vielleicht hat Jeremia gar keine sonderbaren Stimmen gehört. Vielleicht war seine Botschaft, seine Überzeugung wie bei mir entstanden: Durch Beobachtung der politischen Zustände, durch innere Überzeugungen, durch das geduldige Hören auf eine innere Erkenntnis.

Jeremia kam aus Anatot. Dieser Ort liegt eigentlich nicht weit weg von Jerusalem, etwa 7 km. Und doch war er ein Ort der Verbannung, man kam schlecht hin, und er lag ganz am Rand des Jerusalemer Verwaltungsbezirks. Jeremia war also nah genug am Zentrum der Macht, um sich ein Bild von der politischen Realität machen zu können. Aber er war nicht Teil des Systems, er konnte sich einen unabhängigen Blick bewahren. Und das machte ihn hellsichtig. Und wenn er den Willen und die Worte Gottes verkündet, dann klingt es wie: Seht ihr denn nicht, was vor Augen liegt? Sehr ihr nicht die übergroße Bedrohung durch die Babylonier? Woher eure katastrophale Überschätzung eurer Möglichkeiten?

Seine Gegner aber denken in anderen Kategorien. Sie sehen den Aufwiegler. Wenn wir jetzt nicht alle an einem Strang ziehen, sagen sie, dann erst kommt die Katastrophe. Wir brauchen keinen, der in Frage stellt. Keinen, der den Zweifel nährt. Wir wollen überleben, und wir werden es, denn Gott ist mit uns. Und die Ägypter sind es auch.

Und beide Seiten graben sich ein, kämpfen verzweifelt und mit allen Mitteln – wobei Jeremia natürlich in einer ganz schwachen Position ist. Das Einzige, was er auf seiner Seite hat, ist seine Überzeugung. Dass er letztlich auch politisch Recht haben wird, kann damals noch keiner wissen.

Und Jeremia ist auch keineswegs so selbstsicher, wie seine Botschaft manchmal glauben lassen will – wenn er mit großem Pathos verkündet: So spricht der Herr! Immer wieder fragt er nach dem Sinn des Ganzen, und er findet ihn nicht. Immer wieder sucht er nach sich selbst, sucht nach einer Gemeinschaft, die ihn trägt, und immer wieder wird er ausgestoßen, ja verfolgt. Nur wenige Freunde bleiben ihm. Denn wenn es darauf ankommt, will er auch keine Kompromisse eingehen. Er sucht nach der Wahrheit – oder besser: nach Wahrhaftigkeit in Zeiten der Unaufrichtigkeit.

Generationen von Predigern und Predigerinnen haben versucht, in Jeremias Fußstapfen zu treten. Sich nicht von der Politik oder der Wirtschaft einfangen zu lassen, sondern zu sagen, was ist. Ich denke da zum Beispiel an Margot Käßmanns Ausspruch: „Nichts ist gut in Afghanistan.“ Sie hat damit der offiziellen Lesart widersprochen und gerade von sogenannten Realpolitikern viel Gegenwind bekommen. Sie hat sich an ihrer Überzeugung orientiert, ihrer Ethik vom Frieden, ihrer Orientierung an Bibel und Glauben.

Trotzdem hat sie mich nicht überzeugt. Gerade weil sie sich so sehr an ihrer christlichen Botschaft orientiert hat. Zu Recht, so meine ich, muss sie sich fragen lassen, ob man die Taliban wirklich effektiv mit Gebeten bekämpfen kann. Und welche Strategie nun wirklich die richtige ist, kann man erst im Nachhinein sagen. Wenn überhaupt.

Ich glaube auch nicht, dass wir als Christinnen und Christen der Politik sagen müssen oder auch nur können, wie sie zu handeln habe – so gerne wir auch ein solches sogenanntes „Wächteramt“ ausüben würden. Ich glaube viel eher, dass wir gar keine Antworten geben sollten, sondern vielmehr die Fragen stellen, die sonst keiner stellt.

Martin Buber erzählte dazu einmal eine Geschichte: „Es ereignete sich, dass ich einmal den Besuch eines unbekannten jungen Menschen empfing, ohne mit der Seele dabei zu sein. Ich ließ es durchaus nicht an einem freundlichen Entgegenkommen fehlen, ich unterhielt mich mit ihm aufmerksam und freimütig – und unterließ nur, die Fragen zu erraten, die er nicht stellte. Diese Fragen habe ich später ihrem wesentlichen Gehalt nach erfahren, erfahren, dass er nicht beiläufig, sondern schicksalhaft zu mir gekommen war, nicht um Plauderei, sondern um Entscheidung, gerade zu mir, gerade in dieser Stunde. Was erwarten wir, wenn wir verzweifeln und doch noch zu einem Menschen gehen? Wohl eine Gegenwärtigkeit, durch die uns gesagt wird, dass es ihn dennoch gibt, den Sinn.“ Und was wir für den persönlich-seelsorglichen Bereich erwarten, gilt genauso für den politischen.

Wenn wir uns als Christinnen und Christen mit den Fragen unserer Gesellschaft beschäftigen, mit der Politik oder mit der Wirtschaft, dann ist unser Ort nicht der Tempel der Kirche – also nicht unser religiöser Elfenbeinturm, unser biblisches Sonderwissen. Dann ist es aber auch nicht der Tempel der Macht. Es ist nicht unsere Aufgabe, irgendeine politische Richtung zu unterstützen.

Dann ist es der Ort, der für Jeremia Anatot war: Nahe genug, dass wir dabei sind, mit den Menschen fühlen und denken, den politischen Wind spüren, dass wir die Fragen erahnen, die die Menschen nicht stellen und nicht zu stellen wagen. Und weit genug weg, dass wir uns nicht von ihnen vereinnahmen lassen. Dass wir uns die Zeit nehmen und geduldig sind, bis die Antworten vielleicht sogar von selbst kommen. Es ist der Vorteil einer Kirche, die kleiner und unbedeutender wird: Wir können auch einmal zu spät kommen. Die Hauptsache ist, dass wir dann das hilfreiche Wort zu sagen haben, das weiterbringt, den Frieden fördert, Menschen zusammenführt. Dann wird aus unserem Wort Gottes Wort.

Amen.

Über die Schönheit

Seitdem ich darauf gestoßen bin, dass das Wort „Gnade“ in den alten Sprachen hebräisch, griechisch und lateinisch viel eher mit „Wohltat“, besser noch mit „Schönheit“ zu übersetzen ist, lässt mich dieser Gedanke nicht mehr los. Heute las ich ein Interview mit dem britischen Neurobiologen Semir Zeki, der wissenschaftlich bestätigt, „dass Liebe und Schönheit eng zusammenhängen“. Durch beide Empfindungen wird nämlich dieselbe Region im Gehirn aktiviert. Sie „ist Teil eines größeren Komplexes, der sich mit Entscheidungen beschäftigt. Vor allem bewertet er Reize, die wir als angenehm oder als Belohnung empfinden“.

Im Grunde wissen wir das auch. Zum Beispiel, wenn wir mit Goethe „zum Augenblicke sagen: Verweile doch! du bist so schön!“ Oder mit Schlingensief: „So schön wie hier kann’s im Himmel gar nicht sein.“ Das Schöne ist gleichzeitig das Gute. Die Griechen hatten dafür sogar ein Wort: Kalokagathia. Das Ideal der Vollkommenheit.

Schönheit ist aber nicht nur eine emotionale und eine ästhetische Kategorie. Sie spielt auch in der Mathematik eine Rolle. Einstein meinte einmal zu seiner Formel E=mc², was so schön ist, könne nicht falsch sein. Und der Mathematiker Hermann Weyl meinte einmal, im Zweifelsfall würde er sich immer für die „schöne“ Theorie entscheiden.

Wenn es denn stimmt, dass Schönheit auch eine zentrale Eigenschaft Gottes ist, dann lag Paul Schulz vielleicht doch nicht so falsch, als er in den siebziger Jahren fragte: „Ist Gott eine mathematische Formel?“ Damals verlor er für diese These seine Stelle als Hauptpastor der Hamburger Kirche St. Jacobi. Heute würde man mit dem Thema vielleicht etwas gelassener umgehen.

Schönheit muss natürlich nicht immer glatt und einfach sein. Auch die runzligen Gesichter von alten Menschen können schön sein, eine karge Landschaft kann es – und für manche Menschen auch ein Musikstück von Karlheinz Stockhausen. Die Bibel aber bringt noch einen Aspekt ins Gespräch, der der griechischen Tradition von Schönheit eher fremd ist. Der „ideale Mensch“ ist für sie nicht derjenige, der dem „Ideal der körperlichen und geistigen Vortrefflichkeit“ nahekommt. Es ist der gekreuzigte Mensch, der leidende. In Gott kommt es zusammen: Die Schönheit und das Leiden. Wie aber verhält es sich im wirklichen Leben?

Vielleicht so: Weil Gott das Leiden kennt, sein Sohn – und damit er selbst – sogar gestorben ist, ist er mir nahe. Und ich brauche ihn in meiner Nähe, nicht nur, um mich bei ihm zu beklagen. Ich brauche ihn, damit er mir Türen öffnet hin zur Schönheit, zum Guten, hin zum Leben.

Kreuzige ihn!

 

Exerzitien 28. Teil, Bingen 2018, die „dritte Woche“.

Die Geschichte Jesu steuert auf ihren Höhepunkt zu. Die vorherigen Folgen erreicht man rechts über die Themensuche „Exerzitien“. Und noch ein Hinweis: Nachträglich habe ich an den „Gethsemane“-Beitrag einen youtube-Link zur Gethsemane-Szene aus „Jesus Christ Superstar“ hinzugefügt.

Es wurde rot im Osten. Die Priester gönnten sich mit Jesus eine Pause. Zeit für ein kurzes Nickerchen.

Ich wurde wach vom Geklapper der Marktstände und ging kurz nach draußen, um mir etwas zum Frühstück zu kaufen. Als ich zurück kam, sah ich, dass das Verhör nun erst richtig begonnen hatte. Andererseits hatte ich das Gefühl, dass es schon längst zu Ende war: Die Anklage stand ebenso fest wie das Urteil. Vielleicht meinten Kaiphas und die Priester noch, das Heft in der Hand zu haben. Sie redeten auf Jesus ein, der ab und zu einmal ruhig einen Satz dazwischen warf – der die anderen wiederum zu provozieren schien. Jesus war zu jedem Zeitpunkt der Souverän seines Handelns. Ich wandte mich ab.

Hier draußen war es ohnehin viel spannender. Einer der Priester war herausgekommen und hielt eine Ansprache. Menschen wurden aufmerksam. Er redete über Jesus: Wie der einst ein Hoffnungsträger war gegen die Römer und dann alle Erwartungen enttäuscht hatte. Ja, er hätte sich als Gott aufgespielt. Und das wäre nicht nur ein absolutes Sakrileg gewesen. Er habe damit auch nicht nur sich, sondern alles und alle in Gefahr gebracht. Es wäre ihm nie um Israel gegangen, sondern immer nur um sich selbst. 

Links neben mir begann einer zu sagen: „Kreuzige ihn!“ Rechts drüben nahm ein anderer den Ruf auf: „Kreuzige ihn!“ Täuschte ich mich oder hatte ich die beiden am Vorabend mit dem Priester tuscheln sehen? Möglicherweise war es ein abgekartetes Spiel, aber es wirkte. Denn es fielen andere ein, immer mehr, bis die Menge skandierte: „Kreuzige ihn!“ Fast hätte ich selbst mitgemacht – und dann fiel mir ein, dass es ja um Jesus ging.

Plötzlich setzte sich die Menge in Bewegung. Ich sah Jesus, wie er von Soldaten Richtung Prätorianerpalast abgeführt wurde, zu Pilatus. Ich wusste schon, was dort verhandelt wurde: Die Priester brauchten ein Todesurteil, das nur die Römer aussprechen konnten. Pilatus konnte damit einen Störenfried loswerden, und die Priester die soziale und religiöse Ordnung wiederherstellen.

Auch das Volk bekam seine Rolle. Als Pilatus fragte: „Wen soll ich diesmal zum Fest freilassen, Barabbas oder Jesus?“, riefen sie: „Barabbas!“ – „Und Jesus?“ – „Kreuzige ihn! Kreuzige ihn!“ Und Jesus wurde abgeführt.

Was hatten sie mit ihm vor? Ich erkannte einen der Soldaten, Camula, einen Kelten. Wir waren in Dalmatien in derselben Kohorte gewesen. „Camula!“, rief ich. Er erkannte mich auch. Und nach dem Austausch von ein paar Erinnerungen und Höflichkeiten ließ er mich durch. Und da hörte ich es auch schon: „…18 – 19 – 20…“ und das Klatschen einer Peitsche. Und dazu der Lärm feixender Soldaten. Sie machten sich einen Spaß daraus. Ich wollte schon dazwischen gehen, so wütend wurde ich. Doch Camula hielt mich zurück: „Willst du vielleicht auch die Peitsche spüren?“

Und dann sah ich, wie die Soldaten Jesus eine Dornenkrone auf den Kopf drückten. Ihm lief das Blut in die Augen. Sie gaben ihm noch einen Ast als Zepter in die Hand und spotteten. Ziemlich bald aber verloren sie das Interesse, als sie merkten, dass Jesus kaum eine Reaktion zeigte.

Sie übergaben ihn dem Kreuzigungstrupp. Diesen Soldaten sah ich an, dass sie es nicht zum ersten Mal machten. Jesus gaben sie einen Holzstamm, den sie nicht selbst tragen wollten. Als der ihm aber auf dem Weg entglitt, zwangen sie einfach einen Passanten zum Tragen. 

Auf mich achteten sie nicht sehr. Deshalb konnte ich zu Jesus aufschließen, legte seinen Arm um meine Schulter und fragte ihn: „War es das, was du gewollt hast?“

Jesus schaute mich verständnislos an. „Sowas kann kein Mensch wirklich wollen“, sagte er. „Aber es musste so kommen.“

Jetzt war es an mir, verständnislos zu schauen. Und Jesus fuhr fort: „Die Römer bauen ihr Reich auf ihrer Armee auf, auf Zwang und Unterdrückung. Und den Priestern ist die Ordnung und das Gesetz wichtiger als der Mensch. Ich habe versucht, anders zu reden und zu leben. Ohne Kompromisse.“

Dann kamen wir an der Hinrichtungsstätte an, die ich ja schon kennengelernt hatte: Golgata, die Schädelstätte. Professionell legten die Soldaten Jesus auf den Balken, nagelten ihn fest und hoben ihn an einen Ölbaum. Jesus biss sich auf die Zähne vor Schmerz. Dann wurden noch zwei andere Männer gekreuzigt. Das Ganze dauerte keine zehn Minuten.

Dafür wurden die nächsten Stunden umso länger. Ich konnte nichts mehr tun. Die Soldaten hielten uns von Jesus fern. Uns: das waren außer mir und Johannes, der als einziger von den Jüngern wiedergekommen war, eine Reihe von Frauen, die ich schon vor dem Palast des Kaiphas gesehen hatte.

Stöhnend unterhielt sich Jesus mit seiner Mutter. Einmal rief er: „Mein Gott, wo bist du?“ Und schließlich, nach endlosen drei Stunden, sagte er: „Es ist vollbracht.“ Sein Kopf kippte zur Seite, und wir wussten: Jesus war gestorben. Es war dann doch recht schnell gegangen. Andere hatten dem Vernehmen nach tagelang gelitten. Um das Ganze abzukürzen, brach man den anderen beiden die Beine, damit sie schnell erstickten.

Schließlich nahmen wir Jesus vom Kreuz, brachten ihn zum Grab des Joseph von Arimathia. Und ich richtete mich auf eine lange Nacht ein.

_____________________________________________
„Die Evangelien sind Passionsgeschichten mit ausführlicher Einleitung“, hat der Theologe Martin Kähler einmal geschrieben. Und von den Märtyrern an bis hinein in viele unserer Kirchenlieder – Paul Gerhard an erster Stelle – sind wir gewohnt, vom Leiden Christi die schlimmsten Vorstellungen zu haben. Mel Gibson hat sie ins Bild gesetzt. Und dauert die Passionszeit nicht auch ganze sieben Wochen?

Mitnichten. Ich war erstaunt, als ich mir die letzten Tage Jesu vergegenwärtigte: Gelitten hat er, zumindest zeitlich gesehen, nur sehr wenig. Er wird gegeißelt, ja. Aber ob er wirklich 39 Schläge bekommen hat? Das war eine jüdische Regelung, die Römer haben ihn vielleicht weniger, vielleicht auch mehr gequält. Und eine Dornenkrone bekam er auch. Aber das Ganze kann nicht länger als eine Stunde gedauert haben. Und Lukas kennt weder Geißelung noch Dornenkrone…

Das Schlimmste waren zweifellos die drei Stunden am Kreuz. Das muss man nicht kleinreden. Allerdings: In Syrien, in Guantanamo, Abu Ghreib und unzähligen Gefängnissen dieser Welt wurde und wird (!) deutlich mehr und vor allem deutlich länger gelitten. Und wie steht es bei uns in den Krankenhäusern und Altenheimen? Auch mit den besten Medikamenten – die es glücklicherweise gibt – bleiben noch genug Schmerzen, die nicht so einfach weggehen.

Dazu meinte Pfr. Mückstein: Bei Jesu Passion geht es nicht in erster Linie um Leiden, sondern um Hingabe. Ich bin geneigt ihm zuzustimmen.

Worum es aber bei Passion, Tod und Auferstehung „wirklich geht“? Darüber waren schon die biblischen Autoren durchaus unterschiedlicher Meinung.

________________________________
Beitragsbild: Kreuzigung, von Mihály von Munkácsy – Munkácsy Foundation Info Pic, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=17783166

Unter Ölbäumen

Exerzitien 21. Teil, Bingen 2018, die „dritte Woche“.

Nach zwei Jahren nehme ich die Exerzitien wieder auf. Und obwohl wir die „2. Woche der Exerzitien“ – der „Ruf des Königs“ – nicht ganz hatten abschließen können, beginnen wir mit der „3. Woche“, der Passion Jesu. Um in die Geschichte einsteigen zu können, schlägt Pfr. Mückstein vor, mit den drei „Leidensankündigungen“ zu beginnen. Sie stehen bei Matthäus 16,21-23; 17,22-23 und 20,17-19, bei Markus 8,31-33; 9,30-32 und 10,32-34 sowie Lukas 9,22+44-45 und 18,31-33.

Eine der Kernaufgaben während der Exerzitien ist es, sich die damalige Situation so genau wie möglich vorzustellen – wie es z.B. im Garten Gethsemane riecht, welche Geräusche im Hintergrund zu hören sind, was die Menschen sagen, ihre Mimik und Haltung… – und dann den eigenen Ort in der Geschichte zu finden. Deshalb gleichen die folgenden Geschichten auch eher einem Roman oder Reisebericht als einem relativ kurzen, inhaltlich möglichst auf den Punkt gebrachten Beitrag. Und wie in früheren Beiträgen auch habe ich die Ausführungen aus meinem Exerzitien-Tagebuch kursiv gesetzt.

Also machen wir uns auf die Zeitreise ins Römische Reich. Zeit: 785 ab urbe condita (nach damaliger römischer Zeitrechnung; für spätere Generationen das Jahr 32). Ort: Irgendwo am östlichen Rande des Imperiums.

Unter Ölbäumen

„Du Satan“, fuhr der Meister seinen Jünger an. Der wiederum war völlig konsterniert. Simon gehörte zu den eifrigsten der kleinen Gruppe, die an einem freien Platz unter den Olivenbäumen zusammensaß. Gerade hatte er seinem Meister versichert, er sei „Gottes Sohn“, und der hatte ihn daraufhin „Petros“ genannt, einen Felsen – was immer die beiden auch damit gemeint haben mochten, es war bestimmt anerkennend. Und nun dieser Vorwurf! Und nur, weil Simon augenscheinlich verhindern wollte, dass sein Meister stirbt.

Wie war ich bloß in diese Situation hineingekommen?

Zwei Monate vorher hatte ich mich in Rom eingeschifft und war vierzehn Tage später in Caesarea gelandet. Auf der Überfahrt hatte ich mich mit einem Juden angefreundet, der mir von einer interessanten Gruppe erzählte. Sie verehrte einen Jesus als ihren Lehrer. Einige von ihnen glaubten und hofften, er werde alle Römer verjagen – aber nicht mit Waffengewalt, wie es die Zeloten praktizierten. Er setzte auf ein Programm der Gewaltlosigkeit. 

Es dauerte dann noch einen Monat, bis ich diese wandernde Gruppe fand. Und jetzt zog ich schon einen Monat mit ihnen herum. Wir waren dabei ziemlich weit in den Norden gekommen, bis zu den Quellen des Jordans, in die Nähe einer Stadt, die ebenfalls Caesarea hieß. Und da sie im Gebiet des Philippus lag, trug sie auch seinen Namen.

Wir hatten es uns in einem Olivenhain bequem gemacht, als Jesus fragte: „Was sagen die Leute über mich?“ Seine Jünger meinten, er sei Elia, Jeremia oder Johannes der Täufer, alles bekannte historische und zeitgenössische jüdische Persönlichkeiten. Simon aber setzte noch einen drauf und meinte: „Du bist der Gesalbte, der Sohn Gottes.“ Das schien Jesus zu freuen, denn er machte seinem Jünger einige Komplimente.

Nach dem Abendessen dann meinte Jesus: „Ich muss euch noch etwas sagen.“ Er wartete, bis alle still waren, und dann meinte er: „Wir werden nach Jerusalem gehen. Dort werden die Verantwortlichen den Menschensohn gefangen nehmen. Er wird viel leiden müssen, sterben und nach drei Tagen wieder auferstehen.“ Woraufhin es Simon entfuhr: „Das werde ich zu verhindern wissen!“ Und Jesus ihn mit dem Wort „Satan“ beschimpfte, in der Vorstellung mancher Juden so etwas wie der Gegenspieler Gottes.

Danach stand Jesus abrupt auf und verschwand unter den Olivenbäumen. Wir schauten uns an. Andreas ging zu seinem Bruder Simon und redete leise mit ihm.
„Was war denn das?“, fragte ich. Aber keiner gab mir eine Antwort.
„Und was meint er mit dem Menschensohn?“
„Wir vermuten“, antwortete Johannes, „das hat etwas mit dem Propheten Daniel zu tun. Dort steht: ‚Es kam einer mit den Wolken des Himmels wie eines Menschen Sohn‘ (7,13). Manchmal fühlt sich Jesus offenbar auch wie ein Gesandter des Himmels. Und dann redet er gerne von sich als Menschensohn.“
Und dann hörte ich Philippus, wie er fast träumerisch sagte: „Jetzt hat er wieder eine Vision gehabt von dem, was auf ihn zukommt. Er hat die Stimme Gottes gehört.“
Woraufhin Jakobus meinte: „Besonders souverän geht er aber nicht damit um. So außer sich habe ich ihn selten erlebt. Es war ja geradeso, als ob er Angst gehabt hat vor Simon.“
Und Nathanael ergänzte: „Die Weissagung hat er auch so seltsam unbetont gesprochen, so teilnahmslos. Als ob er nicht er selbst wäre.“
„Ich sag es ja“, warf Philippus dazwischen, „die Stimme Gottes.“ Er war sichtlich begeistert, aber so ziemlich als einziger. Die anderen wirkten eher verunsichert und ängstlich.
„Einer muss mit ihm reden“, meinte Judas schließlich. Aber keiner bewegte sich.
„Gut, ich mache es“, sagte ich schließlich. „Aber nicht alleine. Johannes, kommst du mit?“
Johannes nickte. 

Das Gespräch habe ich erst am nächsten Tag aufgezeichnet. Deshalb erscheint es auch im nächsten Blog.

Das Buch mit den sieben Siegeln

Mein Dank gilt allen, die bei „Zwischen Himmel und Erde“ über den Predigttext Offenbarung 5, 1-5 mitdiskutiert haben. Mein Dank gilt Timo Milewski, der den Gottesdienst im Immanuel-Haus gestaltete, Elme Brinkmann-Conring für die Musik, Reinhard Münster als Küster und allen, die dabei waren und mir einfach durch ihr Dasein Kraft und gute Laune gegeben haben.

Meine Aufgabe war es, die Begrüßung und die Predigt zu halten:

ImmanuelBegrüßung

Liebe Gemeinde, zu diesem Gottesdienst am 1. Advent begrüße ich Sie herzlich gemeinsam mit Timo Milewski. Timo wird den Gottesdienst mit dem Abendmahl gestalten, ich werde nur die Predigt halten. Der Grund ist die Chemotherapie, die morgen für mich in die 2. Hälfte geht. Wegen der Gefahr einer Infektion muss ich auch körperlich möglichst Abstand halten und bitte darum um Verständnis.

Advent – die Zeit der Erwartung, eine Zeit der Sehnsucht: dass in der Dunkelheit Lichter angezündet werden und es hell wird in unserer Welt und in unserem Leben. Dass wir, wenn es kalt wird, näher zusammenrücken und uns gegenseitig wärmen. Dass in einer Welt des Unheils das Heil größer und stärker sein möge. Weiterlesen

Hiob. Ein Mailwechsel

auch 6. Teil der Reihe über die Exerzitien. Bingen, 21. Juli 2016
Die vorherigen Beiträge sind unter dem Thema „Exerzitien“ versammelt.

Das Buch Hiob ist eines der tiefsten, interessantesten und vielschichtigsten Bücher im Alten Testament – kein Wunder, ist es doch selbst aus vielen Schichten entstanden. Es setzt sich mit der alten und immer wieder aktuellen Frage auseinander, warum guten Menschen Böses widerfährt.

Es beginnt mit einem seltsamen „Prolog im Himmel“. Weiterlesen