Parallelgesellschaft

Nach meiner privaten Theorie hat der Norddeutsche an sich seinen Wikingerglauben nie ganz abgelegt. Die Götter unserer Vorfahren waren, im Unterschied zum Gott der Bibel, grundsätzlich bedrohlich. Wenn sie auftauchten, wurde es gefährlich: auf See, in der Schlacht, bei der Ernte, in der Nacht. Im besten Fall bekam man später einen anständigen Platz in Walhalla. Die Menschen wurden von Geistern geängstet und gequält. Entsprechend hielt man sich tunlichst von ihnen fern. Und die Geistlichkeit hatte genau diese Aufgabe, sie zu bannen – oder, wenn sie schon mal da waren, sie zu besänftigen.

Warum also, so die norddeutsche Überzeugung, muss ich zur Kirche, wenn es mir gut geht? Erst zu den prekären Zeiten wird sie gebraucht: Bei Geburt und Tod, in der Pubertät oder bei der Hochzeit, bei Ernte und dann, wenn es dunkel ist: im tiefen Winter. Dann ist die Kirche traditionell auch knallvoll. In der modernen Gesellschaft haben sich die Bedingungen gewandelt, das Prinzip aber ist geblieben – wenn man sich z.B. den Boom der Schulanfängergottesdienste anschaut; dieser Lebensübergang ist ja vor allem für die Eltern angstbesetzt.

In Brinkebüll aber ist diese Naturerfahrung noch unmittelbar. Die Nordfriesen, so erzählt Dörte Hansen in der „Mittagsstunde“, seien „gegen jeden Glauben imprägniert“. Alles Göttliche liefe ab an ihrem Fell wie Wasser am Gefieder einer Gans.

Gemeint ist natürlich der Gott der Bibel, den die Pastoren den Menschen nahe bringen wollen. Die Menschen aber glauben an einen anderen Gott, der näher an ihren eigenen Erfahrungen ist: Unberechenbar und bedrohlich wie die Natur. Und der geht es „gar nicht um das bisschen Mensch“, wie Dörte Hansen am Anfang und am Ende ihres Buches betont. Der Mensch kommt und geht, aber größer noch, wichtiger und beständiger ist das Altmoränenland, der Wind, die Natur.“ Und so hatte „der Gott, an den Sönke Friedrichsen glaubte, nicht viel Väterliches, und besonders gnädig war er auch nicht, nur gerecht“. So einer überhört am besten die lebensferne Botschaft des fremden Evangeliums: „Verrückte und Pastoren, einfach klappern lassen.“ Evangelium auf der Geest ist das, was hilft, in diesem Leben zurecht zu kommen. Und so wird das biblische Sabbatgebot denn auch zur „Middachstunde“, zur heiligen Ruhe mitten am Tag: An ihm darfst du keine Arbeit tun: du und dein Sohn und deine Tochter, dein Sklave und deine Sklavin und dein Vieh und dein Fremder in deinen Toren. (2. Mose 20,10)

Es gab allerdings auch Pastoren, die den Zugang zu ihrer Gemeinde fanden. Sie ehrten die Alten mit ihrem Besuch bei runden Geburtstagen. Sie nahmen selbstverständlich am Beerdigungskaffee teil. Sie sagten nicht nur Moin, sie sprachen platt und sahen, wann ein Schwein reif für den Schlachter war. Sie achteten auf die Moral in der Gemeinde, sahen dann aber nicht mehr so genau hin. Und wenn man dann mal zur Kirche ging, hörte man lebensnahe Predigten, nicht so pastoral.

Pastor Ahlers hat diesen Ton offensichtlich nicht ganz getroffen. Sein Zuhause war eher das Studierzimmer. Bis zuletzt hoffte er „mit aller Demut und Sanftmut, mit Langmut, die Seelen zu erquicken und sie aus den dunklen Tälern zu befreien“. Die Seelen aber hatten andere Sorgen.

In meiner Heimatgemeinde Toestrup gab es nun vor hundert Jahren einen Pastor, der sich noch einmal in ganz anderer Weise den Erwartungen widersetzte. Ja, er machte unzählige Hausbesuche. Aber sein Ziel war kein unverbindlicher Klönschnack. Er wollte Seelen zu Jesus bekehren. Er achtete auf die Moral in der Gemeinde und sah auch im Nachhinein genau hin. Als Christ, so seine Botschaft, spielt man keine Karten, man trinkt nicht und lässt die Ehefrau des Nachbarn in Ruhe.

Und siehe, einige Familien ließen sich überzeugen. Zumal dieser Schritt auch mit wirtschaftlichen Vorteilen verbunden war: Man hatte morgens beim Melken einen Kirche Toestrupklaren Kopf, nicht schon die Hälfte der Haushaltskasse verspielt, und das Verhältnis zum Nachbarn war wesentlich gelassener geworden.

Der Kröger im Nachbardorf schenkte nur noch Nichtalkoholisches aus und stellte seinen Gastraum dem kirchlichen Posaunenchor zur Verfügung. Und die Gottesdienste waren auch an normalen Sonntagen gut besucht.

Als mein Vater in der Gemeinde seinen Hof baute, verstand er sich besonders gut mit diesen Familien. Er selbst gehörte zur Gemeinschaft in der Landeskirche, einer Art Freikirche innerhalb landeskirchlicher Strukturen. Und auch meine Mutter gehörte zu den Frommen im Lande. Sie war geprägt von der Breklumer Mission, die 1876 vom Pastor Christian Jensen gegründet worden war. In ihrem Heimatdorf Vollstedt gab es einen aktiven „Missionsnähkreis“, jedes Jahr räumte ein Bauer seine Scheune für das „Missionsfest“, und meine Großmutter hielt am Sonnntagnachmittag die „Sonntagsschule“, in der sie uns und Kindern aus dem Dorf biblische Geschichten beibrachte.

In dieser Welt bin ich groß geworden. Wir lebten in einer Parallelgesellschaft, gut vernetzt bis nach Hamburg – in einer Zeit, in der die meisten Angeliter knapp hinter die Schlei guckten, durchaus ungewöhnlich. Unser Jugendchor kooperierte mit einem anderen aus Altona, und die „Gemeinschaft“ veranstaltete ihre Jahrestreffen in den Holstenhallen in Neumünster. Viele von ihnen sahen wir auf dem Jahresfest des „Elisabethheims“ wieder, einem Waisenhaus in Havetoft zwischen Flensburg und Schleswig. Und beim Jahresfest der Breklumer Mission kamen Delegierte aus der ganzen Welt ins dörfliche Schleswig-Holstein. Mag die Frömmigkeit auch eher eng gewesen sein, der Blick ging weit über den Tellerrand hinaus.

Auch über den der eigenen Gemeinschaft. Bewusst engagierten sich viele Mitglieder in Kirchenvorständen und leitenden Gremien der Landeskirche – durchaus mit missionarischem Impuls: Nach unserer Vorstellung waren die „Kirchenchristen“ mit dem rechten Evangelium eher unterversorgt und von modernen Theologien unterwandert. Das führte manchmal zu harten Auseinandersetzungen und Abgrenzungen, aber auch zum Austausch und besserem Verständnis füreinander.

Es war nicht immer leicht, in einer solchen Parallelgesellschaft zu leben. Wir waren vielleicht nicht unbedingt Außenseiter, aber doch etwas Besonderes – und fühlten uns auch so. Wenn andere erzählen, wieviel Spaß sie in ihrer Jugend gehabt, auf Feten geknutscht und am Strand  abgehangen haben, dann erzähle ich von der Arbeit in der Ernte und dem Schülergebetskreis.

Andererseits habe ich von der frommen Atmosphäre sehr profitiert. Wir fragten immer nach den wirklich wichtigen Dingen: Gibt es einen Gott, einen Sinn? Was hält unsere Welt zusammen? Wie wollen wir leben? Und Spaß hatten wir durchaus auch.

Und dann ging mein Weg ja weiter. Im Studium, in der Ferne konnte ich dann für mich ganz neue Erfahrungen machen.

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Das Beitragsbild zeigt die Nicolaikirche zu Bredstedt, zu deren Kirchengemeinde Högel – und damit wohl auch Brinkebüll – gehört: Von Goegeo – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3838642
Bild im Text: St. Johanniskirche zu Toestrup © Erik Thiesen

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11 Gedanken zu “Parallelgesellschaft

  1. menuchaprojekt schreibt:

    Es kommt immer auf die Gemeinschaft vor Ort an, ob sie zu einer Parallelgesellschaft wird. Ich habe in meinen jungen Jahren wirklich erlebt, was Nachfolge Jesu und auf Menschen zugehen bedeutet (auch wenn meine Reise nicht in der Gemeinschaft endete). Gruss Hendrik be blessed

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    • gebrocheneslicht schreibt:

      Ja, die eine Gemeinschaft integriert sich stärker als eine andere. Und auch die „Gemeinschaft in der Landeskirche“ zeigt ja schon mit ihrem Namen, dass sie sich vom Mainstream nicht trennen will – in einer Zeit, in der die Landeskirche selbst zum Mainstream gehörte. Trotzdem würde ich sagen, dass die „Frommen im Lande“ eine Gesellschaft neben dem Mainstream aufgebaut haben – mit eigenen Werten, Netzwerken und Strukturen. Die Zusammenarbeit mit den Gremien der Landeskirche hatte zum Ziel, eben diese mit den eigenen Werten zu beeinflussen und zu verändern.

      Die Landeskirche selbst war nach meinem Dafürhalten immer ein Teil der Mainstream-Gesellschaft. Sie erfüllte einen besonderen Zweck – moralische Instanz oder Legitimation, Institut für religiöse Angelegenheiten. Seit dem 19. Jahrhundert und in den letzten Jahrzehnten immer schneller driften Kirche und Gesellschaft auseinander. Und es ist spannend, in welche Richtung die Reise gehen wird, wenn „die Gesellschaft“ immer weniger religiöse Bedürfnisse anmeldet oder bei anderen Anbietern befriedigt.

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  2. Ralf Liedtke schreibt:

    Nun gut, aus Deiner Sicht auf das Vergangene, lieber Erik, waren das vielleicht mit Blick auf den den Rahmen der Institution Kirche „Parallelgesellschaften“. Aber bewegten sie sich nicht trotzdem auf einer gemeinsamen Grundplattform mit gemeinsamen Grundwerten, die sie „nur“ unterschiedlich für sich interpretierten. Natürlich kann auch das zu Unversöhnlichkeit bis Hass auf den anderen führen, bei gleichzeitiger „Nähe“. Paradox? Die Geschichte lehrt uns Anderes.

    Was Du treffend beschreibst: Die Institution Kirche ist und war immer oder zumindest meist bewahrender und fördernder Teil der Mainstream-Gesellschaft.Und neigt dazu, auszugrenzen – unabsichtlich wie auch mit Absicht. Schade, weil die Grenzen zumindest aus meiner Sicht zu eng gezogen werden. Und ist oder kann das Ihr Zweck sein? Für mich droht sie damit in Beliebigkeit aufzugehen und auch Kante zu verlieren.

    Das Thema „Parallelgesellschaften“ beschäftigt mich sehr, wie Du weißt. Für mich sind die Fragen hier ganz andere. Diese würde ich gern offen diskutieren. Leider fehlt mit in Deinem Beitrag der Blick hier auf heute.

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    • gebrocheneslicht schreibt:

      Wikipedia definiert eine Parallelgesellschaft als „gesellschaftliche Selbstorganisation einer Minderheit, welche nicht den wahrgenommenen Regeln und Moralvorstellungen der Mehrheitsgesellschaft entspricht und von dieser mitunter als ablehnend empfunden wird“. Dies trifft für mich eindeutig auf die „Frommen im Lande“ zu, ebenso Freikirchen und die katholische Kirche. Ihr Ziel ist es durchaus, für die Gesellschaft zu wirken. Aber nicht Teil von ihr zu werden – bis hin zur Verteidigung der eigenen Gerichtsbarkeit. Dabei besteht der Unterschied zu ihr noch nicht einmal in konkreten moralischen Werten; die können sich durchaus mehr oder weniger überschneiden. Es geht um die Begründung: Religiöse beziehen sich auf ein altes Buch und die Tradition, die Moderne auf den vernünftigen Diskurs. Die stehen dann fassungslos vor der Tatsache, dass jemand Homosexualität ablehnen kann, weil es jemand vor 2000 Jahren einmal gemeint hat.

      Für die evangelische Kirche ist mein Eindruck nicht ganz so eindeutig. Auf der einen Seite beziehen wir uns auf die Bibel und feiern Gottesdienst. Auf der anderen Seite verfolgen wir das Gemeindekonzept „Caring Community“: dass wir uns mit den Akteuren im Stadtteil vernetzen und ein Teil des Gemeinwesens werden. Und nicht wenige in der Kirche fordern, dass wir uns stärker um das „Eigentliche“ kümmern – eben das, was uns von der Gesellschaft unterscheidet.

      Eine Parallelgesellschaft bietet den Vorteil, die eigenen Überzeugungen konfliktfreier leben und entwickeln zu können. Sie fängt Diskriminierungserfahrungen auf, und ihre Institutionen sind u.U. besser in der Lage, den eigenen Mitgliedern zu ihrem Recht zu verhelfen (siehe Eingangssequenz Der Pate I). Das kann durchaus die Überzeugung einschließen, dass es der Mehrheitsgesellschaft gut tun würde, die Vorstellungen und Regeln der Minderheit zu übernehmen. Wir waren damals zutiefst davon überzeugt, dass die Gesellschaft an der sexuellen Promiskuität zugrunde geht, dass die psychischen Probleme im Grunde an einem gebrochenen Verhältnis zu Gott liegen (Sünde) und alles besser werden würde, wenn wir uns an dem Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe orientieren würden.

      Und natürlich waren wir auch daran interessiert, unsere Institutionen in die Gesellschaft zu integrieren: Der Schülerbibelkreis war Teil der Schulkultur und traf sich mit höchster Genehmigung jeden Tag zum Gebet im Krankenzimmer. Wir gründeten auf dem Land Jugendkreise mit dem doppelten Ziel: Freizeitgestaltung und Mission. Wir spielten Skat und tranken Kirseberry – aber wir zogen auch klare Grenzen.

      Dir, lieber Ralf, fehlt „der Blick hier auf heute“. Mir hilft der Blick auf damals, das Heute besser zu verstehen. Wir denken bei Parallelgesellschaften wohl an Rechte und Moslems, AfD und Salafisten. Ihre Moralvorstellungen, vor allem aber auch ihre Begründungen sind mir fremd, sowohl die nationalistische Ideologie wie der Koran. Aber auch in mir steckt eine Menge Parallelgesellschaft.

      Du beklagst, dass die Kirche ausgrenzt. Aber das muss sie, will sie nicht gezähmter Teil der Mainstream-Kultur sein, bleiben oder werden – so wie Söder es gerne gehabt hätte. Dann hätte sie aber nie und nimmer mehr „klare Kante“ zeigen können.

      Die Mehrheitsgesellschaft begreift die Parallelgesellschaft immer als Gegnerin, weil sie die eigene Lebensweise infrage stellt. Muss das so sein?

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  3. Ralf Liedtke schreibt:

    Danke, lieber Erik, für die ausführlichen Antworten! Du näherst Dich dem Begriff der „Parallelgesellschaft“ auf eine wirklich interessante Weise. Manchmal ist es echt hilfreich, die Definitionen an Ihrer Quelle noch einmal nachzuschlagen.

    Deine Gedankengänge sind spannend, öffnen den Blick. Ich kann diese gut nachempfinden und gestehe ein, dass das, was ich im Kopf hatte, möglicherweise oder auch tatsächlich eine Verkürzung und zu starke Einengung auf den jetzigen dominierenden Sprachgebrauch ist. Asche auf mein Haupt!

    So gesehen lebte auch ich in meiner Jugend in einer deutlichen Parallelgesellschaft, mit dem klaren belehrenden, moralischen wie politischen Anspruch, die Welt grundlegend zu verändern und alle Menschen glücklicher zu machen. Die Slogans „Trau keinem über 30“ oder „In den Talaren der Muff von 1000 Jahren!“ spiegelten dies deutlich wieder.

    So muss man diesen Begriff wirklich weiter fassen, differenzieren, um sauberer zu argumentieren. Ich denke einfach, ohne dies hier im Einzelnen weiter auszuführen, dass „Parallelgesellschaften“ sehr bereichernd für die Entwicklung einer Gesellschaft wirken und Impulse setzen können. Sie können aber auch starke Fliehkräfte entwickeln und die Gesellschaft spalten, wenn es an einer verbindenden Grundlage fehlt, die für eine gewisse Stabilität in der Instabilität sorgt.

    Die heutige Main-Stream-Kultur ist für mich mit ein Resultat der 68-Bewegung und ihren Fortsetzungen, Eine „Parallelgesellschaft“ hat sich evolutionär im Laufe der Zeit durchgesetzt und ist heute selbst zur dominierenden und teilweise auch ausgrenzenden Kraft geworden. Ein gesunder Konservatismus oder auch Liberalismus hat es so verdammt schwer, sich überhaupt noch Gehör ohne schnelle und Prompte Abwertungen zuverschaffen und ist auch zu einer „Parallelgesellschaft“ geworden. Auch ich bin hier wieder einmal Teil einer Parallelgesellschaft und dies fühlt sich für mich sogar gut an.

    Damit kann ich leben. Nicht leben könnte ich in einer Gesellschaft, die unsere Demokratie, die erkämpften Rechte und Freiheiten, auf den „Müllhaufen“ der Geschichte wirft, egal von welchen treibenden Kräften, rechten wie linken Populisten und „Rückwärtsgewandten“ oder auch „Gotteskriegern“ in welcher Form auch immer. Da sind wir gedanklich sehr miteinander, alles andere hätte mich auch überrascht. „Wehrhafte“ Demokratie trifft für mich den Kern – war es Willy Brandt, der diese Worte so treffend formulierte?

    Zu unserer Kirche bin ich anderer Meinung. Oder ich habe Dich falsch oder „verkürzt“ verstanden. Die evangelische Kirche verkörpert für mich in ihren leitenden und mdeial wirksamen Organen die Main-Stream-Kultur par excellence. Dies ist sicher Spiegelbild der Mehrheit ihrer Mitglieder. Aber sie grenzt implizit wie explizit aus ihrer Sicht nicht tolerable Meinungen aus. Sie ist für mich real ein gezähmter Teil der Main-Stream-Kultur, die Herren Söder oder auch Merz sind es eben nicht, ohne dass ich für alle ihrer Meinungen eine Lanze breche. Vielleicht haben auch diese etwas zu sagen, was einen wirklichen Dialog wünschenswert machte? Die Diskussion hier verfolgt uns schon länger. Mir fehlt in Teilen eine „klare“ Kante unserer Kirche und ich wünschte mir mehr wirkliche Offenheit für andere Positionen.

    Und damit bin ich bei dem, womit Du Deine Gedanken zum Abschluss brachtest: „Die Mehrheitsgesellschaft begreift die Parallelgesellschaft immer als Gegnerin, weil sie die eigene Lebensweise infrage stellt. Muss das so sein?“

    Ich fürchte ja! Aber auch Demokratie ist nicht vollkommen, weil wir Menschen es nicht sind. Und trotzdem leben wir, global betrachtet, in einer Gesellschaft und einem Land, das hier mit wenigen anderen auf der Welt seines Gleichen sucht.

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    • gebrocheneslicht schreibt:

      Zu unserer Kirche bin ich anderer Meinung … Die evangelische Kirche verkörpert für mich in ihren leitenden und medial wirksamen Organen die Main-Stream-Kultur par excellence.

      Eine Parallelgesellschaft kann für mich durchaus die Kultur des Mainstreams abbilden. Die Kirche wird zur Parallelgesellschaft, wenn und weil sich das Religiöse, das für sie grundlegend ist, aus dem Mainstream verabschiedet.

      sie grenzt implizit wie explizit aus ihrer Sicht nicht tolerable Meinungen aus.

      Könntest Du dafür Beispiele bringen? Mir fällt nur die AfD ein, die vom Kirchentag und aus manchen Kirchenvorständen ausgeschlossen wird. Aber auch das wird z.T. heftig und kontrovers diskutiert. Und wie geht es zusammen mit Deiner Wahrnehmung, dass Dir

      in Teilen eine „klare“ Kante unserer Kirche

      fehlt?

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      • Ralf Liedtke schreibt:

        Ich fürchte, dass einzelne Beispiele vermutlich auch nicht zum besseren Verständnis beitragen. Es ist eher mein vielleicht auch diffuser Gesamteindruck und ich kann hier nur für mich sprechen.

        Wenn ich die Zeitschrift Chrismon durchblättere oder unserem Ratsvorsitzenden Herrn Bedfort-Strohm via TV „begegne“, schüttelt es mich manchmal innerlich ziemlich stark und ich vernehme politische Botschaften und Sichtweisen, die ich nicht immer teile, doch im Namen meiner Kirche (und auch meinem?) öffentlich verkündet werden. Ich fühle mich mitunter dann „vereinnahmt“ und reagiere innerlich „rebellisch“.

        Und es sind nicht nur die Inhalte sondern auch die Attitüde in der Darstellung oder Haltung, die dahinter steht. Es klingt dann so moralisch und tugendhaft, dass ich mich wenig ermutigt fühle, dagegen zu sprechen, droht mir vielleicht dann das Schicksal, nicht mehr zu den „Guten“ dieser Welt zu gehören. Manche Botschaften sind mir einfach zu simpel, und zu undifferenziert. Politisch mediale Kirche erlebe ich als äußerst Main-Stream behaftet, hier kann ich keine „Parallelgesellschaft“ erkennen. Für Ihren eigentlichen Kern, dem Religiösen trifft letztere sicher zu. Doch entschwindet oder verwischt sich dieser Markenkern nicht zu oft in einer Beliebigkeit, die das Besondere von Kirche nicht mehr zeigt.

        Ich habe dies in einem Leserbrief an die Redaktion von Chrismon an Beispielen zu verdeutlichen versucht. Leider gab es keine Rückmeldung, was ich schade fand. Nun packe ich Chrismon als Beilage meiner Zeitung immer gleich zur Seite. Mehr eigentlichen Markenkern fände ich schön, das würde mich mehr ansprechen. Doch scheint es viele treue Leser*innen zu geben, die das ganz anders sehen und ich scheine hier eine „Parallelgesellschaft“ abzubilden.

        Wird es so nachvollziehbarer und verständlicher? Und verstehen bedeutet ja nicht unbedingt einverstanden zu sein.

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      • gebrocheneslicht schreibt:

        Lieber Ralf,
        vielen Dank für Deine Ausführungen. Daran kann ich vielleicht auch klarer machen, wo es bei mir hakt.
        Zu Bedford-Strohm schreibst Du:

        ich vernehme politische Botschaften und Sichtweisen, die ich nicht immer teile, doch im Namen meiner Kirche (und auch meinem?) öffentlich verkündet werden.

        Was soll der arme Mensch denn machen? Er ist gewählter Vertreter der Kirche und soll nun verkünden, was die Synoden und Gremien beschlossen haben, seine eigene Meinung sagen (Glaubwürdigkeit!), dabei jeden mitnehmen, gleichzeitig klare Kante zeigen… Als ich KV-Vorsitzender war, musste ich die Beschlüsse öffentlich vertreten, auch wenn ich sie falsch gehalten habe. Bin ich kein Mitglied dieses Gremiums, darf ich sie natürlich heftig kritisieren. Und wenn ich mit ihnen nicht klarkomme, habe ich zwei Möglichkeiten: Ich verlasse die Gemeinde oder ich gehe in den KV (heute KGR), um selbst mitzubestimmen. In keinem Fall erzählt mir aber der KV/KGR, was ich zu denken habe. So funktioniert vielleicht katholische Kirche in der Theorie. Aber seit Luther spätestens sind wir Evangelischen damit durch.

        Aber Dir geht es ja nicht nur um Inhalte.

        Es klingt dann so moralisch und tugendhaft, dass ich mich wenig ermutigt fühle, dagegen zu sprechen, droht mir vielleicht dann das Schicksal, nicht mehr zu den „Guten“ dieser Welt zu gehören.

        Auch mir geht diese Moralisiererei auf den Senkel. Sie verhindert oft die sachliche Auseinandersetzung. So habe ich es selbst erlebt: Als ich seinerzeit schrieb, meine veganen Töchter hätten die besseren Argumente, haben einige von Euch nicht nach den Argumenten gefragt, sondern sofort protestiert: „Ich lasse mir kein schlechtes Gewissen machen!“ Bis heute warte ich auf die besseren Gründe gegen die Veganer. Wir einigten uns auf ein unverbindliches „Jeder soll nach seiner Facon selig werden.“
        Und zu Deiner Befürchtung, nicht mehr zu den „Guten“ zu gehören, kann ich Dich beruhigen: Du hast nie dazu gehört. Ich auch nicht. „Wir sind allzumal Sünder. Wir können es auch anders sagen: Wir sind Menschen mit viel Potenzial. Und das hat ja auch schon wieder etwas Gutes.
        Darüber entscheidet aber schon lange nicht mehr die Kirche. Und das wird uns ja auch wieder von Distanzierten, Katholiken und Frommen vorgeworfen, dass wir Mainstream-Evangelische es so gar nicht mit der Hölle haben.

        Also: Solange und sobald wir uns über ein paar (moralische) Grundwerte verständigt haben (z.B. Menschenleben retten ist gut, Menschen quälen ist schlecht), geht es darum, wie wir’s am besten umsetzen. Dazu brauchen wir Vernunft und gute Argumente. Und dabei kann ich weder erwarten, dass der oder die andere so schlau ist wie ich noch dass ich so schlau bin wie er oder sie.

        Ich habe B. Bedford-Strohm übrigens mal bei einem Live-Chat gesehen. Da hat er mich durchaus überzeugt.

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      • Ralf Liedtke schreibt:

        Finde Deine neuen Antworten durchweg gedanklich „bereichernd“ und vielfach ergänzend. Ich schrieb ja auch nicht im „kategorischen“ Imperativ.

        Mit Verstehen und Sich-Einlassen wollen, Vernunft und Gefühlen lassen sich „Begegnungen“ doch immer wieder produktiv gestalten.

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  4. Thomas schreibt:

    Lieber Ralf, es macht so viel Spaß, so viel Freude, Deine statements zu lesen ! Eine echte Bereicherung – jedenfalls für mich !
    Liebe Grüße ! Thomas

    PS: Liebe Grüße an Dich und Deine Familie , lieber Erik ! Weigstens in Gedanken sind wir oft bei Euch – und spüren und fühlen so manches, was Du zwischen den Zeilen ausdrückst …

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