Exerzitien 29. Teil, Bingen 2018, die „dritte Woche“.
Die Vögel weckten mich. Ich richtete mich auf, etwas steif im Rücken, und schaute mich um. Links vorne, hinter einem Strauch, sah ich den Stein, den wir am Tag vorher vor das Grab Jesu gerollt hatten. Joseph verabschiedete sich danach bald. Ich sagte Johannes, dass ich noch etwas bleiben wollte, das Ganze nachwirken lassen. Bei Sonnenuntergang verabschiedeten sich auch die Frauen. Da tauchte Johannes noch einmal auf und gab mir eine Schriftrolle des Propheten Jesaja. „Vielleicht hilft das beim Nachdenken“, meinte er und zeigte auf eine Stelle, die er schon angekreuzt hatte: Fürwahr, er trug unsere Krankheit und unsere Schmerzen. Er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unser Sünde willen zerschlagen… (Jesaja 53, 4a und 5a) „Jesaja spricht von Jesus“, sagte Johannes noch und ging.
Jetzt sah ich mir den Text noch einmal an. Aber er machte für mich genauso wenig Sinn wie am Abend zuvor. Er trug unsere Krankheit und unsere Schmerzen? Mein Rücken sagte mir gerade etwas anderes. Und dass ich jetzt aufgrund des Todes Jesu keine Erkältung mehr bekommen sollte, war auch eher unwahrscheinlich. Und ich las weiter: Er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unser Sünde willen zerschlagen …durch seine Wunden sind wir geheilt … der Herr warf unser aller Sünde auf ihn … als er gemartert ward, litt er doch willig. Das machte für mich alles wenig Sinn. Ich hatte eine Idee, wie Johannes darauf gekommen war. Bei den Juden gab es einen Brauch, einmal im Jahr einen Bock rituell mit den Sünden des Volkes zu beladen und dann in die Wüste zu schicken. Das war vielleicht nicht schlecht für die Psychohygiene der Gemeinschaft. Aber warum musste nun ein Mensch sterben?
Mir fiel ein, wie Petrus gesagt hatte, Jesus sei Gottes Sohn gewesen. Wollte Gott nun auch mal unter die Verbrecher? Sich solidarisch erklären mit uns armen Menschen? Andererseits: War er nicht sowieso alles in allem, also auch der Kleinste und der Größte, in der Höhe und in der Tiefe? Wozu jemanden – und dann noch seinen Sohn – sterben lassen?
Und dann las ich: Man gab ihm sein Grab bei Gottlosen und bei Übeltätern. Ich schaute mich um. Na denn. Und dann, am Anfang des Textes: Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet. Da hatte ich von Jesus einen ganz anderen Eindruck gewonnen. Nein, der ganze Abschnitt klang mir eher nach dem verzweifelten Versuch, dem Tod Jesu noch einen Sinn abzuringen.
Aber war nicht der Tod das Ende des Lebens und damit das Ende von allem Sinn? Und umgekehrt: Die Abwesenheit von Sinn so etwas wie Tod? Ich dachte an die ganzen Diskussionen, die ich mit klugen (und weniger klugen) Freunden in Rom geführt hatte. Wir waren eigentlich nie zu einem Ergebnis gekommen, wenn es um Fragen nach den Göttern, nach dem Tod oder auch, ja, nach dem Sinn ging.
Und ich dachte an Jesus. War ich jetzt schlauer? Eigentlich nicht. Mit Jesus haben wir im Grunde wenig über irgendwelche Themen diskutiert. Immer wenn jemand zu ihm mit einer Frage kam, wurde es anstrengend. Ich erinnere mich an den jungen Mann, der einfach nur ein anständiges Leben führen wollte und dann gleich seinen ganzen Besitz verkaufen musste (Markus 10, 17-27). Oder den Pharisäer Nikodemus, der wissen wollte, wie das geht mit dem Neuanfang, und dem Jesus sagte: Durch Wasser und Geist. (Johannes 3, 1-21). Ich glaube, der kluge Mann war nachher auch nicht schlauer.
Jesus wollte nicht, dass die Menschen anders dachten, sondern anders wurden. Sich das Leben nicht vom Hals hielten, sondern sich … betreffen ließen. So wie er selbst. Er war immer voll da, egal ob sich jemand hilfesuchend an ihn wandte, ob er mit Schriftgelehrten diskutierte oder Zöllnern feierte (z.B. Markus 10,47; 7,30; Lukas 2,41-52; 19,1-10). Vielleicht ist genau das, was Sinn macht: Voll da zu sein.
Und jetzt war Jesus nicht mehr da. Und für mich war die Welt auch ein ganzes Stück grauer geworden. Nicht nur der eigene Tod, auch der von anderen kann das Leben sinnlos machen. Man macht das Gleiche wie früher, Pläne schmieden, einkaufen, reden – aber jetzt fragt man sich: wozu? Ich habe die Beziehung verloren, zu Menschen, zu einem Ort, zu einer Aufgabe.
Dass ich eine Beziehung wiederfinde oder überhaupt finde, ist doch Gnade – Geschenk und Wohltat. Und gleichzeitig kann ich auch etwas dafür tun.
Ach verflixt, ich merkte, wie sich meine Gedanken immer mehr einkreisten. Ich fand einfach keinen Sinn im Tod Jesu. Sein Leben hätte Sinn gemacht.
Aber da war ja noch die Sache mit der Auferstehung…
Von der Stadt her wehte mir der Geruch von verbranntem Getreide in die Nase. Die Juden feierten Omer, den Tag nach dem Seder-Mahl. Ich ging, um es mir anzuschauen.
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Beitragsbild: Grabhöhle, allerdings nicht in Jerusalem, sondern Kugelstein/Österreich. Von Christian Pirkl – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=60470875
Es gibt schon in der Bibel viele und unterschiedliche Deutungen von Jesu Tod – und in der Geschichte der Kirche vervielfältigt sich deren Zahl noch einmal. Pfr. Mückstein bot die Erklärung an: Nach jüdischem Verständnis sind wir alle Sünder und damit Verbrecher. Jesus, der Sohn Gottes, hat sich zwischen zwei Verbrechern kreuzigen lassen, ist selbst so zum Verbrecher geworden – und damit hat sich Gott mit uns Sündern solidarisch erklärt.