Tief ist der Brunnen…

Früher habe ich ziemlich viel gelesen, besonders im Studium. Klassiker der Weltliteratur waren darunter wie Faust I und(!) II, Der Herr der Ringe oder Peggy, der Blindenhund. Die Freude am Lesen blieb, aber die Inhalte veränderten sich. Im Beruf waren es vor allem Zeitungen und Zeitschriften, die mich fesselten, von  der Zeit über Psychologie heute bis Zeitzeichen und dem Deutschen Pfarrerblatt. Als die Onlinemedien aufkamen, konnte ich mir gar meine morgendliche Presseschau leisten.

Die Zeiten der Bücher waren, mit wenigen Ausnahmen, ziemlich vorbei. Aber nicht die der Hörbücher. Harry Potter hat für mich die Stimme von Rufus Beck. Ein liebender Mann ist natürlich Goethe, aber ich höre Martin Walser. Und Thomas Mann hätte ich ohne Gert Westphal nie geschafft. Mit ihm allerdings waren Joseph und seine Brüder purer Lese-, Verzeihung, Hörgenuss. 36 Stunden, 30 CDs. Es ist gut möglich, dass ich sie mir demnächst zum dritten Mal gönne.

Thomas Manns Worte und Gert Westphals Stimme führen uns in eine ferne Vergangenheit, als Geschichte und Mythos noch nicht zu trennen waren. „Höllenfahrt“ heißt das erste Kapitel – eine Reise zum Beginn der Welt, wie er uns von der Bibel berichtet wird. Und gleichzeitig eine Reise in unser Inneres, in die Ur- und Abgründe des Menschen. „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollten wir ihn nicht unergründlich nennen?“

Und so geht Thomas Mann auch erst einmal in die Anfangszeit zurück, zum Turm von Babel, der Urflut, Kain und Abel bis hin zum Paradies und der Schöpfung, ehe er in der Zeit der Patriarchen ansetzt: Abraham und Esau, Jakob und Joseph. Und er taucht ein in die Bilder- und Mythenwelt des Alten Orients, versucht zu verstehen, wie die Menschen damals gedacht und gefühlt haben: ihr Verständnis von der Zeit, vom Leben, von ihrer Umwelt und besonders von Gott und den Göttern.Thomas_Mann_1937

Und Thomas Mann erzählt – mäandernd und ausufernd und doch immer dicht und spannend. Wie es kam, dass ein Zeitraum von offenbar mehreren Jahrhunderten auf vier Generationen zusammenschrumpfen konnte. Warum Abraham aus seiner Heimat auswanderte und wie er „Gott entdeckte“. Warum Jakob humpelte – vom Engel an der Hüfte verwundet. Wie Joseph seinen Weg fand zwischen Bestimmung und eigener Anstrengung. Von seinen Schwächen und Stärken, Fall und Aufstieg. Wie Potiphars Frau dem Joseph in unglücklicher Liebe verfiel. Und Joseph sich am Ende mit seinen Brüdern versöhnte. Von seinem Weg mit Gott. „Beide Jakob und Joseph, Vater und Sohn, sind Menschen ‚mythischer Bildung‘, die immer wussten, was ihnen geschah, in allem irdischen Wandeln zu den Sternen blickten und immer ihr Leben ans Göttliche knüpften“, schreibt der Ägyptologe Jan Assmann.

Und doch geht es nicht nur darum, die Bibel zu bebildern. Thomas Mann verhandelt die großen Gegenwartsfragen: Was ist meine Bestimmung? Abraham machte sich auf den Weg, nicht nur um gute Weidegründe zu suchen, wie viele andere zu seiner Zeit. Er war auf der Suche nach Gott. Und zwar nicht irgendeinem Gott. Nicht dem zweitbesten, selbst wenn es der Eine Gott des mächtigen Pharao, die Sonne selbst wäre. Sein Anspruch galt nichts weniger als dem Höchsten.

Und „Abraham entdeckte Gott und machte einen Bund mit ihm, dass sie heilig würden – einer im anderen“. So sagt es sein Nachfahre Joseph dem Pharao. Glaube gibt es nur in Beziehung. Der Mensch ist an Gott gebunden wie Gott an den Menschen. Das ist die uralte und immer wieder neue Erkenntnis.

Und: Glaube ist Geschichte. Eine uralte Geschichte, die immer wieder neu erzählt und neu erlebt wird. Die wir immer wieder neu finden und weiterschreiben in unserem Leben. Und es lohnt sich, sehr genau zu lesen und zu hören, für Religiöse wie für Atheisten.

Das hat Thomas Mann getan. Sechzehn Jahre hat er geforscht und mit seinen Erkenntnissen selbst die Forschung bereichert. Vier Bände sind daraus geworden, fast anderthalbtausend Seiten. Nichts für Feiglinge. Aber es lohnt sich. Die alte Welt wird neu, lebendig, farbig. „Wie kann man noch einmal einer schönen geschminkten Frau in die Augen sehen, ohne sofort auch an die Schilderung der Frau des Potiphar zu denken, ihren ersten Auftritt, der auf zwei Seiten, subtil verschachtelt, ägyptische Lidstriche vorführt, Duftöle, Frisierkunst, gefälteltes durchscheinendes Leinen, träge Blicke aus verschwimmenden Kohleaugen und sich schlängelnde karmesinrote Lippen, die hochmütig nervös geschlossen sind: ‚Das war Mutemenet, eine verhängnisvolle Person'“, schreibt Dieter Bartetzko in der FAZ.

Und doch sollten wir Thomas Mann nicht alles glauben, natürlich nicht. Denn auch er wusste nicht wirklich, wie es zuging vor 3-, 4000 Jahren. Auch er hatte seinen eigenen Blick. Und der war nicht nur in die Vergangenheit gerichtet, sondern auch in seine Gegenwart. Er schrieb seine Romane zur Zeit des Nationalsozialismus. Sein Anliegen war es, der Unmenschlichkeit das Ideal des Humanismus entgegenzusetzen. Und das ist ein ebenso christliches wie atheistisches Anliegen und behält, wie wir auch und gerade wieder erleben, bis heute seine Aktualität.

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Beitragsbild: Blick in den Brunnen der Burg Königsberg i. Bay. Von Michaklu – Eigenes Werk, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=10597892
Bild im Text: Thomas Mann 1937, von Carl Van Vechten – Van Vechten Collection at Library of Congress, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=28419

Thomas Mann, Joseph und seine Brüder, vier Romane in einem Band, geb. Ausgabe, S. Fischer Verlag, Frankfurt/M., 6. Aufl. 2007, 1344 Seiten
Thomas Mann, Joseph und seine Brüder, Texteinrichtung Gert Westphal, Deutsche Grammophon, 2005 30 CDs 
Assmann, Borchmeyer, Stachorski, Joseph und seine Brüder I und II, kommentierte Ausgabe, Fischer, Frankfurt/M, 2018Peggy-der-Blindenhund
Und wer sich ein wenig einarbeiten möchte, kann hier im Netz etwas ausführlicher forschen: Miriam Albracht, Mythos und Zeit in Thomas Manns „Joseph in Ägypten“, pdf-Datei, 76 Seiten, http://www.mythos-magazin.de/mythosforschung/ma_mann.pdf
Übrigens hat Jan Assmann gerade mit seiner Frau Aleida den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhalten.
Und schließlich: Peggy der Blindenhund hat mich zu Tränen gerührt. Ich war ungefähr sieben.

Ein normales Leben

Manchmal sagen wir: Wir hätten so gerne unser normales Leben zurück. Das Leben vor der Diagnose. Als wir uns noch nicht so bewusst waren, dass eben dieses Leben begrenzt ist. Als wir meinten, es weitgehend im Griff zu haben. Als wir noch davon ausgingen, dass uns unser Körper gehorcht und nicht so aus dem Ruder läuft.

Ist es das, ein „normales Leben“? Dann begegnen uns heute viele Menschen, die ein ebenso „unnormales Leben“ führen wie wir auch. Vielleicht sind sie uns auch früher schon begegnet, schon von Berufs wegen. Wir nehmen sie nur anders wahr.

Eine der Freundinnen, durch deren Leben auch plötzlich ein Riss ging, sagte uns einmal: Euer Leben, das ihr jetzt lebt, das ist euer neues „normal“. Das sagen wir uns immer einmal wieder. Und wir müssen es auch, denn wir haben ja jahrzehntelang im alten „normal“ gelebt.

Viele Menschen bleiben bei uns auf unserem Weg in dieses neue „normal“. Aber es gibt auch welche, die sich entfernen oder „verdunsten“ – sei es aus Unsicherheit, Sprachlosigkeit oder einfach, weil die Lebensverhältnisse nicht mehr zueinander passen. So wie sich Bekannte und Freunde sortieren, wenn man z.B. eine Familie gründet.

In diesem neuen „normal“ treffen wir nicht nur auf neue Menschen, sondern auch auf Menschen neu. Es ist, als ob Masken fallen – wir müssen uns nicht mehr erzählen, wie gut wir das Leben doch meistern. Denn wir wissen, dass wir es nicht im Griff haben. Wir können von unserer Angst erzählen, von den Verletzungen – und dann auch, irgendwie unbefangener als früher, von unseren Stärken und dem, was uns gelungen ist.

onkoambulanz.jpgIn diesem „normal“ kommen wir auch an Orte, an denen eine besondere Atmosphäre herrscht. Oder deren Atmosphäre wir heute anders wahrnehmen. Natürlich sind wir auch vorher immer wieder im Krankenhaus gewesen. Wenn ich jetzt aber in die onkologische Ambulanz komme, spüre ich eine Stimmung von beschädigtem Leben, Hoffnung und Heilung, die ich „im wirklichen Leben“ so nicht wahrnehme. Eine Solidarität von Menschen, deren Leben einen Riss bekommen hat – und die die Hoffnung nicht aufgeben. Menschen, die von der Krankheit gezeichnet sind und solche, die äußerlich fit sind.

Wir reden wenig miteinander. Aber es ist kein peinliches Schweigen. Wir müssen einfach nicht mehr viel erklären.onkostuhl.jpg

Wir haben ein besonderes Verhältnis zur Zeit. Denn immer wieder müssen wir warten – auf den Arzt, die Ärztin, auf das Medikament, die nächste Untersuchung, die Ergebnisse.

Und die Mitarbeitenden, von der Ärztin bis zum Pfleger, so ist meine Erfahrung, haben ein Gespür für diese Atmosphäre. Sie sind freundlich, zugewandt, ernst und heiter.

Und sie erzählen auch von Patienten, die pöbeln, die ungeduldig sind und ängstlich. Es gibt Gespräche, die uns nicht so gut tun. Es ist wie im wirklichen Leben. Das neue „normal“ eben.

„Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“, heißt es in der Bibel (Psalm 90,12). Dieser Satz hat eine tiefe Wahrheit. Doch auch dieser andere aus dem Film Ein Mann namens Ove gilt: „Wir können an den Tod denken oder wir können weiterleben.“ Der erste vielleicht eher für die, die in dem einen, unserem alten „normal“ leben, und der zweite für die im neuen „normal“.

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Bilder:
Beitragsbild: Pixabay
1. Bild: Die Onko-Ambulanz im UKE © Erik Thiesen
2. Bild: Ein typischer, bequemer Sessel in der Onko-Ambulanz © Erik Thiesen

Den Gedanken, dass Freundschaften „verdunsten“, lasen wir in einem Artikel über jemanden, der ebenfalls das neue „normal“ lebt.

* Ich und Du

Endlich habe ich es geschafft, „Ich und Du“ von Martin Buber durchzulesen. Es war nicht einfach, denn manchmal waren mir seine Gedanken fremd. Wo ich ihn aber verstanden habe, hat er mich fasziniert.

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/8/81/Martin_Buber_portrait.jpg/762px-Martin_Buber_portrait.jpgUnd so fängt sein Buch an: „Die Welt des Menschen ist zwiefältig nach seiner zwiefältigen Haltung. Die Haltung des Menschen ist zwiefältig nach der Zwiefalt der Grundworte, die er sprechen kann. Die Grundworte sind nicht Einzelworte, sondern Wortpaare. Das eine Grundwort ist das Wortpaar Ich-Du. Das andere Grundwort ist das Wortpaar Ich-Es; wobei, ohne Änderung des Grundwortes, für Es auch eins der Worte Er und Sie eintreten kann. Somit ist auch das Ich des Menschen zwiefältig. Denn das Ich des Grundworts Ich-Du ist ein andres als das des Grundworts Ich-Es.“ (Ich und Du, S. 9) So geht es weiter, 160 Seiten lang. Weiterlesen

Lichtblick der Woche

Halte deine Träume am Leben.
Es ist ihre einzige Chance wahr zu werden –

schrieb uns Uta. Vielen Dank. Und wie wahr.
Manchmal aber auch schwer zu verwirklichen. Zumindest alleine. Wir brauchten dazu nach der letzten Nachuntersuchung
– eine Mail von unserem „Chef-Arzt“, der die Ergebnisse etwas relativierte („können den Befund in alle Richtungen interpretieren“ und „sonst sind alle !!!! Metastasen komplett weg“),
– eine Mutmachmail von Ralf und Ingrid mit der „Ermutigung“ von Wolf Biermann: „Du, lass dich nicht erschrecken in dieser Schreckenszeit“ und
– einen wunderbaren Abend mit Frau Seeland bei unserem Lieblings-Inder.

Und die Träume beginnen wieder lebendig zu werden.

Die Sprachen der Bibel

Wie ich wurde, was ich bin III

Eine besondere Herausforderung zum Beginn des Theologiestudiums sind die Sprachen. Latein hatte ich schon in der Schule gehabt und nicht geliebt. Griechisch, die Sprache des Neuen Testaments, ist in seinem Aufbau ganz ähnlich, auch wenn die Buchstaben anders aussehen. Hebräisch fand ich viel cooler. Weiterlesen

* Wir müssen reden

Christoph war nicht ganz zufrieden mit mir, das wurde deutlich. „Warum willst du den interreligiösen Dialog?“, fragte er mich. Und ich sagte: „Weil er wichtig ist. Weil wir die anderen kennenlernen müssen, wie sie denken und so. Und die uns.“ – „Das reicht nicht“, meinte er. Christoph ist Experte für den interreligiösen Dialog. „Wie, das reicht nicht?“, fragte ich.

„Es kommt auf die persönlichen Beziehungen an“, sagte er. Weiterlesen

Das sprechende Kreuz

 

auch 9. Teil der Reihe über die Exerzitien. Bingen, 24. Juli 2016 – siehe unter Themensuche

Sprechendes Kreuz1Im Exerzitienhaus in Bingen hatten wir zwei Meditationsräume zur Verfügung, in denen jeweils ein Kruzifix aufgestellt war. Vor beiden suchte ich mit Jesus ins Gespräch zu kommen, aber nur bei einem gelang es mir.

Im Gebetsraum I stand eine Nachbildung des Kreuzes der Kirche San Damiano in Assisi, eine Kreuz-Ikone, etwa aus dem 11. Jahrhundert. Sie wird auch das „sprechende Kreuz“ genannt, denn als Franziskus einmal vor ihr betete, sprach Jesus zu ihm und gab ihm den Auftrag für sein Leben: „Franziskus, geh und baue mein Haus wieder auf, das, wie du siehst, ganz und gar in Verfall gerät.“

Auch ich kam zu diesem Jesus mit meinen Fragen und Sprechendes Kreuz10Zweifeln – aber er gab mir keine Antwort. Ja, ich hatte das Gefühl, dass er gar nicht mit mir reden wollte. Weiterlesen