Psalm-Worte für jeden Tag

Vor einiger Zeit fragte mich Hans-Christoph Goßmann, ob ich eine Rezension von Reinhard von Kirchbachs „Worte für jeden Tag“ für das Deutsche Pfarrerblatt schreiben könne. Ich hatte vorher noch nie etwas vom Autor gehört, obwohl er nordelbischer Pastor und Propst gewesen ist. Aber ich sagte zu.

Erstens weil Christoph ein guter Freund ist. Er wohnt in Niendorf und ist Pastor der Jerusalem-Kirche in Eimsbüttel. Ich habe ihn kennengelernt, als er noch nordelbischer Beauftragter für den christlich-islamischen Dialog war. Auf diesem Blog tauchte er schon einmal auf – hier.

Und zweitens, weil von Kirchbach mich wirklich faszinierte. Warum? Genau das versuchte ich in der Rezension darzustellen.

1731 brachte Nikolaus Zinzendorf die Losungen heraus; sie gehören seitdem zur evangelischen Spiritualität. Inzwischen gibt es solche Sinnsprüche nicht nur aus der Bibel, sondern von Luther und Bonhoeffer – für den die Losungen selbst eine große Bedeutung besaßen –, Goethe und Rilke. Im besten Fall „passen“ sie in die Situation, deuten das Leben, sind tiefsinnig, hintergründig und regen zum Weiterdenken an. Nun hat Hans-Christoph Goßmann ebenfalls „Worte für jeden Tag“ herausgegeben, Sätze und Gedanken aus den Schriften von Reinhard von Kirchbach.

Reinhard von Kirchbach?

von Kirchbach (1913-1998) war Propst im Kirchenkreis Schleswig. Sein Anliegen war, besonders in den letzten Jahrzehnten seines Lebens, der interreligiöse Dialog. Er beklagte, dass wir unsere eigene Position als selbstverständlich dominant voraussetzen und kaum fähig sind, andere zu verstehen. Deshalb gründete er vor 35 Jahren einen Arbeitskreis für den interreligiösen Dialog. Er suchte und fand eine sehr konstante Gruppe von Moslems, Hinduisten, Buddhisten, Christen und, vereinzelt, Juden, mit denen er ins Gespräch kam. Sein Ziel war nicht die Mission, nicht die Verteidigung des eigenen Standpunkts, sondern das Verstehen des Anderen.

Aus Anlass seines 100. Geburtstags brachten Michael Moebius und Hans-Christoph Goßmann eine elfbändige Ausgabe seiner Werke heraus – mit dem Titel: „Eine Theologie im Gebet“. Aus diesen Schriften hat Goßmann „Worte für jeden Tag“ gesammelt.

kirchbach.jpgDiese „Worte“ unterscheiden sich von den Sinnsprüchen eines Goethe oder Rilke, auch von den Herrnhuter Losungen. Im Vorwort nimmt Goßmann ein Anliegen von Kirchbachs auf: „Ich wünsche mir Leser, die diese Worte … in der Hetze zu mehr Ruhe, in der Unübersichtlichkeit zu größerer Klarheit und in dem täglichen Arbeits- und Existenzkampf zu ‚menschlichem‘ Verhalten“ führen.

So sind die „Worte“ auch weniger Reflexionen und Gedanken, sondern vielmehr Gebete, die aus einem Bewusstsein der Nähe Gottes entstanden sind. Ja, von Kirchbach fühlt sich Gott so nahe, dass er Gott selbst reden lässt – wie die biblischen Propheten.

Diese Gottesrede irritiert. Woher weiß von Kirchbach, was Gott denkt, was Gott zu mir spricht? Natürlich weiß er es nicht. Und seine Aussagen wären in der Tat unerträglich, kämen sie im Gewand der Dogmatik daher. Aber er spricht die Sprache des Gebets, der Poesie – „mit Worten niedergeschrieben, wie sie sich bei mir einfanden“, wie er selbst sagt. Er gibt sich in das Geheimnis Gottes hinein und wartet, dass und ob etwas geschieht.

Wenn „Gott“ in diesen Worten spricht, dann ist es zunächst von Kirchbachs Gott – das Wort, das er in der Stille gehört hat. Ob es auch zu meinem Wort wird, bleibt erst einmal völlig offen. Oft wird es erst dann lebendig, wenn ich selbst in die Stille gehe. Genau das ist die Absicht von Kirchbachs: „Es ist nicht die Menge des Gelesenen“, schreibt er, „sondern das aufmerksame Hören des Herzens.“

Weggefährten beschreiben so auch seinen Gesprächsstil: Er interessiert sich für sein Gegenüber, denkt sich in seine Gesprächspartner hinein, manchmal entsteht eine Stille – in die hinein er ein Wort spricht, ein gutes Wort, einen Segen – wie es sich bei ihm einfindet.

So sind auch diese „Worte für jeden Tag“ nichts für Menschen, die etwas „über“ Gott, den Autor, die Welt oder sich selbst wissen wollen. Sie unterscheiden sich von einer Losung, die eine Richtung vorgibt ebenso wie von einem Sinnspruch, der eine Deutung verspricht. Sie sind wie Türen in ein erweitertes Verständnis des Lebens und Denkens – wenn man sich die Zeit nimmt, diese Wege zu gehen.

Es sind Worte, die ihre Fremdheit nicht verlieren – dieser Eindruck wird durch die Beibehaltung der alten Rechtschreibung noch verstärkt. Wie die Psalmen der Bibel verkünden sie auch keine theologischen Richtigkeiten, sondern spiegeln persönliche Gottesbegegnungen wider und werden erst dann wirksam, wenn sie im eigenen Herzen nach- und mitgesprochen werden können. Und wie mit den Psalmen geht es mir mit diesen zeitgenössischen Worten; manche sind mir bis heute verschlossen, andere tun sich spontan auf und wieder andere fangen erst nach langer Zeit an zu leuchten.

Reinhard von Kirchbach: Worte für jeden Tag, hrsg. von Hans-Christoph Goßmann
Verlag T. Bautz GmbH Nordhausen, 2014 (I
SBN 978-3-88309-912-5)

Meditation und Widerstand

Im Garten von Gethsemani – 7. Teil der USA-Reise

Waren wir früher politischer als die Jugendlichen heute? Vielleicht. Die Verhältnisse waren aber auch andere, irgendwie klarer. Die eine Hälfte der Welt wurde beherrscht vom Kommunismus oder, wie auch gesagt wurde, „realem Sozialismus“. Wir hatten dazu ein zwiespältiges Verhältnis: Einerseits lehnten wir die Regime von Moskau bis Peking cardenal-solentiname.jpgbis nach Tirana ab, andererseits faszinierten uns die Gedanken von Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Eindeutiger war unsere Einstellung zu den – meist von den USA gestützten – Diktaturen, z.B. in Nicaragua, Chile, den Philippinen, Südafrika und  verschiedenen anderen afrikanischen Staaten. Martin Luther King, Desmond Tutu und Ernesto Cardenal, der Priester aus Nicaragua, waren unsere Vorbilder. USA 7-32

Diese Namen begegneten uns auch immer wieder auf unserer Reise in die USA. Jim Wallis und Richard Rohr hatten mit Cardenal gemeinsam, dass sie alle sehr von einem Trappisten-Mönch aus Kentucky beeinflusst waren: Thomas Merton (1915-1968).

Schweigen und harte Arbeit sind die Kennzeichen dieses Ordens. Doch Merton hat nicht nur geschwiegen. Er engagierte sich auch politisch, gegen den Vietnam-Krieg, gegen Aufrüstung und Diktatur. Und er beschäftigte sich intensiv mit Buddhismus und Zen. Weiterlesen

Der wilde Mann

Die Basisgemeinde New Jerusalem – 6. Teil der USA-Reihe

Zwei Jahre vor der USA-Reise hatte ich von Johannes ein Buch geschenkt bekommen: Rohr Bücher„Der wilde Mann“, geistliche Reden zur Männerbefreiung von einem amerikanischen Franziskaner namens Richard Rohr. Nachdem die Studentenjahre von einer intensiven Beschäftigung mit dem Feminismus geprägt waren, kam hier ein Anstoß, sich mit der Spiritualität von Männern zu beschäftigen. Damals war das fast revolutionär. Und Richard Rohr war einer der Pioniere. Kann sein, dass es ohne ihn das Männerpilgern oder „Mann kocht“ in unserer Gemeinde gar nicht geben würde. Zmindest sind viele Initiativen zur „Männerbefreiung“ oder, wie er es nennt, „Männerinitiation“ von ihm beeinflusst, z.B. die „Männerpfade“ in Deutschland oder „Mannsein.at“ in Österreich. Weiterlesen

Wie mit Gott reden?

Wie reden man mit jemandem, den man nicht sieht – ja, von dem man noch nicht einmal sicher weiß, dass es ihn überhaupt gibt? In allen Religionen spielt das Gebet eine hervorragende Rolle. Die meisten Schwierigkeiten scheinen die Protestanten mit ihm zu haben. Der Sonntag Rogate ist eine gute Gelegenheit, diesen Fragen nachzugehen. Zum Beispiel in einer Predigt.

Liebe Gemeinde!

Der Pfarrer von Boscaccio ist entsetzt. Gerade haben die Kommunisten, diese atheistischen Weltzerstörer, die Gemeinderatswahl gegen die christliche Partei gewonnen. „Wie konntest du das zulassen?“, ruft er empört in Richtung Kruzifix. Und der Jesus am Kreuz antwortet. „Das ist eben Demokratie“, sagt er. „Und die Armen haben schließlich Gründe genug, einen kommunistischen Bürgermeister zu wählen.“

Kenner wissen: Wenn ein Jesus am Kreuz antwortet, dann in den Geschichten von Giovanni Guareschi: Don Camillo und Peppone. Weiterlesen

Zeit für Mission

Dr. Otto Diehn. Wenige Menschen haben mich so beeindruckt wie der damalige Leiter des Nordelbischen Gemeindedienstes und Chef der Volksmission. Er war für mich der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort.

Die Siebzigerjahre hatten ganz im Zeichen des gesellschaftspolitischen Aufbruchs in der Kirche gestanden: auf Kirchentagen wurde das Politische Nachtgebet entwickelt, Pastoren demonstrierten in Brokdorf im Talar, wir kämpften gegen die Apartheid in Südafrika und ließen uns von Ernesto Cardenals „Evangelium der Bauern von Solentiname“ inspirieren.

In den Achtzigerjahren dagegen trat ein Thema ins Rampenlicht, das eigentlich schon tot war: Mission. Die Arbeitsgemeinschaft Missionarische Dienste (AMD) schlug auf Theologentagungen die Brücke zwischen landeskirchlicher und evangelikaler Frömmigkeit, missionarische Konzepte wie „Überschaubare Gemeinde“ wurden entwickelt oder aus den USA importiert (Willow Creek), das Gemeindekolleg in Celle wurde zum Multiplikator von Glaubenskursen wie „Wort und Antwort“ oder „Gottesdienst leben“, und die Nordelbische Synode diskutierte 1987 über „Mission vor der Haustür“. Und Otto Diehn mittendrin.

Er bot mir eine Stelle als Assistent an. Zunächst war ich vor allem für organisatorische Dinge wie den Büchertisch bei Seminaren zuständig, später übernahm ich auch inhaltliche Aufgaben. Allerdings war die Vergütung sehr schmal. Deshalb zog ich nach Volksdorf in die Gemeinde St. Gabriel. Dort konnte ich mit anderen Jugendlichen in der Küsterwohnung kostenfrei wohnen, und wir mussten dafür Dienste in der Gemeinde übernehmen.

In Volksdorf und bei der Volksmission lernte ich eine Frömmigkeit kennen, die mir gleichzeitig vertraut und doch auch sehr neu war. Schon von Heidelberg aus war ich einmal nach Burgund getrampt und hatte die Communauté de Taizé kennengelernt. In Volksdorf baute die Jugendarbeit darauf auf.

Der Pastor, Hermann Möller, war wie Otto Diehn Mitglied der „Ansverus-Bruderschaft„, und ich war seitdem oft und gerne im Ansverus-Haus in Aumühle. Ich lernte die Stundengebete mit den gesungenen Psalmen kennen und das meditative Schweigen, die altkirchlichen Wüstenväter und das orthodoxe Herzensgebet. Und ich entdeckte die irischen Segenssprüche, die damals noch gar nicht so bekannt waren.

In Diehns Arbeitszimmer stand nicht nur ein Schreibtisch, sondern auch eine Couch. Sie diente nicht nur seiner Entspannung, sondern förderte vor allem seine Kreativität. Hier entstanden zum Beispiel die Konzepte vom „Cursillo“ und dem Projekt „neu anfangen“.

Den „Cursillo“ (kleiner Kurs Glauben) hatte er sich von den Katholiken abgeschaut und auf norddeutsch-evangelische Verhältnisse verändert. Während aber im Original die Lehre eine größere Rolle spielte, setzte Diehn auf das Gespräch in Kleingruppen. Zum Team gehörten neben zwei Theologen fünf Laien. Die Gesprächseinstiege, Fährten genannt, sollten persönlich sein – woran sich die Theologen regelmäßig am wenigsten hielten. Deshalb war der Gesprächseinstieg unter ihrer Leitung auch eher mühsamer. Und in den Gruppen sollten sich die Teilnehmenden möglichst nicht kennen. Besonders dieser Grundsatz ermöglichte es, dass sie ungewöhnlich offen miteinander redeten.

Der Gottesdienst wurde „Den Sonntag begehen“ genannt: Eine Geschichte aus der Bibel wurde in Stationen aufgeteilt, die dann von Teamern an verschiedenen Orten in der Natur meditiert wurden, oft mit kreativen Elementen angereichert.

Unzählige Menschen haben durch den Cursillo einen neuen Zugang zum Glauben gefunden, unzählige persönliche Gespräche geführt. Allerdings: Man musste auch für diese Frömmigkeit eine gewisse Offenheit mitbringen.

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Und dann das Projekt „neu anfangen“. Die Idee: Menschen auf den Glauben hin ansprechen. Nicht nur die Kirchenglieder, sondern alle, die einen Telefonanschluss besitzen. Damals war die Telefonwerbung noch nicht sehr verbreitet, dazu war der technische Aufwand einfach zu groß.

na-taschenbuch1.jpgDen Angerufenen wird ein Taschenbuch angeboten, in dem Menschen aus der Region von ihrem Glauben berichten. Dazu muss dieses Buch erst einmal erstellt werden. Und in einer weiteren Runde werden die Interessierten zu einem Gesprächskreis eingeladen.

Dazu müssen Mitarbeitende geschult werden, viele Mitarbeitende: Fürs Telefon, für die Gespräche, für die Logistik. Und die müssen erst einmal begeistert werden. Das konnte Otto Diehn. Er hatte mit Pastor Erich Meder und Propst Dietrich Peters zwei weitere Mitstreiter, die ebenso begeistern konnten. Trotzdem eine Herkulesaufgabe. Denn nicht nur protestantische Gemeinden sollten mitmachen, auch die katholischen und möglichst viele Freikirchen.

Es gelang. In einem Pilotprojekt in Hamburg-Nord, dann in Harburg, in Hamburgs Mitte und seitdem in über 40 Städten und Regionen in Deutschland. Mehr als 2 Millionen Menschen wurden erreicht. Zweifellos auch eine Erfolgsgeschichte.

Die Projekte haben ihre große Zeit gehabt. Doch was mich nicht loslässt: Otto Diehn hat Christinnen und Christen dazu befähigt, über ihren Glauben zu sprechen, ihn in der Öffentlichkeit zu bekennen. Dieses Ziel ist ohne Zweifel zeitlos, gerade in Zeiten von Social Media.

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Dies ist ein Beitrag aus der Reihe „Wie ich wurde, was ich bin“ – die Jahre 1983/84. Alle Beiträge findet ihr in der „Themensuche“ auf der rechten Seite unter der entsprechenden Kategorie.
Etwas ausführlicher kann man sich hier über die Grundlagen des Cursillo informieren. Wer’s noch ausführlicher möchte – bitte melden.
Das Beitragsbild zeigt das heutige Logo der Volksmission (By Bertha 001 – Own work, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=30503478)
Das Taschenbuch „Zeig uns den Weg“ ist der „Prototyp“ gewesen. Bekannte Persönlichkeiten wie der Schlagertexter Ernst Bader, Liedermacher Andreas Malessa, der Theologe Helmut Thielicke und Heinz Rühmann stehen neben „Menschen wie du und ich“ und erzählen von ihrem Glauben. Die Titel der Bücher zeigen auch die Richtung, in die sich das Projekt – zumindest in Hamburg – immer deutlicher bewegte: Von „Zeig uns den Weg“ über „Mitten auf dem Weg neu anfangen“ (Harburg) zu „Sich begegnen“ (HH-Mitte). So wie die Vorgängerprojekte von „Neu anfangen“ in Finnland und der Schweiz auch noch „Ich hab’s gefunden“ geheißen hatten.

Bingen, 15. Juli 2016

  1. Teil der Reihe über die Großen Exerzitien

Der Zug fährt in den Hauptbahnhof von Bingen ein. Ich wuchte meinen Koffer aus dem Gepäcknetz. Der Schmerz schießt mir in den Rücken. Schon seit einigen Tagen bin ich offenbar total verspannt. Drei Ärzte konnten bisher nicht wirklich helfen. Der letzte versprach mir immerhin, es würde demnächst besser werden.

Mit dem Taxi fahre ich zu meinem Ziel, dem Kardinal-Volk-Haus auf dem Rochusberg oberhalb des Rheins. Weiterlesen