Lichtblick der Woche

Nun brennt im weit entfernten Palästina für uns eine Kerze. Inke hat gerade das Heilige Land besucht, und hat sie in der Brotvermehrungskirche in Tabgha aufgestellt.

Brotvermehrung KerzeIn Israel hat Jesus gelebt und gewirkt, gepredigt und Wunder getan. Seit 70 Jahren ist es ein heiß umkämpftes Land mit sehr wenig Hoffnung auf Frieden. Ein Land, in dem die Menschen aber nicht aufgeben.

In Tabgha hat Jesus mit 5 Broten und 2 Fischen 5000 Menschen satt gemacht. Ein Wunder, dass wir kritische Theologen uns so erklärt haben: Viele Menschen entdeckten, dass sie Brot in der Tasche hatten und teilten. Das ist nicht falsch. Wir aber wissen auch: Wo Menschen teilen – ihr Glück und ihre Trauer, ihre Angst und ihre Stärke -, da wächst die Hoffnung ins Wunderbare.

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Beitragsbild: Mosaik in der Brotvermehrungskirche in Tabgha. Von Berthold Werner – Eigenes Werk, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5226544
Bild im Text: Kerzen in der Brotvermehrungskirche. Eine von ihnen ist unsere. © Inke Thiesen

Jeremia. Zwei Predigten

Eigentlich hätte ich am letzten Sonntag auf der Kanzel stehen sollen. Aber dann grätschte eine gefährliche Metastase dazwischen. Die Predigt stand im Entwurf, und ich habe sie nun noch einmal aufbereitet. So wie hier abgedruckt hätte sie also aussehen können.

Daniel Birkner hat dann den kompletten Gottesdienst übernommen. Als ich meine Predigt überarbeitete, kannte ich die seine nicht. Jetzt finde ich es beeindruckend, wie gut sich beide ergänzen. Aber urteilt selbst. 

Die Last des Prophetenamts (Jeremias fünfte Klage)

7 Herr, du hast mich überredet und ich habe mich überreden lassen. Du bist mir zu stark gewesen und hast gewonnen; aber ich bin darüber zum Spott geworden täglich, und jedermann verlacht mich. 8 Denn sooft ich rede, muss ich schreien; »Frevel und Gewalt!« muss ich rufen. Denn des Herrn Wort ist mir zu Hohn und Spott geworden täglich. 9 Da dachte ich: Ich will seiner nicht mehr gedenken und nicht mehr in seinem Namen predigen. Aber es ward in meinem Herzen wie ein brennendes Feuer, verschlossen in meinen Gebeinen. Ich mühte mich, es zu ertragen, aber konnte es nicht. 10 Denn ich höre, wie viele heimlich reden: »Schrecken ist um und um!« »Verklagt ihn!« »Wir wollen ihn verklagen!« Alle meine Freunde und Gesellen lauern, ob ich nicht falle: »Vielleicht lässt er sich überlisten, dass wir ihm beikommen können und uns an ihm rächen.« 11 Aber der Herr ist bei mir wie ein starker Held, darum werden meine Verfolger fallen und nicht gewinnen. Sie müssen ganz zuschanden werden, weil es ihnen nicht gelingt.

(Hier geht es gleich zur Predigt von Erik Thiesen, die wieder kursiv gesetzt ist.)

Daniel Birkner: 

Liebe Gemeinde!

Jeremia leidet. Er leidet an seinem Leben, er leidet an seinem Gott, er leidet an seinem Auftrag, er leidet an sich selbst.

Er kann einem leid tun.

Wut und Verzweiflung stecken in seinen Worten. Er ringt mit seinem Gott.

„Ich bin zum Spott geworden. Sie lachen mich aus!“

Und er hat Angst: Sie wollen mich verklagen! Sie warten nur darauf, dass ich einen Fehler mache und falle. Sie wollen Rache an mir üben!

Er spricht das Klagegebet eines Menschen, der sich von Gott verlassen und sogar getäuscht fühlt. Und vielleicht die eine oder der andere von uns auch manchmal so.

„Du hast mich überredet. Ich habe das eigentlich nicht gewollt – und jetzt stehe ich hier und alles ist anders als gedacht. Als ich darüber nachdachte, dir zu folgen Gott, hatte ich mir erhofft, durch den Glauben ein erfülltes Leben zu finden, aber jetzt erlebe ich die andere Seite der Nachfolge. Ich leide unter meinem Auftrag.“

Um Nachfolge geht es heute. Und Jesus, das haben wir im Evangelium gehört, verschweigt nicht, dass es schwierig sein kann, dem eigenen Glauben zu folgen. Die Beschäftigung mit dem Glauben verändert einen Menschen: In seiner Wahrnehmung des eigenen Lebens, in der Wahrnehmung seiner Umwelt und der Menschen, in seiner Sicht auf das Leiden anderer. Wer sich mit dem Glauben beschäftigt, wer sich damit auch auf den Gedanken der Nächstenliebe einlässt, wird achtsamer und empfindsamer.

Das Leiden und das Kreuz Jesu – damit ist eine weitführende, tiefgehende Theologie verbunden – aber als erstes will es vielleicht erst einmal das: Mitgefühl erzeugen. Und zwar nicht mit Gott oder Jesus – es geht Jesus nie um sich selbst – sondern Mitgefühl mit Menschen, die leiden. Im Kreuz erblicken wir einen Auftrag: Nehmt das Leiden wahr. Verschließt euch nicht denen gegenüber, die Leid tragen.

Und dann entdecken wir das Leid so vieler Menschen auf unserer Erde und wissen erst einmal gar nicht, wie wir damit umgehen sollen. Am liebsten wieder weggucken.

Jeremia aber bekommt es nicht mehr hin, dass seine innere Stimme schweigt. Er wollte nicht mehr an Gott denken, er wollte nicht mehr predigen, aber es brannte in ihm wie Feuer, sagt er. Das Leid der anderen hat ihm weh getan. Er konnte und wollte dazu nicht mehr schweigen.

„Frevel und Gewalt!“ muss er rufen. Das bringt ihm keine Freunde ein. Im Gegenteil.

Die Menschen mögen es nicht, kritisiert zu werden. Der Überbringer schlechter Nachrichten wurde in der Antike auch schon mal deswegen umgebracht. Zumindest mundtot möchte man sie manchmal machen.

In den letzten Wochen dreht sich viel um Greta und die Schülerproteste bei der Aktion „Friday for future“.

Und die einen zollen ihr größten Respekt und die anderen überschütten das Mädchen persönlich wie auch die ganze Kampagne mit Hohn und Spott.

„Die gehen doch nur auf die Demo, um Schule zu schwänzen!“ „Die haben keine Ahnung von dem, was sie reden und fordern.“ Sie könnten doch auch am Wochenende demonstrieren“ schallt es ihnen entgegen.

Aber sie demonstrieren nicht aus Lust am Demonstrieren oder Schuleschwänzen, sondern aus Angst und Sorge. Und sie bekommen die Aufmerksamkeit nur durch den Rechtsbruch, es am Freitag zu tun. Und ich frage mich, warum die Schulen nicht aufspringen und das Thema aufgreifen? Warum nehmen sie das Interesse nicht auf, um mit ihren Schülerinnen und Schülern Projekte jetzt entwickeln, um dieses brennende Lebensthema zu vertiefen? Und dann sollten sie als Schulveranstaltung zu den Demos gehen. Wie oft habe ich in der Schule gesessen und mich gefragt: „Wofür brauche ich das in meinem Leben?“  Die Beschäftigung mit diesem Thema würde dem Lehrauftrag „Lernen fürs Leben“ und dem Bedürfnis der Jugendlichen entsprechen und es miteinander verbinden.

Viele Erwachsene stimmen nun den Jugendlichen und Kindern zu – ich tue das auch. Aber ich tue es auch mit einem schlechten Gewissen und mit Schuldgefühlen. Wir haben – wider besseren Wissens – zu wenig bisher gemacht. Wir sind zu selten wie sie auf die Straße gegangen, um zu protestieren und die Politik unter Druck zu setzen. Und zugleich ist ja nicht nur die Politik Schuld: Wir waren und sind in unserem Verhalten unverantwortlich gegenüber nachfolgenden Generationen gewesen.

Das kath. Hilfswerk Misereor hat im vergangenen Jahr eine Ausstellung mit 99 Karikaturen zu dem Thema: „Klima, Konsum und andere Katastrophen“ gemacht. Es war ein Blick in einen kritischen Spiegel. Eine Karikatur stellte einen Großvater mit seiner Enkeltochter dar. Sie stehen vor einer Landschaft mit kaputten Bäumen, und der Großvater sagt: „Ja meinst du denn im Ernst, da wäre auch nur einer noch in sein Auto gestiegen, wenn wir das gewusst hätten damals?“ Jetzt klagen die Jugendlichen uns an. „Ihr habt es gewusst und habt nichts getan!“

Martin Buber schreibt: „Die große Schuld des Menschen sind nicht die Sünden, die er begeht – die Versuchung ist mächtig und seine Kraft gering -, die große Schuld des Menschen ist, dass er in jedem Augenblick die Umkehr tun kann und nicht tut.“

Es gibt Menschen, die den Klimawandel immer noch leugnen, andere, die ihn relativieren: „Vor 30 Jahren dachten wir, dass das Ozonloch immer größer würde! Dass alle Wälder sterben. Ist doch alles nicht so schlimm gekommen.“ Das erinnert mich an den Evangeliumstext: „Ach nein, Jesus. Ich würde gerne was tun und dir folgen, aber nicht gleich!“ Wenn Jesus sagt: „Wer die Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes“, dann verstehe ich ihn so: „Sobald du die Wahrheit erkannt hast, ist es Zeit danach zu handeln.“

Die nachfolgende Generation hat Angst, dass Punkte in der Entwicklung des Klimas erreicht werden, in denen Prozesse in der Natur in Gang kommen, die unumkehrbar sind und zu dramatischen Veränderungen der Lebensbedingungen führen werden.

Dem Gewissen, dem Glauben, der inneren – auch anklagenden Stimme zu folgen ist nicht leicht. Nachfolge ist nicht immer leicht. Sie kann dazu führen, sich selbst hinterfragen zu müssen und auch die Welt mit anderen Augen zu beurteilen.

Was ich an Greta und all den demonstrierenden Jugendlichen bewundere, was ich an Jeremia bewundere – ist, dass er, dass sie es trotz des Gegenwinds, der ihnen entgegenschlägt, tun und dass sie nicht mehr schweigen wollen.

Das ist auch eine Form von Zivilcourage. Davon möchte ich lernen.

Das ist auch damit gemeint: den Hand an den Pflug zu legen und dann nach vorne zu sehen und was not ist zu tun.

Nachfolge braucht Mut.

Man muss kein Christ sein, um so zu handeln, zu fühlen und zu denken. Aber unser Glaube kann uns zu einer solchen kritischen Haltung führen und er kann uns den Mut geben, entsprechend zu reden und zu handeln.

Auch Jeremia kommt schließlich wieder dahin, doch zu hoffen: Gott wird bei mir sein wie ein starker Held.

Gegen die inneren Stimmen, die er hört und gegen die Stimmen von außen, die ihn einschüchtern wollen, hofft er, dass Gottes Stimme in ihm stärker sein wird. Und dass er Kraft aus dem Glauben bekommt.

Als zu Beginn der Woche in einer Diskussionsrunde bei Markus Lanz die Hamburger Schülerin, die hier die Demonstrationen organisiert, gefragt wurde, zu welchen Opfern sie bereit wäre, antwortete sie zunächst, dass sie vegan lebe und auf Flugreisen verzichten würde. Aber, und das fand ich noch viel interessanter, sie sagte, das seien aber keine Opfer für sie. Sie tue das ja für ihre Zukunft und ihr Leben.

Das ist Weisheit! Denn der Gedanke „sich einschränken zu sollen“ löst sofort Abwehr aus. Aber die Einsicht, dass es dem eigenen Leben dient, weckt Bereitschaft. Schon in der antiken Philosophie hat man über Glück so nachgedacht, dass man erkannte: es gibt Dinge oder Handlungen, die uns jetzt glücklich machen, aber auf Dauer Unglück bringen. Dem gegenüber gibt es andere Dinge, die nicht gleich, aber auf Dauer dann zu einem glücklichen Leben führen. Und natürlich ist letzteres vorzuziehen.

Wenn der Glaube in uns zur Anklage wird, dann nicht um uns zu sagen, wie schlecht wir sind, sondern um uns zu einem besseren, weil gerechteren und nachhaltigeren Leben zu locken. Der Glaube appelliert an unsere Kreativität, an unsere Phantasie, an unsere Liebe und Gefühl für Gerechtigkeit. Er macht uns, wie ich eingangs sagte, achtsam und mitfühlsam. Was wir tun, tun wir für uns, für die Generationen nach uns, für Menschen und Mitgeschöpfe, die andernorts schon unter dem Klimawandel leiden.

Die Schülerin wurde von Markus Lanz dann abschließend eingeladen, ein Schlusswort zu sprechen. Er sagte sinngemäß: „Du hast jetzt noch 1 ½ Minuten, alles zu sagen, was dir wichtig ist.“

Sie überlegte kurz, und antwortete: „Ich fasse es mal so zusammen: Wenn nicht jetzt, wann dann?“

„Wer die Hand an den Pflug legt und sieht zurück, ist nicht geschickt für das Reich Gottes.“

Amen

Erik Thiesen:

Liebe Gemeinde!

Jeremia gehört zu den bekanntesten Propheten und wird in der Bibel zu den drei „großen“ gezählt. Das liegt in erster Linie am Umfang seines Buches. Aber auch daran, dass er uns wie kaum ein anderer biblischer Autor auch persönlich ganz intensiv nahe kommt. In verschiedenen Kapiteln seines Buches öffnet er sich und sein Innerstes. Und was wir sehen und erleben – ist dunkel. Er ist enttäuscht, er leidet.

Er leidet an seinen Mitmenschen, die ihn ausstoßen und sogar verfolgen und ins Gefängnis stecken. Noch nicht einmal seine Familie hält zu ihm. Bis auf ganz wenige Freunde, Baruch gehört zu ihnen, ist er allein und vor allem einsam. Und das, weil er ihnen eine Botschaft zu verkünden hat, die er selbst nicht mag – die Botschaft vom Untergang Israels und Judas.

„Anstatt positiv zu denken“, sagen sie, untergräbt Jeremia die gesellschaftliche Moral. Und das gerade jetzt, im Angesicht der Gefahr aus Babylon, in der wir alle Kräfte mobilisieren müssen.“ – „Im Gegenteil“, meint Jeremia, „unterwerft euch dem Angreifer und überlasst den Rest dem Willen Gottes.“

Und nicht zuletzt leidet Jeremia an sich selbst, an seiner eigenen Schwäche: Er ist zu jung, zu ungeschickt, zu hilflos, um ein guter Prophet zu sein und das Wort Gottes wirksam zu verkünden. Eines Gottes, an dem er übrigens selbst leidet. Denn der hat ihm diese Unheilsbotschaft aufgetragen. Und ihm versprochen, bei ihm zu sein. Und ihn dann doch allein gelassen und an seine Feinde ausgeliefert.

Denkt Jeremia an Gott, dann nicht an Geborgenheit und Liebe, sondern an Dunkelheit und Einsamkeit. Und da stellt sich doch die Frage: Warum bleibt er bei ihm? Warum kehrt er ihm dann nicht den Rücken? Täte er das, er bräuchte keine Unheilsbotschaften mehr zu überbringen, das Verhältnis zu Familie, Freunden und Nachbarn könnte sich normalisieren. Jeremia würde es einfach besser gehen. Für den modernen Menschen wäre das völlig normal.

Aber nein, Jeremia bleibt. „Von Gott gepackt“, so nennt Elie Wiesel sein kleines Buch über „prophetische Gestalten“. Das gilt für Jeremia, besonders für ihn. Aber wie macht Gott das? In welcher Sprache spricht er zu Jeremia? Als Stimme aus dem Off? Welche Möglichkeiten hatte Gott damals, Menschen zu überzeugen? Oder waren die Menschen einfach naiver als wir heute?

Nun, möglicherweise hat sich auch gar so viel verändert seit damals. Vielleicht hat Jeremia gar keine sonderbaren Stimmen gehört. Vielleicht war seine Botschaft, seine Überzeugung wie bei mir entstanden: Durch Beobachtung der politischen Zustände, durch innere Überzeugungen, durch das geduldige Hören auf eine innere Erkenntnis.

Jeremia kam aus Anatot. Dieser Ort liegt eigentlich nicht weit weg von Jerusalem, etwa 7 km. Und doch war er ein Ort der Verbannung, man kam schlecht hin, und er lag ganz am Rand des Jerusalemer Verwaltungsbezirks. Jeremia war also nah genug am Zentrum der Macht, um sich ein Bild von der politischen Realität machen zu können. Aber er war nicht Teil des Systems, er konnte sich einen unabhängigen Blick bewahren. Und das machte ihn hellsichtig. Und wenn er den Willen und die Worte Gottes verkündet, dann klingt es wie: Seht ihr denn nicht, was vor Augen liegt? Sehr ihr nicht die übergroße Bedrohung durch die Babylonier? Woher eure katastrophale Überschätzung eurer Möglichkeiten?

Seine Gegner aber denken in anderen Kategorien. Sie sehen den Aufwiegler. Wenn wir jetzt nicht alle an einem Strang ziehen, sagen sie, dann erst kommt die Katastrophe. Wir brauchen keinen, der in Frage stellt. Keinen, der den Zweifel nährt. Wir wollen überleben, und wir werden es, denn Gott ist mit uns. Und die Ägypter sind es auch.

Und beide Seiten graben sich ein, kämpfen verzweifelt und mit allen Mitteln – wobei Jeremia natürlich in einer ganz schwachen Position ist. Das Einzige, was er auf seiner Seite hat, ist seine Überzeugung. Dass er letztlich auch politisch Recht haben wird, kann damals noch keiner wissen.

Und Jeremia ist auch keineswegs so selbstsicher, wie seine Botschaft manchmal glauben lassen will – wenn er mit großem Pathos verkündet: So spricht der Herr! Immer wieder fragt er nach dem Sinn des Ganzen, und er findet ihn nicht. Immer wieder sucht er nach sich selbst, sucht nach einer Gemeinschaft, die ihn trägt, und immer wieder wird er ausgestoßen, ja verfolgt. Nur wenige Freunde bleiben ihm. Denn wenn es darauf ankommt, will er auch keine Kompromisse eingehen. Er sucht nach der Wahrheit – oder besser: nach Wahrhaftigkeit in Zeiten der Unaufrichtigkeit.

Generationen von Predigern und Predigerinnen haben versucht, in Jeremias Fußstapfen zu treten. Sich nicht von der Politik oder der Wirtschaft einfangen zu lassen, sondern zu sagen, was ist. Ich denke da zum Beispiel an Margot Käßmanns Ausspruch: „Nichts ist gut in Afghanistan.“ Sie hat damit der offiziellen Lesart widersprochen und gerade von sogenannten Realpolitikern viel Gegenwind bekommen. Sie hat sich an ihrer Überzeugung orientiert, ihrer Ethik vom Frieden, ihrer Orientierung an Bibel und Glauben.

Trotzdem hat sie mich nicht überzeugt. Gerade weil sie sich so sehr an ihrer christlichen Botschaft orientiert hat. Zu Recht, so meine ich, muss sie sich fragen lassen, ob man die Taliban wirklich effektiv mit Gebeten bekämpfen kann. Und welche Strategie nun wirklich die richtige ist, kann man erst im Nachhinein sagen. Wenn überhaupt.

Ich glaube auch nicht, dass wir als Christinnen und Christen der Politik sagen müssen oder auch nur können, wie sie zu handeln habe – so gerne wir auch ein solches sogenanntes „Wächteramt“ ausüben würden. Ich glaube viel eher, dass wir gar keine Antworten geben sollten, sondern vielmehr die Fragen stellen, die sonst keiner stellt.

Martin Buber erzählte dazu einmal eine Geschichte: „Es ereignete sich, dass ich einmal den Besuch eines unbekannten jungen Menschen empfing, ohne mit der Seele dabei zu sein. Ich ließ es durchaus nicht an einem freundlichen Entgegenkommen fehlen, ich unterhielt mich mit ihm aufmerksam und freimütig – und unterließ nur, die Fragen zu erraten, die er nicht stellte. Diese Fragen habe ich später ihrem wesentlichen Gehalt nach erfahren, erfahren, dass er nicht beiläufig, sondern schicksalhaft zu mir gekommen war, nicht um Plauderei, sondern um Entscheidung, gerade zu mir, gerade in dieser Stunde. Was erwarten wir, wenn wir verzweifeln und doch noch zu einem Menschen gehen? Wohl eine Gegenwärtigkeit, durch die uns gesagt wird, dass es ihn dennoch gibt, den Sinn.“ Und was wir für den persönlich-seelsorglichen Bereich erwarten, gilt genauso für den politischen.

Wenn wir uns als Christinnen und Christen mit den Fragen unserer Gesellschaft beschäftigen, mit der Politik oder mit der Wirtschaft, dann ist unser Ort nicht der Tempel der Kirche – also nicht unser religiöser Elfenbeinturm, unser biblisches Sonderwissen. Dann ist es aber auch nicht der Tempel der Macht. Es ist nicht unsere Aufgabe, irgendeine politische Richtung zu unterstützen.

Dann ist es der Ort, der für Jeremia Anatot war: Nahe genug, dass wir dabei sind, mit den Menschen fühlen und denken, den politischen Wind spüren, dass wir die Fragen erahnen, die die Menschen nicht stellen und nicht zu stellen wagen. Und weit genug weg, dass wir uns nicht von ihnen vereinnahmen lassen. Dass wir uns die Zeit nehmen und geduldig sind, bis die Antworten vielleicht sogar von selbst kommen. Es ist der Vorteil einer Kirche, die kleiner und unbedeutender wird: Wir können auch einmal zu spät kommen. Die Hauptsache ist, dass wir dann das hilfreiche Wort zu sagen haben, das weiterbringt, den Frieden fördert, Menschen zusammenführt. Dann wird aus unserem Wort Gottes Wort.

Amen.

Zwischenruf: Homosexualität und Kirche

Im „Zwischenruf“ reagiere ich auf Zeitschriftenartikel, die ich gerade gelesen habe. Manchmal möchte ich einfach Dampf ablassen. 

In den „Zeitzeichen 1/19“ las ich in einem Artikel über das christliche Eheverständnis von Horst Gorski – diese Zeitschrift ist nur für Abonnenten abrufbar, deshalb zitiere ich ausführlicher:

„1996 veröffentlichte der Rat der EKD [eine Schrift unter dem Titel] ‚Mit Spannungen leben. Eine Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Thema Homosexualität und Kirche‘, die unter Vorsitz von Wilfried Härle von einer im Jahre 1994 eingesetzten Ad-hoc-Kommission erarbeitet wurde. Der Text beginnt mit einer Entschuldigung für das Homosexuellen in der Vergangenheit angetane Unrecht. Sodann werden die biblischen Aussagen zu Sexualität und Homosexualität einer gründlichen Prüfung unterzogen. Es zeige sich, dass es keine biblischen Aussagen gibt, die Homosexualität in eine positive Beziehung zum Willen Gottes setzen. Homosexuelle Praxis als solche wird als dem ursprünglichen Schöpferwillen Gottes widersprechend qualifiziert. Angesichts der zentralen Stellung, die das Liebesgebot in der Heiligen Schrift habe, dürfe jedoch auch homosexuelles Zusammenleben nicht von seiner Geltung ausgenommen werden. Dies hebe jedoch den biblischen Widerspruch nicht auf. Die damit gegebene Spannung müsse ausgehalten werden.“

Bis hierher war ich gekommen. Eine ähnliche Argumentation höre ich, mal mit stärkerer, mal mit weniger Ablehnung der Homosexualität verbunden, immer wieder. Als die Nordkirche gegründet wurde, wollte der pommersche Bischof Abromeit das Thema „Homosexualität und Pfarramt“ wieder auf die Tagesordnung setzen. Der nordelbische Bischof Ulrich aber erklärte kategorisch: Über manche Dinge diskutieren wir nicht mehr.

Vor einigen Jahren erhielt ich im Zusammenhang mit einer Taufe einen Anruf einer Frau aus Leipzig. Sie wollte gerne Patin werden, sei aber nicht in der Kirche. Ich erklärte ihr: „In der Tat kann nur Patin werden, wer Mitglied der Kirche ist. Aber wir finden bestimmt eine Lösung.“ Daraufhin meinte sie: „Ich finde Kirche ja prinzipiell gut, und ich glaube auch an Gott.“ Und ich dachte: Das sagen sie alle. Und ich glaube ihnen ja auch, aber es geht trotzdem nicht.

Aber dann sprachen wir weiter, und sie erzählte: „Ich habe hier in Leipzig einen Gottesdienst besucht, und da hat der Pfarrer gesagt: Homosexualität ist Sünde, und deshalb sind Homosexuelle auch keine vollwertigen Mitglieder am Tisch des Herrn. Naja, und weil ich lesbisch bin, bin ich eben ausgetreten.“ Und ich antwortete ihr: „Recht so. Wenn ich schwul wäre, und ein Pfarrer würde das zu mir sagen, hätte ich es genau so gemacht. Ich bin mir nur nicht sicher, ob ich danach überhaupt noch mit einem Vertreter der Kirche gesprochen hätte.“ Und dann erzählte ich ihr von Hamburg: „Einer meiner früheren Pröpste ist bekennend schwul gewesen und jetzt einer der wichtigsten Theologen in der EKD. Und mit der Meinung des Leipzigers Pfarrers stimme ich überhaupt nicht überein.“ Es wurde noch ein gutes Gespräch – und, womit ich überhaupt nicht gerechnet hatte – zwei Wochen später besuchte sie mich und trat wieder in die Kirche ein. – Der „frühere Propst“ ist übrigens derselbe, der auch den zeitzeichen-Artikel geschrieben hat.

Ich selbst bin mit der Vorstellung groß geworden, Homosexualität sei ebenso Sünde wie vorehelicher Geschlechtsverkehr. Dann lernte ich die historisch-kritische Methode kennen. Das heißt: Die Bibel in ihrem historischen Kontext verstehen. Damals, vor zwei- bis dreitausend Jahren, war es einfach die Aufgabe des Mannes, viele Kinder zu zeugen. Es war eine Frage des Überlebens für die Familie, den Clan, das Volk. Wer sich freiwillig aus dieser Aufgabe verabschiedete, versündigte sich an seinen Nächsten. Onan zum Beispiel, ein Enkel des Erzvaters Jakob, „ließ seinen Samen zur Erde fallen“ (1. Mose 38,8-10) – nicht durchs Onanieren übrigens, sondern durch einen Coitus interruptus – und wurde dafür von Gott getötet. Sexualität war keine Privatsache, sondern Dienst an der Gemeinschaft. Das galt nicht nur für biblische Zeiten, sondern im Prinzip noch bis ins vorletzte Jahrhundert hinein.

Keiner wird bestreiten, dass sich Zeiten und Rahmenbedingungen grundlegend geändert haben. Kein Bischof tritt mehr für die Sklaverei ein, obwohl diese Gesellschaftsform für die biblischen Autoren völlig selbstverständlich war. Und ausgerechnet bei der Homosexualität tun wir so, als ob wir mit der Moral von Halbbeduinen die Welt von heute retten könnten.

Die Orientierungshilfe baut eine „Spannung“ auf zwischen dem Liebesgebot und dem Wortlaut der Bibel. Diese Spannung existiert nicht, wenn wir den Wortlaut der Bibel in den Dienst der Liebe stellen. Hat nicht Jesus so etwas immer wieder gefordert?

Im Artikel beschreibt Horst Gorski dann, dass die evangelische Kirche in den vergangenen 20 Jahren große Schritte getan hat auf dem Weg zur Gleichberechtigung von hetero- und homosexuellen Partnerschaften. Aber sie laviert immer noch hin und her. Und ich finde es schon unbefriedigend, dass darüber überhaupt geredet werden muss.

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Beitragsbild von geralt auf Pixabay

 

Nachdenken über Jesus

Jesus sei ganz Gott und ganz Mensch, heißt es. Aber wie ist das zu verstehen? Die Menschen stritten sich, ob „der Sohn“ mit „dem Vater“ nun wesensgleich sei oder nur wesensähnlich – griechisch ὁμοούσιος oder ὁμοιούσιος. Es ging um einen Buchstaben, den kleinsten im Alphabet, das ι. Deshalb wurden Kriege geführt und Konfessionen getrennt. War es das wert?

Nein, definitiv nicht. Schon die Fragestellung ist mir herzlich egal.

Wichtig ist mir nicht, ob er mit dem Vater, sondern mit mir wesensähnlich oder sogar wesensgleich ist. Denn ich habe das tiefe Gefühl: Er steht auf meiner Seite. Er ist wie ich. Oder ich wie er. Oder besser: Ich auf seiner Spur.

Wie er habe ich einen handwerklichen Beruf ausgeschlagen. Uns zog es wohl beide eher zu Büchern – ihn zur Heiligen Schrift, mich eher zu Karl May. Beide suchten wir unseren eigenen Weg, gerade auch in der Auseinandersetzung mit der Familie. Mir gefällt auch sein Hang zum Feiern, ob in Kana, bei den Zöllnern oder den Pharisäern.

Er sucht und findet immer wieder die positive und leichte Seite im Leben – und an Gott. Gott ist jemand, der die Vögel und Blumen beschützt – und mich erst recht. Gott fragt nicht nach Schuld und Irrwegen. Wer zurückfindet wie der „verlorene Sohn“, bekommt erst einmal einen Kaffee oder gleich ein Festmahl ausgerichtet. Und dabei weiß er sehr wohl um die Gefahren und Untiefen des Lebens, um die Wankelmütigkeit des Schicksals, um die Unberechenbarkeit des Vaters. Schau nicht zu sehr dahin, sagt Jesus. Hoffe gegen die Erfahrung.

Und immer wieder sucht er den Weg des Friedens, des Ausgleichs, der Gerechtigkeit. Auch wenn ihn das in große Schwierigkeiten bringt. Schließlich hat er nur die Wahl, entweder seinen Weg zu verlassen oder ans Kreuz zu gehen. Und dieser innere Kampf, wie er ihn im Garten Gethsemane ausgefochten hat, ist mein Kampf mit der Krankheit. „God, Thy will is hard, but you hold every card…“ (Jesus Christ Superstar). Und von seinen letzten Worten am Kreuz darf keines fehlen. Denn sie alle umfassen das Leben wie das Sterben: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ Mk. 15,34 und Mt. 27,46), „Es ist vollbracht“ (Joh. 19,30) und „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist.“ (Lk. 23,46).

Paulus selbst betont immer wieder, dass wir mit Jesus eins sind. Ja, wir sind mit ihm gestorben und auferstanden (Römer 6,3-5). Jesus lebt in uns und wir in ihm. Das kann ich so allerdings (noch?) nicht ganz nachvollziehen.

menas-meditationVorerst reicht es mir, wenn ich Jesus als meinen Freund bezeichnen kann. Der mich stützt und unterstützt und gleichzeitig den Raum gibt, damit ich mich entfalten kann. Der mir die Wahrheit sagt, die gerade gut ist für mich. Der meinen Weg mit mir geht.

Diese Ikone liegt auf meiner Meditationsmatte; ich gehe täglich daran vorbei. Sie erinnert mich an meine Sehnsucht, geborgen und aufgehoben zu sein und zur Ruhe zu kommen. Die Realität sieht zurzeit anders aus. Aber diese Ikone holt mich immer wieder ein bisschen aus der Realität heraus in die Wirklichkeit Jesu. Das tut gut.

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Beitragsbild: Jesus-Mosaik in der Ayia Napa Kapelle, Zypern. Bild von dimitrisvetsikas1969 auf Pixabay
Menas-Ikone: Die Quelle kann ich nicht mehr zurückverfolgen. Bitte ein Hinweis, wenn eine Urheberrechtsverletzung vorliegt.

 

Nachdenken über Gott

„Wenn dir der Gedanke kommt, dass alles, was du über Gott gedacht hast,
verkehrt ist, und dass es keinen Gott gibt, so gerate darüber nicht in Bestürzung.
Es geht vielen so. Glaube aber nicht, dass dein Unglaube daher rühre,
dass es keinen Gott gibt.

Wenn du nicht mehr an den Gott glauben kannst, an den du früher geglaubt hast,
so rührt das daher, dass in deinem Glauben etwas verkehrt war,
und du musst dich besser bemühen, zu begreifen, was du Gott nennst.

Wenn ein Wilder an seinen hölzernen Gott zu glauben aufhört, heißt das nicht,
dass es keinen Gott gibt, sondern nur, dass der wahre Gott nicht aus Holz ist.“
(Leo Tolstoi)

Mit dem Krebs veränderte sich mein Bild vom Glauben, von Gott. Vielleicht war es auch gar keine Veränderung, sondern eine Intensivierung; die Grundlinien waren schon früher gelegt. Aber die Voraussetzungen hatten sich verändert.

Mein erster Lehrer auf dem Weg war Leonard Cohen: You want it darker. Was ist, wenn der Krebs kein Versehen Gottes war, kein „Ich geh denn mal kurz Kaffee trinken“, während der Teufel den Hiob quält. Was ist, wenn er den Krebs wollte?

Wir kennen diesen dunklen Gott, den Richter und den, der das Leid Unschuldiger zulässt. Martin Luther nennt ihn „deus absconditus“ – den verborgenen Gott. Für den „natürlichen“ Menschen verborgen und unverständlich. Der Glaubende wendet sich dem „deus revelatus“ zu, der sich in Jesus offenbart hat – als derjenige, der die Sünde wegnimmt und den Menschen nur Gutes will.

Für mich wird der Mensch dadurch entmündigt und Gott nicht ernst genommen. Für mich gibt es keinen „lieben Gott“ mehr, einen, der von seinen dunklen Seiten reingewaschen wird.

Widerspricht das aber nicht der gesamten biblischen Botschaft? Ist Gott nicht Liebe, menschenfreundlich und gut?

Ja, auch. Er ist sogar ganz großartig. Wenn er in allem ist und alles in ihm, dann ist sein Wesen ebenso schön und grandios, wie es das Leben eben – auch – ist.

Er ist beides, mal so und mal so, gut und böse, die coincidentia oppositorum (Nicolaus von Kues), das Zusammenfallen der Gegensätze. In der Theorie. Und deshalb in der Praxis vor allem: Unberechenbar.

Wie ich damit umgehen kann, habe ich bei Psychologinnen und Neurobiologen, Ärztinnen und Theologen gelernt. Die Kunst scheint darin zu bestehen, die Realität und eigene Wahrnehmung nicht zu leugnen – und dann die Fähigkeit zu haben, auf das Gute zu schauen.

Unsere Freundin Jutta Seeland (Psychotherapeutin) betont mit Gerald Hüther (Neurobiologe), dass unser Bewusstsein nicht nur unser Verhalten, sondern sogar das Verhalten unserer Zellen beeinflusst. Ärzte sagen, dass nachgewiesenermaßen – neben der Bewegung – eine gute Einstellung eine positive Wirkung hat. Für alle anderen alternativen Therapien gibt es keine ausreichenden Belege.

Giovanni Maio (Arzt) sagt: „Hoffnung ist ein Offensein für das, was kommen wird, und ein Vertrauen darauf, es bewältigen zu können.“ Und Fulbert Steffensky (Theologe): Hoffen ist „zu handeln, als gäbe es einen guten Ausgang“. Schließlich noch Sebastian Murken (Religionspsychologe): „Eine Religion hilft vor allem denen, die stark daran glauben, dass sie ihnen hilft.“

So verstehe ich auch die Botschaft Jesu: Er weiß darum, wie gefährlich das Leben ist. Er weiß um die Gefahr voPsalsssssssssssssssssn Hunger und Krankheit, um Unterdrückung und Folter. Und doch sagt er: Sorget nicht! (Matthäus 5,25ff.) Wenn wir ihn nicht für unzurechnungsfähig halten sollen, dann meint er damit: Schaut auf die hoffnungsvolle Seite des Lebens. Geht nicht auf in den Bedrängungen der Welt. Sucht die gute Seite Gottes als Verbündete.

Es ist also wenig hilfreich, einfach nur auf Gott zu vertrauen und zu glauben, dass er es schon gut machen werde. Weniger „Der Herr ist mein Hirte“ (Psalm 23,1) als vielmehr: „Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen.“ (Psalm 18,30)

Ich halte den Psalm 23 immer noch für einen schönen Text, der trösten kann und beruhigen und in den Schlaf wiegen. Aber er trägt mich nicht mehr, wenn es darauf ankommt. Genausowenig wie der Satz, den Margot Käßmann anlässlich ihrer Krebserkrankung gesagt hat: „Ich kann nicht tiefer fallen als in Gottes Hand.“ Ich fürchte: Doch, ich kann. Ich muss nicht. Selbst wenn ich bisher immer gehalten wurde, kann ich beim nächsten Mal durchgereicht werden. Zu vielen ist es schon passiert.

Die Frage, wie ich denn mit einem unberechenbaren Gott umgehen soll, werde ich nicht durch das Fürwahrhalten solcher Glaubenssätze lösen, auch nicht, indem ich über ihn rede, sondern mit ihm. Ganz grundsätzlich sagt Martin Buber dazu: „Wenn an Gott glauben bedeutet, von ihm in der dritten Person reden zu können, glaube ich nicht an Gott. Wenn an ihn glauben bedeutet, zu ihm reden zu können, glaube ich an Gott.“

Im Grunde ist es das Gottesbild der Bibel, besonders des Alten Testaments. Dort wird eigentlich relativ wenig über Gott geredet, dafür umso mehr mit ihm. Einer der für mich wichtigsten Texte steht in 2. Mose 3, die Unterhaltung des Mose mit Gott am Dornbusch. Mose erhält von Gott den Auftrag, die Hebräer aus Ägypten zu befreien. Mose lehnt ab. Alles spricht dagegen, dass er es könnte. Gott besteht darauf. Mose verlangt Garantien. Gott gibt ihm keine. Nur seinen Namen.

Und der lautet eben nicht: „Ich bin, der ich bin“ – ich bin der Ewige, der Herrscher des Himmels und der Erde. Das ist griechisches Denken. Er lautet: אֶֽהְיֶ֖ה אֲשֶׁ֣ר אֶֽהְיֶ֑ה „Ich werde mich als der erweisen, als der ich mich erweisen werde. Mit anderen Worten: Du wirst es nur herausfinden, wenn du es ausprobierst.

Und Mose geht los. Mit nichts an der Hand als den Trick mit der Schlange (2. Mose 4,2-4) und einem Bruder, der zur Not für ihn reden soll. Nicht gerade viel gegen den Herrn der damals bekannten Welt.

Es hätte schief gehen können. Und es ist auch nicht gerade glatt gegangen. Aber die Hebräer konnten Ägypten verlassen.

Schließlich ist er dann doch gestorben, bevor er am Ziel war. Sein Lebenstraum hat sich nicht erfüllt, aber seine Aufgabe hat er bewältigt.

Und ich glaube, genau das ist Leben: Nicht dass wir unsere Träume verwirklichen können, sondern dass wir eine Aufgabe haben und sie bewältigen, jeden Tag neu. Václav Havel hat gesagt: Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.“

 

Über die Schönheit

Seitdem ich darauf gestoßen bin, dass das Wort „Gnade“ in den alten Sprachen hebräisch, griechisch und lateinisch viel eher mit „Wohltat“, besser noch mit „Schönheit“ zu übersetzen ist, lässt mich dieser Gedanke nicht mehr los. Heute las ich ein Interview mit dem britischen Neurobiologen Semir Zeki, der wissenschaftlich bestätigt, „dass Liebe und Schönheit eng zusammenhängen“. Durch beide Empfindungen wird nämlich dieselbe Region im Gehirn aktiviert. Sie „ist Teil eines größeren Komplexes, der sich mit Entscheidungen beschäftigt. Vor allem bewertet er Reize, die wir als angenehm oder als Belohnung empfinden“.

Im Grunde wissen wir das auch. Zum Beispiel, wenn wir mit Goethe „zum Augenblicke sagen: Verweile doch! du bist so schön!“ Oder mit Schlingensief: „So schön wie hier kann’s im Himmel gar nicht sein.“ Das Schöne ist gleichzeitig das Gute. Die Griechen hatten dafür sogar ein Wort: Kalokagathia. Das Ideal der Vollkommenheit.

Schönheit ist aber nicht nur eine emotionale und eine ästhetische Kategorie. Sie spielt auch in der Mathematik eine Rolle. Einstein meinte einmal zu seiner Formel E=mc², was so schön ist, könne nicht falsch sein. Und der Mathematiker Hermann Weyl meinte einmal, im Zweifelsfall würde er sich immer für die „schöne“ Theorie entscheiden.

Wenn es denn stimmt, dass Schönheit auch eine zentrale Eigenschaft Gottes ist, dann lag Paul Schulz vielleicht doch nicht so falsch, als er in den siebziger Jahren fragte: „Ist Gott eine mathematische Formel?“ Damals verlor er für diese These seine Stelle als Hauptpastor der Hamburger Kirche St. Jacobi. Heute würde man mit dem Thema vielleicht etwas gelassener umgehen.

Schönheit muss natürlich nicht immer glatt und einfach sein. Auch die runzligen Gesichter von alten Menschen können schön sein, eine karge Landschaft kann es – und für manche Menschen auch ein Musikstück von Karlheinz Stockhausen. Die Bibel aber bringt noch einen Aspekt ins Gespräch, der der griechischen Tradition von Schönheit eher fremd ist. Der „ideale Mensch“ ist für sie nicht derjenige, der dem „Ideal der körperlichen und geistigen Vortrefflichkeit“ nahekommt. Es ist der gekreuzigte Mensch, der leidende. In Gott kommt es zusammen: Die Schönheit und das Leiden. Wie aber verhält es sich im wirklichen Leben?

Vielleicht so: Weil Gott das Leiden kennt, sein Sohn – und damit er selbst – sogar gestorben ist, ist er mir nahe. Und ich brauche ihn in meiner Nähe, nicht nur, um mich bei ihm zu beklagen. Ich brauche ihn, damit er mir Türen öffnet hin zur Schönheit, zum Guten, hin zum Leben.

Die heiligen drei Könige

„Da Jesus geboren war zu Bethlehem in Judäa zur Zeit des Königs Herodes, siehe, da kamen Weise aus dem Morgenland nach Jerusalem und sprachen: Wo ist der neugeborene König der Juden? Wir haben seinen Stern aufgehen sehen und sind gekommen, ihn anzubeten.“ Nur beim Evangelisten Matthäus steht diese Geschichte, die zu einer der bekanntesten der Bibel werden sollte: die Geschichte von den Heiligen drei Königen. Und wir sehen: Sie waren offensichtlich weder heilig noch drei noch Könige.

Drei wurden sie erst im 3. Jahrhundert, wegen der drei Geschenke, Könige  im 8. Jahrhundert, ihre Namen, Hautfarben und Altersangaben bekamen sie erst im Mittelalter. Und heilig gesprochen wurden sie von der katholischen Kirche nie. Hat es sie überhaupt gegeben?

Die einen sagen so, die andern so. Ich gehöre eher zu den Skeptikern. Für den Historiker ist die Faktenlage außerordentlich dünn, dünner noch als bei den anderen Geschichten von Jesus. Überhaupt ist es schwierig, die Bibel historisch zu „beweisen“, denn archäologische Funde aus der Zeit sind selten. Und für die, die es gibt, gilt die Aussage des Detektivs Phil Marlowe aus Raymond Chandlers „Lebwohl, mein Liebling“: „‚Ein Beweis‘, sagte ich, ‚ist immer etwas Relatives. Ein sehr starkes Überwiegen von Wahrscheinlichkeiten. Und dann ist noch die Frage, wie sehr einen diese Wahrscheinlichkeiten beeindrucken.'“ Aus diesem Grund drehen sich die Diskussionen um die Historizität der Bibel auch bis heute im Kreis. So behauptet der Theologe Armin Baum: „Die Evangelien enthalten keine frei erfundenen Legenden, sondern früheste historische Nachrichten über die Worte und Taten Jesu von Nazareth.“ Der Religionskritiker Richard Dawkins meint dagegen, die Evangelien seien „von Anfang bis Ende frei erfunden und reine Fiktion“.

Viele andere Theologen weisen allerdings darauf hin, dass es den biblischen Autoren nicht darum ging, historische Fakten aufzuzählen, sondern zum Glauben aufzurufen. Fiktion sei für antike Autoren keine Unwahrheit, sondern ein Stilmittel, um eine theologische Wahrheit zum Ausdruck zu bringen (Manfred Diefenbach). Und Klaus Wengst versteht zum Beispiel die Ostergeschichten als „wirkliche Gleichnisse“ und „wahre Geschichten“.

Das klingt kompliziert und arg abgehoben. Ich kann es in meiner Situation allerdings ganz gut nachvollziehen. Die biblischen Erzähler wussten sehr wohl um die historischen Umstände, und die waren damals nicht gut: Besatzung durch die Römer, Ungerechtigkeit, Armut, Krankheit. Und sie erzählten dazu die Gegengeschichte: Von Jesus, der Menschen befreit, heilt und aufrichtet. Diese Geschichten beglaubigen sich nicht durch historische Beweise, sondern durch ihre Wirksamkeit.

Auch unsere objektive Lage ist nicht gut, wenn wir nach den Aussagen der Wissenschaft und Schulmedizin gehen. Wir brauchen die Gegengeschichten, die uns Hoffnung geben. Und die von den Männern aus dem Osten ist eine solche Hoffnungsgeschichte: Sie folgten ihrem Stern und kamen zum Kind, das heilen kann. Davon erzählen ihre Geschenke, Gold, Weihrauch und Myrrhe. Alle drei waren damals anerkannte Heilmittel.

Ob diese Geschichte wahr ist, hängt nicht von ihrer historischen Glaubwürdigkeit ab, sondern ob wir sie glauben können. Und wenn wir sie glauben können, dann kann sie womöglich helfen.

Geheimnis des Glaubens

„Geheimnis des Glaubens – deinen Tod, o Herr, verkünden wir und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit.“ So sprechen die Katholiken, so sprechen wir auch manchmal zum Abendmahl. Geheimnisvoll ist schon dieser Satz – wie der Vers aus dem 1. Timotheusbrief, der ebenfalls vom Geheimnis des Glaubens spricht und Grundlage der Predigt in der Christmette in der Kirche am Markt in Niendorf war. Gemeinsam mit Daniel Birkner (seine Abschnitte sind kursiv gesetzt) konnte ich auf der Kanzel stehen.

Es ist ein Geheimnis um Weihnachten. So wie um unseren Glauben ein Geheimnis ist. Davon spricht ein Vers aus der Bibel. Paulus schreibt an Timotheus (Kapitel 3, Vers 16):

Groß ist das Geheimnis unseres Glaubens – Jesus Christus.
Er ist uns erschienen als Mensch
und freigesprochen worden im Geist.
Er wurde erkannt von den Engeln
und bekannt unter den Völkern.
Er wurde geglaubt in der Welt,
und aufgenommen in Herrlichkeit.

Groß ist das Geheimnis unseres Glaubens – Jesus Christus.

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen.

Liebe Gemeinde!

Groß ist das Geheimnis unseres Glaubens. Groß ist das Geheimnis von Weihnachten. Wie auch immer die letzten Stunden gewesen sind – ob die Geschenke glücklich gemacht haben oder enttäuschend waren, ob das Zusammensein harmonisch war oder anstrengend, ob Sie Weihnachten eher als den Geburtstag Jesu Christi oder als Fest mit der Familie gefeiert haben – jetzt sind Sie hier, um noch einmal in besonderer Weise Weihnachten zu erleben, das Geheimnis von Weihnachten.

Natürlich gibt es diejenigen, für die Weihnachten eine einzige Enttäuschung ist und immer war. Sie fliehen die Lieder, das gedimmte Licht und die allzu oft vorgetäuschte Weihnachtsharmonie. Andere erwarten schon deshalb nichts von dieser Zeit, weil das Leben für sie keine Geheimnisse kennt – nur Rätsel, die man prinzipiell lösen kann.

Wir aber reden vom Geheimnis von Weihnachten: Dass Gott in die Welt kam, damals vor 2000 Jahren. Und was kam denn überhaupt in die Welt? Gott? Auch das – ein Geheimnis. Denn wir können Gott nicht fassen, nicht denken; und jeder, jede von uns hat zudem eigene Vorstellungen von dem Gott, an den wir glauben oder an den wir gerade nicht glauben. Gott ist der große Unbekannte, die Lebenskraft, das Leben an sich. Er ist der liebe Gott und verhindert doch nicht das ganze Leid auf dieser Welt. Er ist unberechenbar. Unfassbar. Unsichtbar.

Aber wir sagen: Er hat sich gezeigt. Er ist erschienen. In einem Menschen. Er wurde sichtbar und anfassbar. Damals in Bethlehem, in einem kleinen Kind. In Windeln gewickelt – und die hatte es nicht nur, damit es von den Hirten besser erkannt wurde. Die hat es gebraucht. Denn Gott wurde ein normaler Mensch – wie du und ich.

Das Geheimnis von Weihnachten: Der unfassbare, allmächtige Gott offenbart sich in einem Kind. Ein einfaches Kind. Das soll der Erlöser sein. Später werden auch viele Wunderlegenden von dem Kind erzählt. Aber Lukas erzählt von einem einfachen Kind in Windeln.  

Gott wird anfassbar, sagst du. Gott wird sichtbar. Aber das muss ich erst einmal glauben. Denn ich habe dieses Kind weder angefasst, noch gesehen. Aber – ich glaube es. Ich glaube, dass in Jesus von Nazareth das Göttliche in einer Weise Gestalt annahm, dass wir Menschen darin wahrnehmen können, welch Göttlichkeit auch auf uns liegt, welch Göttlichkeit auf dieser Welt liegt. Ich glaube das. Aber das ist ein weiteres Geheimnis. Geheimnis des Glaubens. Woher kommt das? Es ist ja, als ob noch immer Wellen von diesem Kind in der Krippe ausgingen, und von dem, was Jesus dann lebte und lehrte. Das hat mich schon in meiner Jugend, als mir christlicher  Glaube noch fremd war, dennoch fasziniert: da gab es vor 2000 Jahren einen Menschen und noch heute richten Menschen ihr Herz und ihre Taten nach ihm aus.  So, als ob er durch Jahrtausende hindurch greifen und Herzen berühren kann; meins hat er dann auch erreicht. Dorothee Sölle hat es für mich auf den Punkt gebracht. Sie hat einmal den schönen Satz gesagt: „am ende der suche nach der frage nach gott steht keine antwort sondern eine umarmung.“

Ich habe viel über den Glauben nachgedacht, aber seine Wurzel hat er nicht im Kopf, sondern im Herz. Wie im Einzelnen mein Glaube entstanden ist, ist kaum zu beschreiben. Geheimnis des Glaubens. Was ich empfinde ist: Glauben zu können ist ein Geschenk.

Und du sagst es, Daniel: Mit dem Glauben ist es so eine Sache. Die einen können’s, die anderen nicht. Erstere haben es sicher einfacher in der Kirche, die anderen müssen sich ein wenig mehr anstrengen. Aber vielleicht gelingt es ja, wenigstens für heute Abend, für diesen Gottesdienst. Stellen wir uns doch einfach vor, dass Gott oder, wie du auch sagst, das Göttliche in einem Kind erschienen ist. Durch Jesus wird der unfassbare Gott fassbar. Gott kommt uns nahe. „Gott ist Mensch geworden, damit der Mensch Gott werden könne“, sagte schon  im 2. Jahrhundert der Kirchenvater Irenäus. Das klingt für unsere protestantischen Ohren ungewohnt, ja vermessen. Wenn wir sagen: „Der Mensch spielt Gott“, so meinen wir: Er spielt sich auf zum Herrn über Leben und Tod. Fühlt sich allmächtig – und zerstört damit die Grundlagen unseres Lebens. Genau das Gegenteil aber ist gemeint. Wenn wir Gott – oder göttlich – werden, dann heißt das: Wir verwirklichen in unserem Leben den Willen Gottes. Und der Wille Gottes ist, dass allen Menschen geholfen werde. Auch uns selbst.

Deshalb hat Gott nicht die eine allgemeine Botschaft für alle. Denn wir brauchen, wenn uns geholfen werden soll, durchaus unterschiedliche Hilfen, weil wir verschieden sind. Und wir gehen, wenn wir den Willen Gottes tun, auch unterschiedliche Wege. Als Christinnen und Christen sagen wir: Diesen Weg gehen wir am besten in der Nachfolge Jesu. Denn in ihm sehen wir, wer wir eigentlich sein sollen. Deshalb gibt es auch so viele unterschiedliche Geschichten von Jesus – weil wir Menschen so unterschiedlich sind.

„Gott ist Mensch geworden, damit der Mensch Gott werden könne“, sagt Irenäus. Ich stelle dem ein verwandtes Wort zur Seite: „Mach es wie Gott – werde Mensch.“

Wir sagen manchmal: „Was der gemacht hat, war echt unmenschlich.“ Oder umgekehrt: „Man sollte menschlich miteinander umgehen.“ Wenn wir das so sagen, haben wir ein hohes Ideal des Menschen vor Augen. Wir haben ein Bild vor Augen – vom wahren Menschen. Wir wissen alle, was es bedeutet. Wir tragen dieses Bild in uns. Ein Bild der Liebe und Nächstenliebe. Es ist in gewisser Weise das Bild, das Jesus verkörpert. Würden wir alle mit solcher Liebe, gepaart mit Achtung und Respekt seinem Beispiel folgen, wären viele Veränderungen zum Guten möglich. Menschlich sein – göttlich sein: Jesus spiegelt uns beides – das Göttliche und das Menschliche. Und auch die Abgründe des Menschseins.

Für dich ist Jesus ein Bild der Liebe. Das ist er für mich auch. Noch mehr aber bewundere ich an ihm, wie er seinen eigenen Weg gegangen ist: den Weg der Gewaltlosigkeit. Er hat nach dem Guten gesucht, in der Welt, in den Menschen und auch in Gott. Er hat sich nicht beirren lassen, weder von seinen Anhängern noch von seinen Gegnern. Er strebte nicht nach Macht und Reichtum und war sich bewusst, dass ihn sein Weg ins Leiden und schließlich in den Tod führen könnte. Und so ist es ja schließlich auch gekommen. Er setzte sich für die Menschen ein, und er hat immer wieder gepredigt: Glaubt daran, dass Gott es gut mit euch meint. Glaubt an das Gute im Leben und in Gott. Und ich glaube, dass Jesus ein wirklich freier Mensch war.

Daniel: So heißt es – etwas geheimnisvoll – ja auch in unserem Hymnus: Freigesprochen im Geist. Freispruch – das klingt immer nach Gerichtsverhandlung. Aber es geht hier um eine andere Freiheit. Es geht um eine Freiheit von Zwängen. Um die Freiheit vom zwanghaften Gefühl: erst wenn ich etwas geleistet habe, habe ich es verdient geliebt zu werden. Jesus weiß sich uneingeschränkt geliebt von Gott und lebt aus dieser Liebe.

Wir müssen nichts vorweisen, wir müssen nichts leisten und werden umarmt. Das ist der Freispruch im Geist – wir sind frei – von der Last der Selbstrechtfertigung. Glauben heißt: loszulassen von dem Zwang, etwas vorweisen zu wollen und darauf zu vertrauen: Du bist geliebt. „Lass los von der Vorstellung, etwas dafür leisten zu müssen!“ Gott liebt! Punkt. In den Krippenspielen wollen die Hirten dem Kind gerne etwas mitbringen. Lukas erzählt davon nichts. Sie haben nichts und brauchen nichts mitzubringen – und doch sind sie die, die Gott als erstes anspricht. „Euch ist heute der Heiland geboren!“

Und dass in Jesus Gott selbst auf die Erde gekommen ist, können wir nicht beweisen oder erklären. Alles, was wir sehen, ist ein normales Kind. Wir können es aber leben und erleben. Wir können es bekennen und davon singen, wie die ersten Christinnen und Christen den Timotheus-Hymnus:

Groß ist das Geheimnis unseres Glaubens – Jesus Christus.
Er ist uns erschienen als Mensch
und freigesprochen worden im Geist.
Er wurde erkannt von den Engeln
und bekannt unter den Völkern.
Er wurde geglaubt in der Welt,
und aufgenommen in Herrlichkeit.

So haben sie gesungen, weil sie in Jesus ihr eigenes Leben wiedergefunden haben. Und weil sie gespürt haben, wie das Göttliche sie berührt hat. So singen wir auch jedes Jahr wieder zu Weihnachten, weil wir zumindest etwas ahnen von dem Geheimnis unseres Glaubens, dass Gott in die Welt, zu den Menschen, zu uns gekommen ist: Himmlische Heere jauchzen dir Ehre. Freue dich, o Christenheit.

Amen.

Das wirkliche Leben

Eines der geheimnisvollsten und wichtigsten Worte, die mir in der letzten Zeit begegnet sind, hat Martin Buber gesagt: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“ Wie wahr, habe ich oft gedacht. Wenn wir unseren wöchentlichen Lichtblick zu wählen hatten, dann waren es fast immer Begegnungen, die uns eingefallen sind. Oft haben wir dann einen anderen Lichtblick gewählt, weil es sonst ziemlich eintönig geworden wäre; nur die Namen hätten manchmal gewechselt.

Begegnungen und Gespräche, die Nähe zu anderen Menschen, ihre Teilnahme, ihre Gebete, einfach ihr Da-sein geben uns Leben und Freude und Energie – das, was die Mediziner etwas spröde „Lebensqualität“ nennen. Man kann auch sagen: Sie sind unser Lebenselixier. Dazu zählen natürlich vor allem die persönlichen Begegnungen, aber auch die über den Blog, über Mails, übers Telefon. Oder diejenigen „über Bande“ – wenn uns Menschen erzählen, dass andere Menschen innerlich unseren Weg mitgehen.

„Begegnung“ aber ist auch das Zauberwort in meiner Glaubenswelt geworden. Dabei haben mir die Exerzitien wichtige Anstöße gegeben. So fragte ich Pfr. Mückstein, warum Gott bei meiner Krankheit nicht besser aufgepasst habe. Ein andermal erzählte ich ihm, dass ich den Paulustext Römer 1,18-31 ablehne. Ich hoffte dann auf eine anregende theologische Diskussion – die mir der Spiritual jedesmal verweigerte. Stattdessen gab er mir den Ratschlag: Sprechen sie mit ihm – mit Gott, mit Paulus. Gehen Sie in den Meditationsraum und schweigen Sie eine Stunde mit Gott. Und als ich ihn fragte, wer mir dort antworten sollte, meinte er: Trauen Sie Gott doch zu, dass er mit Ihnen redet.

Ich habe es getan. Und es war tatsächlich wie ein Gespräch. Ob es mit Gott oder mit mir selbst war – wer will das objektiv wirklich beurteilen? Es hat mich zumindest weitergebracht als eine theologische Diskussion. Und näher zu mir selbst. „Wenn an Gott glauben heißt, über ihn in der dritten Person zu reden, glaube ich nicht an ihn. Wenn es heißt, mit ihm zu reden, glaube ich.“ (Martin Buber) Und auch die Gespräche mit Paulus und Jesus haben mir noch einmal neue Türen geöffnet. Trotzdem bin ich nach wie vor ein Fan von differenziertem theologischen Denken.

Und noch in einem dritten Bereich ist mir „Begegnung“ wichtig geworden: in der Politik. Hans-Dietrich Genscher hat einmal gesagt: „Solange man miteinander redet, schießt man nicht aufeinander.“ Das gilt für mich nicht nur für die internationale Politik, sondern auch für das Miteinander in unserem Land. Ich trete dafür ein, mehr mit Moslems zu reden als über sie, mit der AfD, mit dem nervigen Nachbarn. Ronja von Rönne hat dazu in einer schönen Kolumne geschrieben: „Es geht auch um den Entschluss, nicht erfrieren zu wollen in einer erkalteten Gesellschaft, sondern stattdessen ein Nachbarschaftsfest zu organisieren. Was natürlich viel schwieriger ist, als ein Deckenburrito zu sein [= sich in eine Decke einzumümmeln wie in einen Burrito]: Was, wenn keiner kommt? Oder noch schlimmer, was wenn jemand kommt?“

Was aber ist, wenn die Nachbarn nicht wollen, wenn sich die AfD in ihren Hassreden gefällt, und die moslemische Gemeinde lieber in ihrer Opferrolle verharrt und sich gar nicht integrieren will? Ralf hat mir bei unserem letzten Besuch das Buch von Tuba Sarica gezeigt, in dem sie die Scheinheiligkeit der im Grunde integrationsunwilligen Deutschtürken schildert. Die Probleme sind immens, ob bei Moslems oder AfD. Übrigens – kann jemand mal anfangen, Horst Seehofer zu integrieren?

Manchmal ist es auch nötig, Abstand zu halten, wenn es geht. Nicht mit allen Menschen kommt man klar. Und auch in der Gesellschaft ist die Haltung eines „leben und leben lassen“ manchmal hilfreicher als sich mit allem und jedem auseinander zu setzen.

Trotzdem bleibe ich dabei: Soviel und solange miteinander reden wie möglich. Mein Beispiel ist unsere türkische Gemeinde, die ich mit den Konfis viele Jahre lang besucht habe. Sie pflegt intensiv eine türkische und muslimische Identität. Und doch gehörten ihre Beiträge zu meinem Abschied aus der Gemeinde zu den berührendsten. Ich glaube auch, dass ich mehr erreiche, wenn ich sie als Freund kritisiere und nicht als Gegner.

Begegnung ist für mich zwar kein Allheilmittel, aber ein Schlüsselwort geworden, im persönlichen wie im religiösen und politischen Bereich.

 

 

Muss ich mich rechtfertigen – lassen?

 

In den Siebzigerjahren nahm die Theologie viele Anregungen aus der Psychologie auf. Wir lernten zum Beispiel die „nichtdirektive Gesprächsführung“ von Carl Rogers kennen, die Archetypenlehre C. G. Jungs und die Logotherapie nach Victor Frankl. Besonders beliebt war unter uns Theologen die Transaktionsanalyse nach Eric Berne. Vielleicht, weil sie dem traditionellen christlichen Menschenbild ziemlich deutlich widerspricht?

Eine ihrer Grundannahmen lautet: „Die Menschen sind in Ordnung.“ Gut, nicht alle ihre Taten, aber ihr Wesen. Und wenn sie es noch nicht sind, so können sie es doch werden und durch die Therapie zur Haltung vordringen: „Ich bin ok – du bist ok.“ Das heißt: Ich nehme mich an, wie ich bin und nehme dich so, wie du bist.

Die christliche Grundannahme über den Menschen dagegen lautet: Alle Menschen sind „voll böser Lust und Neigung“, haben weder Gottesfurcht noch wahren Glauben, weil sie eine „angeborene Seuche“ haben, nämlich die Erbsünde. Deshalb sind sie von Gott verdammt und können sich auch nicht selbst davon befreien. Aber sie können gerecht werden, weil der Gottessohn Jesus gestorben ist und ein Opfer für die Sünde war. Gottes Zorn ist damit prinzipiell versöhnt, und wir sind vor ihm gerecht geworden „aus Gnade um Christi willen durch den Glauben, nämlich wenn wir glauben, dass Christus für uns gelitten hat und dass uns um seinetwillen die Sünde vergeben, Gerechtigkeit und ewiges Leben geschenkt wird“. So steht es in den Artikeln 2-4 des Augsburgischen Bekenntnisses, das nach der Präambel der Nordkirche unseren Glauben beschreibt und auf das alle Ordinierten verpflichtet werden. Man nennt diese Idee auch die Rechtfertigungslehre.

Sie geht zurück auf Martin Luther, der wiederum Paulus interpretiert hat. Beide waren von ihrem Wesen her Perfektionisten. Sie wollten Gott gefallen. Und da sie Angst hatten, dass Gottes Zorn beim kleinsten Fehler zuschlug, hatten sie ein riesiges schlechtes Gewissen. Für beide war es eine Befreiung, dass sie nicht selbst die Forderungen Gottes erfüllen mussten – Jesus hatte es mit seinem Tod ja bereits getan, und zwar vollständig.

Ich finde diese Gedanken nicht mehr ganz so überzeugend wie früher einmal. Und dafür habe ich mehrere Gründe:

  1. Ich glaube nicht, dass der Sündenfall etwas mit Sünde zu tun hat, sondern mit der Entfremdung von Gott. Das ist für mich ein großer Unterschied. Die Entfremdung hat etwas mit – unerfüllter – Sehnsucht zu tun, die Sünde mit Schuld. Die Sünde kommt in der Bibel erst bei Kain und Abel vor. Daher glaube ich: Die Erbsünde gibt es nicht. Sie ist eine Erfindung von Theologen.
  2. Die „Gnade“ hat in der Bibel keine juristische Bedeutung. Sie ist vielmehr mit „Schönheit“ oder „Wohltat“ zu übersetzen. Keine Frage: Wenn einem im juristischen Sinn Schuld vergeben wird, wenn man also begnadigt wird, ist das auch eine Wohltat. Aber im Zentrum steht dieser Aspekt nicht.
  3. Es erscheint mir absolut unverständlich, warum Gott seinen geliebten Sohn töten musste, damit meine Schuld vergeben wird. Ich fände es völlig absurd, das Leben meines Sohnes aufs Spiel zu setzen, um einen Rechtsstreit mit einer anderen Person zu klären. Ich kann jemand anderem auch so vergeben – warum könnte Gott das nicht?
  4. Ich glaube noch nicht einmal, dass der Mensch schlecht ist. Er hat gute und böse Seiten, keine Frage. Aber im Umgang mit anderen möchte ich von Eric Bernes Ansatz ausgehen: Ich bin ok, du bist ok. Das hat mir im Zusammenleben mit mir und anderen Menschen immer besser getan, als wenn ich das Gegenteil gedacht habe. Gott setzt auch nicht voraus, dass wir vollkommen sind. Das ist vielleicht unser Ziel im Glauben (Matthäus 5,48). Aber im wirklichen Leben gilt für mich eher die Überzeugung des Künstlers Nam June Paik: „When too perfect, lieber Gott böse.“

Ich glaube, dass die Rechtfertigungslehre eine ganz spezielle Antwort von Personen wie Paulus oder Martin Luther auf ihre Frage ist: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Weil sie Angst hatten vor Gottes Zorn. Weil sie Perfektionisten waren. Weil sie sich durch diese Auslegung der Jesusgeschichte von einem unglaublichen Druck befreit haben.

Auf mich treffen beide Voraussetzungen eher nicht zu. Von einem Perfektionisten trennen mich einige Welten. Und mein Konfirmationsspruch lautet: „Gott spricht: Ich will mit dir sein.“ Das ist die Grundlage meines Glaubens.

Dabei habe ich gerade in den letzten Jahren durchaus nicht immer erlebt, dass Gott mit mir ist. Der Blog ist auch der Versuch, diese beiden Eckpunkte meines Lebens zusammenzubringen: Gottes Treue, Nähe und Unterstützung – und seine Abwesenheit, Unaufmerksamkeit und Härte. Und ich bin immer noch auf dem Weg.

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Beitragsbild: Das Jüngste Gericht (obere Hälfte), von Hans Memling (um 1470) – http://mng.gda.pl/zbiory/sztuka-dawna/hans-memling/, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1455943