Die Näherinnen von Kambodscha

Unsere jüngere Tochter studiert Sozialökonomie. Wenn wir gefragt wurden, was das sei, antworteten wir bisher oft: die kleine Schwester der BWL. Das stimmt – aus der Perspektive der BWL. Aber eigentlich ist es genau umgekehrt.

Denn Sozialökonomie ist viel mehr: Nicht nur BWL, auch VWL, Jura und Soziologie. Sie „versucht die Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft, Wirtschaft, Ökonomie und Politik zu verstehen“. (Wikipedia) Und damit hat sie alle meine Sympathien. Mit BWL kann man sicher viel mehr Geld verdienen und ist auf bestimmte Fragen fokussiert. Aber mit Sozialökonomie schaut man auf den größeren Zusammenhang. Und das ist eher mein Ding. Und als mir Inga von ihrer Hausarbeit erzählte, war ich sofort interessiert. Es ging um Shareholder und Stakeholder.

Dabei hatte ich vom ersten Begriff nur eine vage Vorstellung und vom zweiten noch nicht einmal das. Also: Shareholder sind in einem Unternehmen diejenigen, denen der Betrieb gehört – entweder als Inhaber oder als Anteilseigner. Gute Unternehmensentscheidungen müssen immer in ihrem Interesse sein. Stakeholder sind alle, die mit dem Unternehmen zu tun haben. Dazu gehören auch Lieferanten und Zwischenhändler, Kunden und Gewerkschaften, sogar Umweltverbände und Behörden. Der Kreis ist nicht immer genau definiert. Gute Unternehmensentscheidungen sind auch in ihrem Interesse.

Da hatte ich doch gerade einen passgenauen Artikel im Stern gelesen: „Der Preis des Anstands – unterwegs in den Textilfabriken Kambodschas.“ Natürlich wusste ich grob um die Bedingungen, unter denen meine Hemden in Bangla Desh hergestellt werden – spätestens wenn dort mal wieder eine Fabrik brennt und Tote zu beklagen sind. Andererseits habe ich selten auf das Etikett geachtet, wenn ich Hemden gekauft habe. Sie sollten möglichst weich und bequem und gleichzeitig günstig sein.

Im Stern-Artikel ist Ken Loo der typische Shareholder-Manager: Alles für die Aktionäre. Aber dann mischt sich Jenny Holdcroft ein. Sie bringt etwas mit, das in das Shareholder-Konzept nicht passt: Werte wie Nachhaltigkeit und Lebensqualität. Sie erklärt sich zum Stakeholder und aktiviert weitere: Behörden, Gewerkschaften, Kunden. Und Ken Loo beginnt umzudenken.

Inga begründet diesen Prozess in ihrer Arbeit theoretisch. Und es hört sich wunderbar an, nach jeder Menge Win-Win-Situationen. Warum hat sich die Stakeholder-Theorie nicht schon längst durchgesetzt?

Nun, sie wird ja stärker. Aber sie ist nicht nur ein ökonomisches Risiko für die Unternehmen, sondern auch anstrengend. Das macht ein weiterer Artikel deutlich, den ich in brand1 gelesen habe: Der Fleischkonzern Rügenwalder nimmt vegetarische Produkte ins Programm. Am Ende ein Erfolg, auch wirtschaftlich. Aber nur deswegen, weil die Stakeholder-Theorie konsequent angewendet und neben den Geschäftspartnern z.B. auch Umweltverbände angesprochen wurden.

Inga zeigt in ihrer Arbeit allerdings auch, dass einer Stakeholder-Gruppe in diesem Prozess eine entscheidende Rolle zufällt: Uns Kunden. Letztlich entscheiden wir mit unserem Kaufverhalten, was und wie produziert wird.

Und ganz zum Schluss, da kann ich eben nicht aus meiner Haut, habe ich an die Kirche gedacht. Ausgangspunkt der Reformbemühungen seit den 90er Jahren war die Analyse vom Mitglieder-, Bedeutungs- und Finanzverlust. Das ist Shareholder-Mentalität. Oder ist der Ausgangspunkt unserer Strategie, alle Menschen und Gruppen, die etwas mit uns zu tun haben, in den Blick zu bekommen? Das wäre das Stakeholder-Konzept. Oder, in unserer Sprache: Caring Community…

 

5 Gedanken zu “Die Näherinnen von Kambodscha

  1. Ingrid Schneider-Liedtke schreibt:

    Ja, Sozialökonomie zu studieren muss toll sein, und ich stimme zu, es gehört (zusammen mit Geschichte 🙂 ) zu den interessantesten Fächern! Ja, bei vielen Shareholdern geht nichts über shareholder value, so viel Prozesse in Firmen sind darauf abgestimmt. Ob da immer alles eine „gute Unternehmensentscheidung“ ist, kommt doch sehr auf die Perspektive an. Trotzdem gibt es doch gerade hier viele mittelständische Unternehmen, die die soziale Verantwortung des Kapitals ernst nehmen.
    Deine Übertragung auf die Kirche ist wirklich gut!!!
    Eurer Tochter viel Erfolg mit ihrer Arbeit!

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  2. Ralf Liedtke schreibt:

    Ich teile Eure Gedanken! Der Einbezug der Stakeholder-Perspektiven ist so ganz neu nicht. Verantwortungsbewusste Unternehmer beziehen diese Blickwinkel konsequent in ihre strategischen Überlegungen mit ein.

    Viele der sogenannten „Hidden Champions“, der erfolgreichen mittelständischen Unternehmen in Deutschland tun dieses. Und sie sind die wahren Triebkräfte eines Erfolgs, an dem viele partizipieren und nicht die Großunternehmen und Monopolisten.

    Und der Gedanke mit der Übertragung auf die Kirche ist spannend und für mich noch lange nicht umgesetzt. Es beginnt ja schon mit der Frage: wer wären aus Sicht der Institution Kirche die Stakeholder und welche Interessen und Erwartungen haben diese?

    Aber es ist doch schön, wenn wir durch unsere Kinder und manchmal auch schon durch die Enkel neue Impulse für unser Denken bekommen.

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    • gebrocheneslicht schreibt:

      Da spricht jemand aus der Wirtschaft! Für mich war diese Theorie neu – bisher habe ich nur den Konflikt zwischen den Neoliberalen (Milton Friedman, H.W. Sinn, Shareholder Value, ifo München, unternehmensnah) und Bofinger (gewerkschaftsnah) wahrgenommen. Und gedacht: Nun, die einen entscheiden sich eben für angebots-, die anderen für nachfrageorientiert. Wobei die WiWi die Friedman-Schiene fahren. Dass es da noch Alternativen gibt, und zwar aus der Mitte der WiWi selbst, fand ich spannend.

      Eigentlich wäre das auch ein Ort, an dem Kirche etwas zu sagen hätte – wenn sie sich kompetent in das Gespräch einklinken könnte. Und ich überlege, warum sie so wenig wahrgenommen wird. Dabei geht sie doch mit viel Selbstbewusstsein an die Sache. Ihr geht es, wenn ich es richtig sehe, darum „den Kapitalismus“ zu hinterfragen und ihm ein „christliches Menschenbild“ entgegenzusetzen. Aber nimmt sie „den Kapitalismus“ nicht manchmal ein wenig einseitig wahr, zumindest wenn ich die Äußerungen von kirchenleitenden Menschen höre? Und was ist überhaupt das „christliche Menschenbild“? Danach ist der Mensch „böse von Jugend auf“, aber dann auch wieder gut, zumindest zum Guten fähig, er ist ein leidender, aber auch ein schöner Mensch (z.B. bei Michelangelo), er ist dies und das Gegenteil und alles dazwischen. Und was unterscheidet ein „christliches“ von einem „humanistischen“ Menschenbild? Außer dass es sich als wertvoller empfindet – was die Humanisten von dem ihren allerdings auch behaupten. Zu all diesen Fragen habe ich zwar eine Meinung, aber kein Urteil, da ich mich mit diesem Themenkomplex einfach (noch?) zu wenig auskenne.

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  3. Ralf Liedtke schreibt:

    Ja, was unterscheidet ein „christliches“ Menschenbild von einem „humanistischen“? Eine gute und interessante Frage. Wo gibt es Berührungspunkte oder Schnittmengen? Wo liegen die Unterschiede? Was bedeutet das für gesellschaftliche wie auch wirtschaftliche Sichtweisen? Was können wir für uns selbst und unseren „Glauben“ konkret daraus ableiten und mitnehmen?

    Lieber Erik, wenn Du dazu eine Meinung hast, wie wäre es dazu mit einem neuen Blog-Beitrag? Ich fänd das klasse!

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    • gebrocheneslicht schreibt:

      Es gibt nicht „das“ christliche Menschenbild. Ich habe tiefe und einfache Gedanken dazu gefunden, solche, die ich sehr gut nachvollziehen kann und solche, die ich grenzwertig finde. Es ist schon unklar, welchen theologischen Ansatzpunkt ich wähle: Die Gottebenbildlichkeit aus der Schöpfungsgeschichte (was ist es aber, was mich zu Gottes Ebenbild macht?), das Vor- oder Urbild Jesus Christus, der „wahre Mensch“ (und was setze ich in das Zentrum meines Jesusbildes?), das Sünder-Sein aus der Rechtfertigungslehre? Je nachdem wo ich anfange, komme ich auch zu völlig unterschiedlichen Folgerungen.

      In einem aber haben die Humanisten recht: Es kann nicht zur Grundlage in einem säkularen Staat gemacht werden. (https://hpd.de/artikel/12333) In Deutschland gilt das Menschenbild des Grundgesetzes, das ich nicht nur als Staatsbürger, sondern auch persönlich voll unterstützen kann.

      Und so finde ich es auch außerordentlich schwierig, darüber einen Blogbeitrag zu machen. Das wäre dann schon eher eine Seminararbeit.

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