Ausgerechnet ein Heilungswunder.
Gestern habe ich wieder gepredigt. Als Grundlage sah die kirchliche Ordnung Markus 1,40-45, die Heilung eines Aussätzigen. Auf den ersten Blick ein passender Text, denn Krankheit, Gesundheit und Heilung sind Themen, die mich zurzeit natürlich sehr beschäftigen. Darin bestand aber auch die besondere Herausforderung. Auf der einen Seite steht Jesus, der anscheinend mühelos Kranke heilen konnte. Auf der anderen Seite meine Erfahrung, dass Heilung bestenfalls ein mühsamer Prozess ist. Aber das ist ja eigentlich immer die Aufgabe einer Predigt: Die biblische Botschaft mit unserer Welt in Verbindung zu bringen.
Liebe Gemeinde!
„Es war einmal einer namens Harry, genannt der Steppenwolf. Er ging auf zwei Beinen, trug Kleider und war ein Mensch, aber eigentlich war er doch eben ein Steppenwolf.“ So beginnt der Tractat vom Steppenwolf in Hermann Hesses gleichnamigem Buch. Ich war fasziniert von diesem Charakter: höchst empfindsam und zugleich leidenschaftlich, mit der Seele eines ordentlichen, ja sentimentalen Bürgers und der eines einsamen, wilden Tieres. Erst allmählich kann Harry diese beiden Naturen integrieren.
Es gab eine Zeit, da wollte ich so werden wie er. Ein lonesome Cowboy, der in die Abendsonne reitet. Vielleicht bin ich es sogar, ein bisschen. Aber es gibt einen mächtigen Impuls, der mich genau in die andere Richtung zieht. Nicht unabhängig sein wollen, sondern dazugehören. Früher war es einmal eine evangelikale Gemeinde mit sehr klaren moralischen und dogmatischen Vorgaben. Das wurde mir auf die Dauer dann zu eng, und seitdem ziehen oder treiben mich diese beiden Energien durchs Leben: der Wunsch zur Gemeinschaft und der Drang, den eigenen Weg zu gehen. Der Neurobiologe Gerald Hüther meint, dass uns dies schon in die Wiege gelegt wurde, ja schon vor der Geburt da war: als wir zur Mutter ganz natürlich dazu gehörten und gleichzeitig gewachsen sind. Und deshalb sollte es mich nicht wundern, wenn es Ihnen genauso geht.
Was aber ganz am Anfang natürlich war, ist in dieser Welt nicht mehr selbstverständlich. Irgendetwas trennt uns immer von den anderen – die Konkurrenz um denselben Job, die falsche Hautfarbe oder Schuhmarke. Und irgendetwas hindert uns immer zu wachsen – der falsche Job, die komplizierte Familie oder die eigenen Ansprüche.
Oder eine Krankheit. Dann geht weder das eine noch das andere. So wie beim Kranken in unserer Geschichte. Er hatte irgendeine Hautkrankheit, kann Lepra gewesen sein oder ein Ausschlag. In jedem Fall war er draußen, ein Außenseiter. Ein Mensch ohne Freunde. Und ohne Hoffnung. Ein Leben in der Lepra-Kolonie, buchstäblich draußen vor der Tür. Und obendrauf kam damals noch der Vorwurf: Du bist selbst schuld. Gott hat dich für irgendetwas bestraft. Diesem Dreh bin ich übrigens auch heute oft begegnet: Du bist der Außenseiter in der Klasse, in der Gesellschaft, und du bist selbst schuld. Hättest du die richtigen Klamotten an, die richtige Hautfarbe, die richtige Einstellung, dann würden wir dich akzeptieren. Aber so?
Und so fängt unser Text an: „Einmal kam ein Mann zu Jesus, der an Aussatz erkrankt war.“ Was so beiläufig klingt, ist bedeutend: Der Mann kam. Immer kommen die Menschen zu Jesus, werden gebracht oder sitzen an seinem Weg. Nie geht er hin, besucht z.B. eine Leprakolonie. Am Anfang steht der Wunsch des Kranken, geheilt zu werden. Und wer geheilt werden will, dessen Chancen steigen. Das gilt damals wie heute.
Es gibt tatsächlich Menschen, die nicht wirklich gesund werden wollen. Weil sie mit ihrer Krankheit im Mittelpunkt stehen. Weil sie umsorgt werden. Andere sind immer nahe am Burnout. Oder sie sind zu bequem, um ihre Meinung, ihren Beruf, ihren Weg infrage zu stellen. Es gibt auch Menschen, die ihre Krankheit leugnen. Für sie alle gilt: Wer nicht gesund werden will, wer sein Leben nicht ändern will, wird es auch nicht.
Der Aussätzige in unserer Geschichte aber geht noch einen Schritt weiter. Er sagt nicht nur: Ich will gesund werden, sondern auch zu Jesus: Du kannst es, du kannst mich rein machen. Und er sagt „rein“, nicht „gesund“? Offensichtlich haben beide Begriffe miteinander zu tun. Denn schließlich soll der Kranke später zu den Priestern, um offiziell als geheilt erklärt zu werden. Und doch ist es nicht dasselbe. Rein, das umfasst mehr, Körper, Seele und Geist, eigentlich das ganze Leben. Wenn ich mit mir im Reinen bin, dann sind auch das Bedürfnis nach Wachsen und das nach Zugehörigkeit im Gleichgewicht. Und das Leben ist gut.
Und Jesus berührt den Kranken, und er wird rein. Berühren, das kann heißen: anfassen. Ich kann aber auch von einem Blick berührt werden, von einem Wort, einer Geste. Wenn ich berührt werde, dann weiß ich: Ich bin gemeint. Eine Berührung ist nie abstrakt, sondern immer konkret und intensiv und zart. Und persönlich. Sie kann einen Moment dauern oder ein ganzes Leben. Sie ist noch etwas anderes als Mitleid. Wer mich berührt, muss nicht trauern wie ich, sich freuen wie ich, nicht denselben Schmerz spüren. Und trotzdem ganz da und präsent sein.
Und dann passiert etwas. Was genau, lässt sich so schwer beschreiben und ist auch ganz unterschiedlich. Es kann das Gefühl sein, dass sich etwas in mir löst, dass ich frei werde, mich verändere – im besten Fall: mit mir ins Reine komme. Und sei es nur für einen Moment.
Es gibt da allerdings auch ein Problem. Denn manchmal passiert – nichts. Eine Heilung kann auch ausbleiben. Oder sie bleibt nicht. Wie war es denn mit dem gereinigten Aussätzigen? Blieb seine Gesundheit stabil? Fand er ins normale Leben zurück?
Und Jesus? Er hat nicht alle Menschen geheilt. Warum nicht? Weil sie nicht wollten? Weil er nicht konnte? Ja, ist bei ihm auch einmal eine Heilung vielleicht sogar schief gelaufen? Die Bibel sagt natürlich nichts darüber, aber es würde zumindest meiner Erfahrung von heute entsprechen: dass Heilung manchmal geschieht – und manchmal nicht. Und dass das weder an dem Können der Medizin noch am Glauben und der Hoffnung des Patienten liegt.
Der tschechische Menschenrechtler und ehemalige Präsident Vaclav Havel hat einmal gesagt: „Hoffnung ist eben nicht Optimismus. Sie ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat – ohne Rücksicht darauf, wie es ausgeht.“ Doch wie bekommt etwas Sinn? Frage ich Psychologinnen und Lebensratgeber, so höre ich: „Es hat oder macht das Sinn, was wir mit Sinn füllen.“ „Sinn macht, wenn wir unsere Bestimmung leben.“ Das ist ja nicht falsch, aber etwas unkonkret.
Ich glaube, dass wir als Christinnen und Christen etwas substanzieller werden können. Wenn wir uns an Jesus orientieren, dann macht Sinn, wenn wir Menschen, die draußen sind, hereinholen. Weil sie nicht mehr und nicht weniger Kinder Gottes sind als wir. Ob sie Flüchtlinge sind oder Moslems, sie gehören zu uns, zu Niendorf, zu Deutschland. Auch die Außenseiter gehören zur Klasse und Konfi-Gruppe. Jesus hat es uns immer wieder vorgemacht. Und für mich fühlt es sich einfach richtig und vernünftig und gut an. Es macht einfach Sinn.
Aber es ist nicht immer leicht, denn Außenseiter sind es auch oft, weil sie einfach crazy und unangepasst und schwierig sind. Und dann beginnen die Schwierigkeiten. Was machen wir mit den schwer integrierbaren Fremden – die ganz andere Wertvorstellungen haben, traumatisiert sind, katastrophale Erfahrungen mit Staatsorganen gemacht haben. Umgekehrt gefragt: Würde ich mich überhaupt jemals in eine arabische Kultur integrieren können? Da braucht es viel Toleranz, Professionalität und starke Nerven, keine Frage.
Andererseits höre ich immer wieder, aus der muslimischen Gemeinde, aus dem Osten unserer Republik, von den schwierigen Konfis: Wir haben es doch probiert. Wir wollten dazugehören. Aber ihr habt uns ignoriert, verspottet, ausgenutzt. Jetzt wehren wir uns. Jetzt arbeiten wir an einer eigenen Identität, auch wenn sie euch nicht gefällt. Und die Fronten verhärten sich und jeder lebt in seiner Blase.
Ein erster Schritt aufeinander zu könnte sein, dass wir uns wahrnehmen, ernst nehmen, vielleicht sogar berühren. Mit kleinen Gesten und viel gutem Willen. In einem alten irischen Segen heißt es: „Wen du auch triffst, wenn du über die Straße gehst, ein freundlicher Blick von dir möge ihn treffen.“ Und Gerald Hüther meint: Du kannst Menschen nur ändern, wenn du sie magst, und sei es nur ein bisschen. Zugegeben, das fällt bei einigen leichter als bei anderen. Hängt aber auch zu einem guten Teil an unserer eigenen Einstellung.
Keiner verspricht uns, dass es einfach wird. Noch nicht einmal, dass wir erfolgreich sein werden. Wie gesagt: Jesus hat auch nicht alle geheilt. Aber vielleicht hilft es uns, wenn wir einen Schritt zurücktreten und uns an den Wochenspruch erinnern: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.“ Der Blick auf die Wohltaten Gottes, auf die guten Geschichten in unserem Leben kann uns die Kraft geben, das Gute zu tun. Und davon zu erzählen.
Denn ich finde, der geheilte Aussätzige hat absolut richtig gehandelt: Wenn solche Wunder geschehen, wie er sie erlebt, dann gehören sie in die Öffentlichkeit. Und sie geschehen. Auch heute noch.
Amen.
Die Predigt berüht mich sehr. Schön, dass ich auf diese Weise sie nachträglich – weil nicht präsent vor Ort – in aller Ruhe nachempfinden kann.
Ja, sie spiegelt Deine Person mit der Situation und Deinem Erleben von dieser. Sie ist hoch authentisch, sie ist einfach Du.
Und gleichzeitig ist sie weit mehr und streift auch für mich ganz wesentliche Fragen, statt brav vermeintliche Antworten zu geben.
Ich fasse mich kurz:
Nähe und Distanz sind Antipoden, die uns unser Leben lang begleiten, Sie gehören zu unserer Grundnatur als Mensch. Wir erleben Unterschiedlichkeit und auch unser persönliches Leben kann die Pole immer wieder verschieben.
Ist es nicht bis heute eine ganz existenzielle Frage geblieben, was die Unterscheidung zwischen „gesund(werden)“ und „rein“ betrifft. „Rein“ bedeutet für mich auf die heutige Sprache bezogen „mit sich selbst im Einklang sein“. Mich so anzunehmen, wie ich bin, mit meinen Stärken und Schwächen und den Mut zu haben, mich dem zu stellen und etwas mit und in mir zu verändern.Klarheit über mich zu gewinnen und zur Liebe zu mir selbst zu finden, bei aller meiner gefühlten Unvollkommenheit.
Begegnungen sind etwas Elementares. Ohne Begegnungen wäre der Mensch für mich ein Nichts, auch nicht dazu geboren. Ich brauchte gute 60 Jahre, um dieses so Elementare für mich so zu empfinden. Neulich sah ich zweifach in einem Traum meinen Vater und meiner Mutter, entspannt beisammen. Sie lächelten beide mir zu und wie tat mir das gut.
Die Frage bleibt offen, nach dem, wie viel kann oder auch will ein Jesus leisten. Ich ergänze sie hier um Gott selbst, genauer gesagt um mein Bild von ihm. Dazu habe ich sehr früh im Blog versucht, dieses zu skizzieren. Kurz gesagt: Das Wort „allmächtigerGott“ – darüber würde ich streiten wollen. Und umgekehrt auch. Wie „ohnmächtig“ ist der Mensch?
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