Jeremia. Zwei Predigten

Eigentlich hätte ich am letzten Sonntag auf der Kanzel stehen sollen. Aber dann grätschte eine gefährliche Metastase dazwischen. Die Predigt stand im Entwurf, und ich habe sie nun noch einmal aufbereitet. So wie hier abgedruckt hätte sie also aussehen können.

Daniel Birkner hat dann den kompletten Gottesdienst übernommen. Als ich meine Predigt überarbeitete, kannte ich die seine nicht. Jetzt finde ich es beeindruckend, wie gut sich beide ergänzen. Aber urteilt selbst. 

Die Last des Prophetenamts (Jeremias fünfte Klage)

7 Herr, du hast mich überredet und ich habe mich überreden lassen. Du bist mir zu stark gewesen und hast gewonnen; aber ich bin darüber zum Spott geworden täglich, und jedermann verlacht mich. 8 Denn sooft ich rede, muss ich schreien; »Frevel und Gewalt!« muss ich rufen. Denn des Herrn Wort ist mir zu Hohn und Spott geworden täglich. 9 Da dachte ich: Ich will seiner nicht mehr gedenken und nicht mehr in seinem Namen predigen. Aber es ward in meinem Herzen wie ein brennendes Feuer, verschlossen in meinen Gebeinen. Ich mühte mich, es zu ertragen, aber konnte es nicht. 10 Denn ich höre, wie viele heimlich reden: »Schrecken ist um und um!« »Verklagt ihn!« »Wir wollen ihn verklagen!« Alle meine Freunde und Gesellen lauern, ob ich nicht falle: »Vielleicht lässt er sich überlisten, dass wir ihm beikommen können und uns an ihm rächen.« 11 Aber der Herr ist bei mir wie ein starker Held, darum werden meine Verfolger fallen und nicht gewinnen. Sie müssen ganz zuschanden werden, weil es ihnen nicht gelingt.

(Hier geht es gleich zur Predigt von Erik Thiesen, die wieder kursiv gesetzt ist.)

Daniel Birkner: 

Liebe Gemeinde!

Jeremia leidet. Er leidet an seinem Leben, er leidet an seinem Gott, er leidet an seinem Auftrag, er leidet an sich selbst.

Er kann einem leid tun.

Wut und Verzweiflung stecken in seinen Worten. Er ringt mit seinem Gott.

„Ich bin zum Spott geworden. Sie lachen mich aus!“

Und er hat Angst: Sie wollen mich verklagen! Sie warten nur darauf, dass ich einen Fehler mache und falle. Sie wollen Rache an mir üben!

Er spricht das Klagegebet eines Menschen, der sich von Gott verlassen und sogar getäuscht fühlt. Und vielleicht die eine oder der andere von uns auch manchmal so.

„Du hast mich überredet. Ich habe das eigentlich nicht gewollt – und jetzt stehe ich hier und alles ist anders als gedacht. Als ich darüber nachdachte, dir zu folgen Gott, hatte ich mir erhofft, durch den Glauben ein erfülltes Leben zu finden, aber jetzt erlebe ich die andere Seite der Nachfolge. Ich leide unter meinem Auftrag.“

Um Nachfolge geht es heute. Und Jesus, das haben wir im Evangelium gehört, verschweigt nicht, dass es schwierig sein kann, dem eigenen Glauben zu folgen. Die Beschäftigung mit dem Glauben verändert einen Menschen: In seiner Wahrnehmung des eigenen Lebens, in der Wahrnehmung seiner Umwelt und der Menschen, in seiner Sicht auf das Leiden anderer. Wer sich mit dem Glauben beschäftigt, wer sich damit auch auf den Gedanken der Nächstenliebe einlässt, wird achtsamer und empfindsamer.

Das Leiden und das Kreuz Jesu – damit ist eine weitführende, tiefgehende Theologie verbunden – aber als erstes will es vielleicht erst einmal das: Mitgefühl erzeugen. Und zwar nicht mit Gott oder Jesus – es geht Jesus nie um sich selbst – sondern Mitgefühl mit Menschen, die leiden. Im Kreuz erblicken wir einen Auftrag: Nehmt das Leiden wahr. Verschließt euch nicht denen gegenüber, die Leid tragen.

Und dann entdecken wir das Leid so vieler Menschen auf unserer Erde und wissen erst einmal gar nicht, wie wir damit umgehen sollen. Am liebsten wieder weggucken.

Jeremia aber bekommt es nicht mehr hin, dass seine innere Stimme schweigt. Er wollte nicht mehr an Gott denken, er wollte nicht mehr predigen, aber es brannte in ihm wie Feuer, sagt er. Das Leid der anderen hat ihm weh getan. Er konnte und wollte dazu nicht mehr schweigen.

„Frevel und Gewalt!“ muss er rufen. Das bringt ihm keine Freunde ein. Im Gegenteil.

Die Menschen mögen es nicht, kritisiert zu werden. Der Überbringer schlechter Nachrichten wurde in der Antike auch schon mal deswegen umgebracht. Zumindest mundtot möchte man sie manchmal machen.

In den letzten Wochen dreht sich viel um Greta und die Schülerproteste bei der Aktion „Friday for future“.

Und die einen zollen ihr größten Respekt und die anderen überschütten das Mädchen persönlich wie auch die ganze Kampagne mit Hohn und Spott.

„Die gehen doch nur auf die Demo, um Schule zu schwänzen!“ „Die haben keine Ahnung von dem, was sie reden und fordern.“ Sie könnten doch auch am Wochenende demonstrieren“ schallt es ihnen entgegen.

Aber sie demonstrieren nicht aus Lust am Demonstrieren oder Schuleschwänzen, sondern aus Angst und Sorge. Und sie bekommen die Aufmerksamkeit nur durch den Rechtsbruch, es am Freitag zu tun. Und ich frage mich, warum die Schulen nicht aufspringen und das Thema aufgreifen? Warum nehmen sie das Interesse nicht auf, um mit ihren Schülerinnen und Schülern Projekte jetzt entwickeln, um dieses brennende Lebensthema zu vertiefen? Und dann sollten sie als Schulveranstaltung zu den Demos gehen. Wie oft habe ich in der Schule gesessen und mich gefragt: „Wofür brauche ich das in meinem Leben?“  Die Beschäftigung mit diesem Thema würde dem Lehrauftrag „Lernen fürs Leben“ und dem Bedürfnis der Jugendlichen entsprechen und es miteinander verbinden.

Viele Erwachsene stimmen nun den Jugendlichen und Kindern zu – ich tue das auch. Aber ich tue es auch mit einem schlechten Gewissen und mit Schuldgefühlen. Wir haben – wider besseren Wissens – zu wenig bisher gemacht. Wir sind zu selten wie sie auf die Straße gegangen, um zu protestieren und die Politik unter Druck zu setzen. Und zugleich ist ja nicht nur die Politik Schuld: Wir waren und sind in unserem Verhalten unverantwortlich gegenüber nachfolgenden Generationen gewesen.

Das kath. Hilfswerk Misereor hat im vergangenen Jahr eine Ausstellung mit 99 Karikaturen zu dem Thema: „Klima, Konsum und andere Katastrophen“ gemacht. Es war ein Blick in einen kritischen Spiegel. Eine Karikatur stellte einen Großvater mit seiner Enkeltochter dar. Sie stehen vor einer Landschaft mit kaputten Bäumen, und der Großvater sagt: „Ja meinst du denn im Ernst, da wäre auch nur einer noch in sein Auto gestiegen, wenn wir das gewusst hätten damals?“ Jetzt klagen die Jugendlichen uns an. „Ihr habt es gewusst und habt nichts getan!“

Martin Buber schreibt: „Die große Schuld des Menschen sind nicht die Sünden, die er begeht – die Versuchung ist mächtig und seine Kraft gering -, die große Schuld des Menschen ist, dass er in jedem Augenblick die Umkehr tun kann und nicht tut.“

Es gibt Menschen, die den Klimawandel immer noch leugnen, andere, die ihn relativieren: „Vor 30 Jahren dachten wir, dass das Ozonloch immer größer würde! Dass alle Wälder sterben. Ist doch alles nicht so schlimm gekommen.“ Das erinnert mich an den Evangeliumstext: „Ach nein, Jesus. Ich würde gerne was tun und dir folgen, aber nicht gleich!“ Wenn Jesus sagt: „Wer die Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes“, dann verstehe ich ihn so: „Sobald du die Wahrheit erkannt hast, ist es Zeit danach zu handeln.“

Die nachfolgende Generation hat Angst, dass Punkte in der Entwicklung des Klimas erreicht werden, in denen Prozesse in der Natur in Gang kommen, die unumkehrbar sind und zu dramatischen Veränderungen der Lebensbedingungen führen werden.

Dem Gewissen, dem Glauben, der inneren – auch anklagenden Stimme zu folgen ist nicht leicht. Nachfolge ist nicht immer leicht. Sie kann dazu führen, sich selbst hinterfragen zu müssen und auch die Welt mit anderen Augen zu beurteilen.

Was ich an Greta und all den demonstrierenden Jugendlichen bewundere, was ich an Jeremia bewundere – ist, dass er, dass sie es trotz des Gegenwinds, der ihnen entgegenschlägt, tun und dass sie nicht mehr schweigen wollen.

Das ist auch eine Form von Zivilcourage. Davon möchte ich lernen.

Das ist auch damit gemeint: den Hand an den Pflug zu legen und dann nach vorne zu sehen und was not ist zu tun.

Nachfolge braucht Mut.

Man muss kein Christ sein, um so zu handeln, zu fühlen und zu denken. Aber unser Glaube kann uns zu einer solchen kritischen Haltung führen und er kann uns den Mut geben, entsprechend zu reden und zu handeln.

Auch Jeremia kommt schließlich wieder dahin, doch zu hoffen: Gott wird bei mir sein wie ein starker Held.

Gegen die inneren Stimmen, die er hört und gegen die Stimmen von außen, die ihn einschüchtern wollen, hofft er, dass Gottes Stimme in ihm stärker sein wird. Und dass er Kraft aus dem Glauben bekommt.

Als zu Beginn der Woche in einer Diskussionsrunde bei Markus Lanz die Hamburger Schülerin, die hier die Demonstrationen organisiert, gefragt wurde, zu welchen Opfern sie bereit wäre, antwortete sie zunächst, dass sie vegan lebe und auf Flugreisen verzichten würde. Aber, und das fand ich noch viel interessanter, sie sagte, das seien aber keine Opfer für sie. Sie tue das ja für ihre Zukunft und ihr Leben.

Das ist Weisheit! Denn der Gedanke „sich einschränken zu sollen“ löst sofort Abwehr aus. Aber die Einsicht, dass es dem eigenen Leben dient, weckt Bereitschaft. Schon in der antiken Philosophie hat man über Glück so nachgedacht, dass man erkannte: es gibt Dinge oder Handlungen, die uns jetzt glücklich machen, aber auf Dauer Unglück bringen. Dem gegenüber gibt es andere Dinge, die nicht gleich, aber auf Dauer dann zu einem glücklichen Leben führen. Und natürlich ist letzteres vorzuziehen.

Wenn der Glaube in uns zur Anklage wird, dann nicht um uns zu sagen, wie schlecht wir sind, sondern um uns zu einem besseren, weil gerechteren und nachhaltigeren Leben zu locken. Der Glaube appelliert an unsere Kreativität, an unsere Phantasie, an unsere Liebe und Gefühl für Gerechtigkeit. Er macht uns, wie ich eingangs sagte, achtsam und mitfühlsam. Was wir tun, tun wir für uns, für die Generationen nach uns, für Menschen und Mitgeschöpfe, die andernorts schon unter dem Klimawandel leiden.

Die Schülerin wurde von Markus Lanz dann abschließend eingeladen, ein Schlusswort zu sprechen. Er sagte sinngemäß: „Du hast jetzt noch 1 ½ Minuten, alles zu sagen, was dir wichtig ist.“

Sie überlegte kurz, und antwortete: „Ich fasse es mal so zusammen: Wenn nicht jetzt, wann dann?“

„Wer die Hand an den Pflug legt und sieht zurück, ist nicht geschickt für das Reich Gottes.“

Amen

Erik Thiesen:

Liebe Gemeinde!

Jeremia gehört zu den bekanntesten Propheten und wird in der Bibel zu den drei „großen“ gezählt. Das liegt in erster Linie am Umfang seines Buches. Aber auch daran, dass er uns wie kaum ein anderer biblischer Autor auch persönlich ganz intensiv nahe kommt. In verschiedenen Kapiteln seines Buches öffnet er sich und sein Innerstes. Und was wir sehen und erleben – ist dunkel. Er ist enttäuscht, er leidet.

Er leidet an seinen Mitmenschen, die ihn ausstoßen und sogar verfolgen und ins Gefängnis stecken. Noch nicht einmal seine Familie hält zu ihm. Bis auf ganz wenige Freunde, Baruch gehört zu ihnen, ist er allein und vor allem einsam. Und das, weil er ihnen eine Botschaft zu verkünden hat, die er selbst nicht mag – die Botschaft vom Untergang Israels und Judas.

„Anstatt positiv zu denken“, sagen sie, untergräbt Jeremia die gesellschaftliche Moral. Und das gerade jetzt, im Angesicht der Gefahr aus Babylon, in der wir alle Kräfte mobilisieren müssen.“ – „Im Gegenteil“, meint Jeremia, „unterwerft euch dem Angreifer und überlasst den Rest dem Willen Gottes.“

Und nicht zuletzt leidet Jeremia an sich selbst, an seiner eigenen Schwäche: Er ist zu jung, zu ungeschickt, zu hilflos, um ein guter Prophet zu sein und das Wort Gottes wirksam zu verkünden. Eines Gottes, an dem er übrigens selbst leidet. Denn der hat ihm diese Unheilsbotschaft aufgetragen. Und ihm versprochen, bei ihm zu sein. Und ihn dann doch allein gelassen und an seine Feinde ausgeliefert.

Denkt Jeremia an Gott, dann nicht an Geborgenheit und Liebe, sondern an Dunkelheit und Einsamkeit. Und da stellt sich doch die Frage: Warum bleibt er bei ihm? Warum kehrt er ihm dann nicht den Rücken? Täte er das, er bräuchte keine Unheilsbotschaften mehr zu überbringen, das Verhältnis zu Familie, Freunden und Nachbarn könnte sich normalisieren. Jeremia würde es einfach besser gehen. Für den modernen Menschen wäre das völlig normal.

Aber nein, Jeremia bleibt. „Von Gott gepackt“, so nennt Elie Wiesel sein kleines Buch über „prophetische Gestalten“. Das gilt für Jeremia, besonders für ihn. Aber wie macht Gott das? In welcher Sprache spricht er zu Jeremia? Als Stimme aus dem Off? Welche Möglichkeiten hatte Gott damals, Menschen zu überzeugen? Oder waren die Menschen einfach naiver als wir heute?

Nun, möglicherweise hat sich auch gar so viel verändert seit damals. Vielleicht hat Jeremia gar keine sonderbaren Stimmen gehört. Vielleicht war seine Botschaft, seine Überzeugung wie bei mir entstanden: Durch Beobachtung der politischen Zustände, durch innere Überzeugungen, durch das geduldige Hören auf eine innere Erkenntnis.

Jeremia kam aus Anatot. Dieser Ort liegt eigentlich nicht weit weg von Jerusalem, etwa 7 km. Und doch war er ein Ort der Verbannung, man kam schlecht hin, und er lag ganz am Rand des Jerusalemer Verwaltungsbezirks. Jeremia war also nah genug am Zentrum der Macht, um sich ein Bild von der politischen Realität machen zu können. Aber er war nicht Teil des Systems, er konnte sich einen unabhängigen Blick bewahren. Und das machte ihn hellsichtig. Und wenn er den Willen und die Worte Gottes verkündet, dann klingt es wie: Seht ihr denn nicht, was vor Augen liegt? Sehr ihr nicht die übergroße Bedrohung durch die Babylonier? Woher eure katastrophale Überschätzung eurer Möglichkeiten?

Seine Gegner aber denken in anderen Kategorien. Sie sehen den Aufwiegler. Wenn wir jetzt nicht alle an einem Strang ziehen, sagen sie, dann erst kommt die Katastrophe. Wir brauchen keinen, der in Frage stellt. Keinen, der den Zweifel nährt. Wir wollen überleben, und wir werden es, denn Gott ist mit uns. Und die Ägypter sind es auch.

Und beide Seiten graben sich ein, kämpfen verzweifelt und mit allen Mitteln – wobei Jeremia natürlich in einer ganz schwachen Position ist. Das Einzige, was er auf seiner Seite hat, ist seine Überzeugung. Dass er letztlich auch politisch Recht haben wird, kann damals noch keiner wissen.

Und Jeremia ist auch keineswegs so selbstsicher, wie seine Botschaft manchmal glauben lassen will – wenn er mit großem Pathos verkündet: So spricht der Herr! Immer wieder fragt er nach dem Sinn des Ganzen, und er findet ihn nicht. Immer wieder sucht er nach sich selbst, sucht nach einer Gemeinschaft, die ihn trägt, und immer wieder wird er ausgestoßen, ja verfolgt. Nur wenige Freunde bleiben ihm. Denn wenn es darauf ankommt, will er auch keine Kompromisse eingehen. Er sucht nach der Wahrheit – oder besser: nach Wahrhaftigkeit in Zeiten der Unaufrichtigkeit.

Generationen von Predigern und Predigerinnen haben versucht, in Jeremias Fußstapfen zu treten. Sich nicht von der Politik oder der Wirtschaft einfangen zu lassen, sondern zu sagen, was ist. Ich denke da zum Beispiel an Margot Käßmanns Ausspruch: „Nichts ist gut in Afghanistan.“ Sie hat damit der offiziellen Lesart widersprochen und gerade von sogenannten Realpolitikern viel Gegenwind bekommen. Sie hat sich an ihrer Überzeugung orientiert, ihrer Ethik vom Frieden, ihrer Orientierung an Bibel und Glauben.

Trotzdem hat sie mich nicht überzeugt. Gerade weil sie sich so sehr an ihrer christlichen Botschaft orientiert hat. Zu Recht, so meine ich, muss sie sich fragen lassen, ob man die Taliban wirklich effektiv mit Gebeten bekämpfen kann. Und welche Strategie nun wirklich die richtige ist, kann man erst im Nachhinein sagen. Wenn überhaupt.

Ich glaube auch nicht, dass wir als Christinnen und Christen der Politik sagen müssen oder auch nur können, wie sie zu handeln habe – so gerne wir auch ein solches sogenanntes „Wächteramt“ ausüben würden. Ich glaube viel eher, dass wir gar keine Antworten geben sollten, sondern vielmehr die Fragen stellen, die sonst keiner stellt.

Martin Buber erzählte dazu einmal eine Geschichte: „Es ereignete sich, dass ich einmal den Besuch eines unbekannten jungen Menschen empfing, ohne mit der Seele dabei zu sein. Ich ließ es durchaus nicht an einem freundlichen Entgegenkommen fehlen, ich unterhielt mich mit ihm aufmerksam und freimütig – und unterließ nur, die Fragen zu erraten, die er nicht stellte. Diese Fragen habe ich später ihrem wesentlichen Gehalt nach erfahren, erfahren, dass er nicht beiläufig, sondern schicksalhaft zu mir gekommen war, nicht um Plauderei, sondern um Entscheidung, gerade zu mir, gerade in dieser Stunde. Was erwarten wir, wenn wir verzweifeln und doch noch zu einem Menschen gehen? Wohl eine Gegenwärtigkeit, durch die uns gesagt wird, dass es ihn dennoch gibt, den Sinn.“ Und was wir für den persönlich-seelsorglichen Bereich erwarten, gilt genauso für den politischen.

Wenn wir uns als Christinnen und Christen mit den Fragen unserer Gesellschaft beschäftigen, mit der Politik oder mit der Wirtschaft, dann ist unser Ort nicht der Tempel der Kirche – also nicht unser religiöser Elfenbeinturm, unser biblisches Sonderwissen. Dann ist es aber auch nicht der Tempel der Macht. Es ist nicht unsere Aufgabe, irgendeine politische Richtung zu unterstützen.

Dann ist es der Ort, der für Jeremia Anatot war: Nahe genug, dass wir dabei sind, mit den Menschen fühlen und denken, den politischen Wind spüren, dass wir die Fragen erahnen, die die Menschen nicht stellen und nicht zu stellen wagen. Und weit genug weg, dass wir uns nicht von ihnen vereinnahmen lassen. Dass wir uns die Zeit nehmen und geduldig sind, bis die Antworten vielleicht sogar von selbst kommen. Es ist der Vorteil einer Kirche, die kleiner und unbedeutender wird: Wir können auch einmal zu spät kommen. Die Hauptsache ist, dass wir dann das hilfreiche Wort zu sagen haben, das weiterbringt, den Frieden fördert, Menschen zusammenführt. Dann wird aus unserem Wort Gottes Wort.

Amen.

Bridge Over Troubled Water

In den letzten Jahren sind wir immer wieder Menschen begegnet, die mit uns im Tumorland unterwegs sind. Auch Manuela muss ihren Mann auf diesem Weg begleiten. Sie hat mich besucht und von dem Bild erzählt, das sie für ihre Situation gefunden hat: „Bridge Over Troubled Water“ von Simon & Garfunkel. Sie stellt sich vor, dass die Brücke die Form der Japanischen Brücke von Claude Monet hat – aber natürlich ist sein Bild viel zu friedlich. Sie schreibt:

Das Leben ist wie eine Wanderung, eine Reise von der Geburt zum Leben, von einem Ort zum andern. Diese Reise ist nicht immer einfach. Immer wieder stoßen wir auf Hindernisse, die zu überwinden sind – raues Wetter, hohe Berge, breite Flüsse. Wir konnten sie immer überwinden, erst alleine, dann gemeinsam zu zweit, in der Familie oder auch mit Hilfe von Freundinnen und Freunden.

Wilder FlussDann aber stießen wir auf einen Fluss, der so ganz anders war. Aufgewühltes Wasser, reißende Strömung. Wir kamen nicht weiter.

Denn mein Mann wurde krank. Er bekam Krebs. Wir mussten die Komfortzone verlassen und konnten unser Leben nur noch in Grenzen selbst bestimmen – Operationen, Chemotherapie und weitere Behandlungen nahmen unsere Zeit und unsere Kraft in Anspruch. Es war – und ist – eine raue und bewegte Zeit wie ein Fluss mit troubled water. Gleichzeitig war es so, als ob das Leben zu einem Stillstand gekommen war. Dieser Fluss war zu gefährlich, als dass wir ihn hätten überqueren können.

Und doch haben wir im Lauf der letzten vier Jahre viel gelernt. Wir lernten, die Situation anzunehmen und das Leben bewusster zu leben. Das Grün ist grüner geworden. Nichts ist mehr selbstverständlich. Wir haben die Seiten und auch den Blickwinkel gewechselt.

Und wir wollen mehr. Wir wollen weiterleben. Auch für uns gilt das Motto: Der Krebs ist nur Beifahrer und wir behalten das Steuer in der Hand! Wir wollen über den Fluss.

Wir brauchten eine Brücke. Und dann war da jemand, der uns diese Brücke zeigte, ja, der selbst diese Brücke war:

When you’re weary, feeling small / When tears are in your eyes / I will dry them all / I’m on your side / Oh when times get rough / And friends just can’t be found
Like a bridge over troubled water / I will lay me down / Like a bridge over troubled water / I will lay me down…

Es war wie eine Botschaft aus einer anderen Welt, eine Botschaft von Gott. Und um auf die andere Seite zu kommen, hat mir mein Glaube geholfen:

In Räumen der Kirche komme ich immer gut zur Ruhe. Das war bei mir schon immer so. Ich suche hier nicht nach Lösungen, sondern Zeiten des inneren Friedens. Ich fühle dabei, siehe Liedtext:

– Ich bin an deiner Seite, sagt – für mich – Gott. Er ist an meiner Seite
– den Boden unter den Füßen behalten – im Text heißt es: ich werde mich niederlegen.
– da segelt jemand hinter mir.

Und tatsächlich, meine Gedanken werden leichter.

Ein väterlicher Freund hat mir in jungen Jahren gesagt: Es wäre gut, wenn ich eines verinnerliche: Wir sind allein, wenn wir geboren werden, und wir sind allein, wenn wir sterben, und zwischendurch haben wir zwar Weggefährten an unserer Seite, aber wir sind immer allein.

Das stimmt. Aber durch den Glauben fühle ich mich nicht allein. Gott tröstet mich, wenn ich völlig fertig bin!

Und mit seiner Hilfe überqueren wir den Fluss. Das Leben geht weiter.

© Manuela F. Schwarz, Bearbeitung: Erik Thiesen

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Beitragsbild: Claude Monet (1840-1926), Japanische Brücke in Giverny – Reprography from art book, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=7169264
Bild im Text: Pxhere

Nachdenken über den Heiligen Geist

Nachdenken über…In dieser kleinen Serie über Gott, Jesus und den Heiligen Geist versuche ich zusammenzufassen, was mir in den letzten Jahren wichtig geworden ist. Es ist sozusagen ein persönliches Glaubensbekenntnis und nimmt den Gedanken von „Christentum to go“ wieder auf.

Die Entscheidung, am 17. Februar den Gottesdienst zu halten, obwohl gesundheitlich alles dagegen sprach, war kein bewusstes Abwägen. Ich nahm zwar wahr, wie es um mich stand, aber das spielte keine Rolle. Irgendetwas in mir hatte den Beschluss schon gefasst. Als Ute davon einer Freundin erzählte, meinte die spontan: Das war der Heilige Geist.

Der Heilige Geist. Er ist schwer zu fassen und weht eben, wo er will, wie Jesus sagt. Und je nachdem, wen man fragt, scheint er auch an ganz unterschiedlichen Orten aufzutauchen und ganz verschiedene Eigenschaften zu haben. Die Charismatiker identifizieren ihn zum Beispiel überall dort, wo bei christlichen Menschen übernatürliche Gaben festgestellt werden können: Wunderheilungen, Exorzismen, unverständliches Reden zum Beispiel. In der Feministischen Theologie wird er gendergerecht oft die Heilige Geistkraft genannt. Das weibliche Element darf schließlich auch in der Trinität nicht fehlen, und schließlich ist die hebräische Grundbedeutung רוּחַ auch weiblich. Die Vorstellung, wie oder wer der Heilige Geist sei, hat eben viel mit der Gottesvorstellung zu tun.

Durch den Heiligen Geist wird die Botschaft Jesu heute konkret. Und für mich ist die wichtigste Eigenschaft dieses Geistes, dass er der Tröster ist. „Und ich will den Vater bitten und er wird euch einen andern Tröster geben, dass er bei euch sei in Ewigkeit“, sagt Jesus (Johannes 14,16). Wir haben in den letzten Jahren unendlich viele tröstende Worte bekommen. Sie berührten unser Herz, sie richteten uns auf, sie waren ohne Zweifel geistgesättigt.

Bei Ignatius spielt der Trost eine zentrale Rolle. Wenn ich Gott liebe – und das heißt für mich: wenn ich das Leben liebe -, wenn Glaube, Liebe und Hoffnung in mir wachsen, wenn ich innerlich ruhig werde und ausgeglichen, dann sind es deutliche Zeichen: Hier wirkt der gute Geist.

„Die Liebe zum Leben“, schreibt Fulbert Steffensky, „bringt Feuer und Wasser zusammen: die harten Fakten und die gerupfte, aber nicht erschlagene Hoffnung. Die Liebe zum Leben lässt sich nicht durch falsche Stimmigkeit betören. Sie wird nicht zynisch und sie bleibt nicht blind.“ 

In diesem Satz klingen zentrale Elemente meines Glaubens an. Zunächst einmal das Hohelied der Liebe: Die Liebe „erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand … Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe. Die Liebe aber ist die größte unter ihnen.“ (1. Korinther 13,7) Und das Bild von Feuer und Wasser erinnert mich an das Wasser der Taufe, das Jesus mit dem Geist in Verbindung gebracht hat („Wenn jemand nicht geboren wird aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen,“ sagt er in Johannes 3,5) und das Feuer von Pfingsten (Apostelgeschichte 2). An dem Tag werden die Jüngerinnen und Jünger be-geistert (eine beliebte kirchliche Schreibweise).

Der Neurobiologe Gerald Hüther betont, dass Begeisterung die Voraussetzung von Lernen ist und eine Umgebung benötigt, in der wir mit anderen Menschen verbunden sind und persönlich wachsen können. Das klingt nach einer Gemeinde, in der der Geist das Sagen hat.

Die Gaben des Geistes sind die „Charismen“, die Gnadengaben. „Charisma“ ist eine Ableitung von „Charis“, der Gnade (grch. χάρις, lat. gratia). Wir verstehen darunter vor allem ein Geschenk, das ein Mächtiger einem Schuldigen macht: Der Erlass der Strafe – in der Theologie die Folgen der Sünden, in der Justiz die der Schuld. Im Prinzip aber bleibt der Schuldige schuldig und abhängig und der Mächtige mächtig.

Ursprünglich aber hat die Charis nichts mit dem Recht zu tun, sondern mit der Ästhetik. Es bedeutete Schönheit oder, mit einem schon fast vergessenen Wort, Anmut – eine Qualität, die Navid Kermani gerade unter Protestanten so schmerzlich vermisst. Später wandelte sich die Bedeutung auch zur Wohltat. Auch das hebräische Chanan (חנן)   wandelt sich in seiner Bedeutung – nur in entgegengesetzter Richtung von Wohltat zu Schönheit. Ist der gnädige Gott vielleicht eher ein schöner Gott? Und was ändert sich, wenn wir statt „Die Gnade Gottes sei mit dir“ sagen: „Die Schönheit Gottes sei mit dir“? Für mich hat sich mit dieser Vorstellung eine völlig neue Glaubenswelt aufgetan.

Und ich erinnerte mich an einen meiner Lieblingssätze: „So schön wie hier kann’s im Himmel gar nicht sein“ (Christoph Schlingensief). Dieses Wort hat ihm der Heilige Geist gegeben.

Nachdenken über Gott

„Wenn dir der Gedanke kommt, dass alles, was du über Gott gedacht hast,
verkehrt ist, und dass es keinen Gott gibt, so gerate darüber nicht in Bestürzung.
Es geht vielen so. Glaube aber nicht, dass dein Unglaube daher rühre,
dass es keinen Gott gibt.

Wenn du nicht mehr an den Gott glauben kannst, an den du früher geglaubt hast,
so rührt das daher, dass in deinem Glauben etwas verkehrt war,
und du musst dich besser bemühen, zu begreifen, was du Gott nennst.

Wenn ein Wilder an seinen hölzernen Gott zu glauben aufhört, heißt das nicht,
dass es keinen Gott gibt, sondern nur, dass der wahre Gott nicht aus Holz ist.“
(Leo Tolstoi)

Mit dem Krebs veränderte sich mein Bild vom Glauben, von Gott. Vielleicht war es auch gar keine Veränderung, sondern eine Intensivierung; die Grundlinien waren schon früher gelegt. Aber die Voraussetzungen hatten sich verändert.

Mein erster Lehrer auf dem Weg war Leonard Cohen: You want it darker. Was ist, wenn der Krebs kein Versehen Gottes war, kein „Ich geh denn mal kurz Kaffee trinken“, während der Teufel den Hiob quält. Was ist, wenn er den Krebs wollte?

Wir kennen diesen dunklen Gott, den Richter und den, der das Leid Unschuldiger zulässt. Martin Luther nennt ihn „deus absconditus“ – den verborgenen Gott. Für den „natürlichen“ Menschen verborgen und unverständlich. Der Glaubende wendet sich dem „deus revelatus“ zu, der sich in Jesus offenbart hat – als derjenige, der die Sünde wegnimmt und den Menschen nur Gutes will.

Für mich wird der Mensch dadurch entmündigt und Gott nicht ernst genommen. Für mich gibt es keinen „lieben Gott“ mehr, einen, der von seinen dunklen Seiten reingewaschen wird.

Widerspricht das aber nicht der gesamten biblischen Botschaft? Ist Gott nicht Liebe, menschenfreundlich und gut?

Ja, auch. Er ist sogar ganz großartig. Wenn er in allem ist und alles in ihm, dann ist sein Wesen ebenso schön und grandios, wie es das Leben eben – auch – ist.

Er ist beides, mal so und mal so, gut und böse, die coincidentia oppositorum (Nicolaus von Kues), das Zusammenfallen der Gegensätze. In der Theorie. Und deshalb in der Praxis vor allem: Unberechenbar.

Wie ich damit umgehen kann, habe ich bei Psychologinnen und Neurobiologen, Ärztinnen und Theologen gelernt. Die Kunst scheint darin zu bestehen, die Realität und eigene Wahrnehmung nicht zu leugnen – und dann die Fähigkeit zu haben, auf das Gute zu schauen.

Unsere Freundin Jutta Seeland (Psychotherapeutin) betont mit Gerald Hüther (Neurobiologe), dass unser Bewusstsein nicht nur unser Verhalten, sondern sogar das Verhalten unserer Zellen beeinflusst. Ärzte sagen, dass nachgewiesenermaßen – neben der Bewegung – eine gute Einstellung eine positive Wirkung hat. Für alle anderen alternativen Therapien gibt es keine ausreichenden Belege.

Giovanni Maio (Arzt) sagt: „Hoffnung ist ein Offensein für das, was kommen wird, und ein Vertrauen darauf, es bewältigen zu können.“ Und Fulbert Steffensky (Theologe): Hoffen ist „zu handeln, als gäbe es einen guten Ausgang“. Schließlich noch Sebastian Murken (Religionspsychologe): „Eine Religion hilft vor allem denen, die stark daran glauben, dass sie ihnen hilft.“

So verstehe ich auch die Botschaft Jesu: Er weiß darum, wie gefährlich das Leben ist. Er weiß um die Gefahr voPsalsssssssssssssssssn Hunger und Krankheit, um Unterdrückung und Folter. Und doch sagt er: Sorget nicht! (Matthäus 5,25ff.) Wenn wir ihn nicht für unzurechnungsfähig halten sollen, dann meint er damit: Schaut auf die hoffnungsvolle Seite des Lebens. Geht nicht auf in den Bedrängungen der Welt. Sucht die gute Seite Gottes als Verbündete.

Es ist also wenig hilfreich, einfach nur auf Gott zu vertrauen und zu glauben, dass er es schon gut machen werde. Weniger „Der Herr ist mein Hirte“ (Psalm 23,1) als vielmehr: „Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen.“ (Psalm 18,30)

Ich halte den Psalm 23 immer noch für einen schönen Text, der trösten kann und beruhigen und in den Schlaf wiegen. Aber er trägt mich nicht mehr, wenn es darauf ankommt. Genausowenig wie der Satz, den Margot Käßmann anlässlich ihrer Krebserkrankung gesagt hat: „Ich kann nicht tiefer fallen als in Gottes Hand.“ Ich fürchte: Doch, ich kann. Ich muss nicht. Selbst wenn ich bisher immer gehalten wurde, kann ich beim nächsten Mal durchgereicht werden. Zu vielen ist es schon passiert.

Die Frage, wie ich denn mit einem unberechenbaren Gott umgehen soll, werde ich nicht durch das Fürwahrhalten solcher Glaubenssätze lösen, auch nicht, indem ich über ihn rede, sondern mit ihm. Ganz grundsätzlich sagt Martin Buber dazu: „Wenn an Gott glauben bedeutet, von ihm in der dritten Person reden zu können, glaube ich nicht an Gott. Wenn an ihn glauben bedeutet, zu ihm reden zu können, glaube ich an Gott.“

Im Grunde ist es das Gottesbild der Bibel, besonders des Alten Testaments. Dort wird eigentlich relativ wenig über Gott geredet, dafür umso mehr mit ihm. Einer der für mich wichtigsten Texte steht in 2. Mose 3, die Unterhaltung des Mose mit Gott am Dornbusch. Mose erhält von Gott den Auftrag, die Hebräer aus Ägypten zu befreien. Mose lehnt ab. Alles spricht dagegen, dass er es könnte. Gott besteht darauf. Mose verlangt Garantien. Gott gibt ihm keine. Nur seinen Namen.

Und der lautet eben nicht: „Ich bin, der ich bin“ – ich bin der Ewige, der Herrscher des Himmels und der Erde. Das ist griechisches Denken. Er lautet: אֶֽהְיֶ֖ה אֲשֶׁ֣ר אֶֽהְיֶ֑ה „Ich werde mich als der erweisen, als der ich mich erweisen werde. Mit anderen Worten: Du wirst es nur herausfinden, wenn du es ausprobierst.

Und Mose geht los. Mit nichts an der Hand als den Trick mit der Schlange (2. Mose 4,2-4) und einem Bruder, der zur Not für ihn reden soll. Nicht gerade viel gegen den Herrn der damals bekannten Welt.

Es hätte schief gehen können. Und es ist auch nicht gerade glatt gegangen. Aber die Hebräer konnten Ägypten verlassen.

Schließlich ist er dann doch gestorben, bevor er am Ziel war. Sein Lebenstraum hat sich nicht erfüllt, aber seine Aufgabe hat er bewältigt.

Und ich glaube, genau das ist Leben: Nicht dass wir unsere Träume verwirklichen können, sondern dass wir eine Aufgabe haben und sie bewältigen, jeden Tag neu. Václav Havel hat gesagt: Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.“

 

Luusangeln

Mein Vater heiratete eine Frau von der Geest, ihr Bruder eine Angeliterin, seine Cousine einen Bauern aus Dithmarschen. Und unsere Nachbarin kam aus Ellerhoop bei Hamburg. Das war in den 50er Jahren sehr ungewöhnlich. Denn sie kamen aus unterschiedlichen Landstrichen in Schleswig-Holstein. Und zwischen ihnen lagen Welten. Eiderstedter und Dithmarscher, reiche und stolze Marschbauern, verband eine jahrhundertealte herzliche Abneigung. Die Angeliter nannten Schwansen „güntaf“, jenseits der Schlei, also nicht weiter der Rede wert – obwohl beide Regionen zum fruchtbaren Hügelland gehören. Und sie alle schauten herab auf die armen Bauern von der Geest.

Der Landstrich, der sich westlich an Angeln anschließt, wird „Luusangeln“ genannt. Ursprünglich war es nur die Beschreibung für „helles“ Land, heller eben als der dunkle Boden Angelns selbst – vom dänischen Wort für Licht, lys. Doch seit Jahrhunderten verstehen die Angeliter darunter nur noch das „lausige Angeln“. Und die richtige Geest kam ja erst dahinter.

Unsere Familien also überwanden kulturelle Grenzen, die leicht zu unterschätzen waren. Es war die völkerverbindende Kraft des christlichen Glaubens, die dies möglich machte. Trotzdem waren die Mentalitätsunterschiede deutlich spürbar.

Und ich merke sie auch in Dörte Hansens Roman „Mittagsstunde“, wenn sie die Flurbereinigung beschreibt. In Brinkebüll kam sie wie ein Ereignis von außen über das Dorf. Fremde, hochdeutsch sprechende Landvermesser kartieren die Landschaft, gestalten sie neu, und nachdem sie noch ein einheimisches Mädchen geschwängert haben, verschwinden sie wieder. Ich habe es anders erlebt. Mein Vater hat die Veränderungen aktiv vorangetrieben und selbst mit den Verantwortlichen in Kappeln und Kiel verhandelt. Für ihn war die Flurbereinigung ein großes Abenteuer und die Zukunft, die er mitgestalten wollte.

Später ging es darum, sich in der Viehwirtschaft zu spezialisieren. Und obwohl er leidenschaftlicher Milchbauer war, baute er große Schweineställe – es war ökonomisch vernünftiger. Natürlich wusste er bald um das Prinzip „Wachsen oder weichen“ oder, wie es in der „Mittagsstunde“ heißt, das „große Dreschen“. Nur wenige konnten überleben. Und er wollte mit dabei sein, sich die Zukunft und den Fortschritt zu Verbündeten machen. Dass mein Bruder aus dem Hof, den er aufgebaut hatte, einen Ökobetrieb machte, war für ihn ein Rückschritt in alte, unökonomische Zeiten.

Meine Mutter hat mit dieser Haltung immer gefremdelt. Ja, so sehr sie sich auch zu integrieren versuchte, sie fühlte sich nie so ganz zugehörig. Immer wieder stichelte sie gegen das „Gedöns“, das mein Vater um die Familie Thiesen und den Hof Spannbrück machte. Und den Investitionen meines Vaters stand sie eher misstrauisch gegenüber. Sie verunglückte dann tödlich bei der Stallarbeit. Und erst durch die Nachrufe bin ich darauf aufmerksam geworden, dass ihr Blick nicht so sehr den Erfolgreichen galt, sondern denen, die in der Dorfgesellschaft eher am Rande standen. Hilfe für Notleidende war auch für meinen Vater selbstverständlich, aber mehr noch aus christlicher Verantwortung, „um Jesu willen“. Für meine Mutter war es eine Haltung, die aus ihrer eigenen Erfahrung kam.

Diese Haltung erkenne ich immer noch wieder. Vor einigen Jahren waren wir zu einem „Vettern- und Cousinentreffen“ der Familie meiner Mutter – sie selbst hatte vier Geschwister – eingeladen. Zu ihnen gehörten die Erfolgreichen ebenso wie „Menschen mit besonderem Assistenzbedarf“ – in Brinkebüll nannte man sie „Halfbackte“. Und wir erzählten uns viele Geschichten, wie sich Eltern um Kinder und Kinder um Eltern und die Geschwister umeinander kümmerten. Alle hatten sie ihre Sorgen und ihre Freuden, die einen mehr vom einen, die anderen mehr vom anderen. Wir trafen Menschen, die reden konnten und zuhören. Es war für uns ein besonderer Tag, an dem die Kategorien „Erfolg“ und „Misserfolg“ nicht zählten.

Waren es also die Gene, die sie so gemacht haben? Oder die Landschaft? Oder der christliche Glaube? Ich denke: einfach eine glückliche Mischung von allem.

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Luusangeln, von Christian Knoll, – selbst fotografiert, gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=7788111

Lichtblick der Woche

An den Artikeln zu Weihnachten zeigt sich gut das Verhältnis der Nachrichtenmagazine zur Religion. Der Spiegel hat auch dieses Jahr wieder seine Kommentare und Reportagen möglichst weit abseits der christlichen Botschaft postiert – die Rituale seiner Mitarbeitenden drehten sich dann auch meistens ums Essen. Die Zeit findet immerhin: „Mit dem Heiland feiert es sich besser.“

Den schönsten Artikel aber fanden wir im Stern: „Vom Staunen und Wundern“. Und darin findet sich der Satz, der uns nicht loslässt:

Wunder ist, wenn Hoffnung über Erfahrung siegt.

Im Text heißt es: „Aber dann kommen Tage, an denen wir wollen, dass die Hoffnung über die Erfahrung siegt. Dass etwas passiert, was über uns hinausweist. Dass, wenn wir uns am Ende unserer Kraft fühlen, doch ein neuer Anfang gelingen kann. Gegen jedes Wissen, gegen jedes Messen, gegen jede Logik. Jenseits des Verstands berührt zu werden – diese Sehnsucht macht uns zu Menschen.“

So schreibt es der Reporter Uli Hauser. Und er hat recht.

Über die Schönheit

Seitdem ich darauf gestoßen bin, dass das Wort „Gnade“ in den alten Sprachen hebräisch, griechisch und lateinisch viel eher mit „Wohltat“, besser noch mit „Schönheit“ zu übersetzen ist, lässt mich dieser Gedanke nicht mehr los. Heute las ich ein Interview mit dem britischen Neurobiologen Semir Zeki, der wissenschaftlich bestätigt, „dass Liebe und Schönheit eng zusammenhängen“. Durch beide Empfindungen wird nämlich dieselbe Region im Gehirn aktiviert. Sie „ist Teil eines größeren Komplexes, der sich mit Entscheidungen beschäftigt. Vor allem bewertet er Reize, die wir als angenehm oder als Belohnung empfinden“.

Im Grunde wissen wir das auch. Zum Beispiel, wenn wir mit Goethe „zum Augenblicke sagen: Verweile doch! du bist so schön!“ Oder mit Schlingensief: „So schön wie hier kann’s im Himmel gar nicht sein.“ Das Schöne ist gleichzeitig das Gute. Die Griechen hatten dafür sogar ein Wort: Kalokagathia. Das Ideal der Vollkommenheit.

Schönheit ist aber nicht nur eine emotionale und eine ästhetische Kategorie. Sie spielt auch in der Mathematik eine Rolle. Einstein meinte einmal zu seiner Formel E=mc², was so schön ist, könne nicht falsch sein. Und der Mathematiker Hermann Weyl meinte einmal, im Zweifelsfall würde er sich immer für die „schöne“ Theorie entscheiden.

Wenn es denn stimmt, dass Schönheit auch eine zentrale Eigenschaft Gottes ist, dann lag Paul Schulz vielleicht doch nicht so falsch, als er in den siebziger Jahren fragte: „Ist Gott eine mathematische Formel?“ Damals verlor er für diese These seine Stelle als Hauptpastor der Hamburger Kirche St. Jacobi. Heute würde man mit dem Thema vielleicht etwas gelassener umgehen.

Schönheit muss natürlich nicht immer glatt und einfach sein. Auch die runzligen Gesichter von alten Menschen können schön sein, eine karge Landschaft kann es – und für manche Menschen auch ein Musikstück von Karlheinz Stockhausen. Die Bibel aber bringt noch einen Aspekt ins Gespräch, der der griechischen Tradition von Schönheit eher fremd ist. Der „ideale Mensch“ ist für sie nicht derjenige, der dem „Ideal der körperlichen und geistigen Vortrefflichkeit“ nahekommt. Es ist der gekreuzigte Mensch, der leidende. In Gott kommt es zusammen: Die Schönheit und das Leiden. Wie aber verhält es sich im wirklichen Leben?

Vielleicht so: Weil Gott das Leiden kennt, sein Sohn – und damit er selbst – sogar gestorben ist, ist er mir nahe. Und ich brauche ihn in meiner Nähe, nicht nur, um mich bei ihm zu beklagen. Ich brauche ihn, damit er mir Türen öffnet hin zur Schönheit, zum Guten, hin zum Leben.

Geheimnis des Glaubens

„Geheimnis des Glaubens – deinen Tod, o Herr, verkünden wir und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit.“ So sprechen die Katholiken, so sprechen wir auch manchmal zum Abendmahl. Geheimnisvoll ist schon dieser Satz – wie der Vers aus dem 1. Timotheusbrief, der ebenfalls vom Geheimnis des Glaubens spricht und Grundlage der Predigt in der Christmette in der Kirche am Markt in Niendorf war. Gemeinsam mit Daniel Birkner (seine Abschnitte sind kursiv gesetzt) konnte ich auf der Kanzel stehen.

Es ist ein Geheimnis um Weihnachten. So wie um unseren Glauben ein Geheimnis ist. Davon spricht ein Vers aus der Bibel. Paulus schreibt an Timotheus (Kapitel 3, Vers 16):

Groß ist das Geheimnis unseres Glaubens – Jesus Christus.
Er ist uns erschienen als Mensch
und freigesprochen worden im Geist.
Er wurde erkannt von den Engeln
und bekannt unter den Völkern.
Er wurde geglaubt in der Welt,
und aufgenommen in Herrlichkeit.

Groß ist das Geheimnis unseres Glaubens – Jesus Christus.

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen.

Liebe Gemeinde!

Groß ist das Geheimnis unseres Glaubens. Groß ist das Geheimnis von Weihnachten. Wie auch immer die letzten Stunden gewesen sind – ob die Geschenke glücklich gemacht haben oder enttäuschend waren, ob das Zusammensein harmonisch war oder anstrengend, ob Sie Weihnachten eher als den Geburtstag Jesu Christi oder als Fest mit der Familie gefeiert haben – jetzt sind Sie hier, um noch einmal in besonderer Weise Weihnachten zu erleben, das Geheimnis von Weihnachten.

Natürlich gibt es diejenigen, für die Weihnachten eine einzige Enttäuschung ist und immer war. Sie fliehen die Lieder, das gedimmte Licht und die allzu oft vorgetäuschte Weihnachtsharmonie. Andere erwarten schon deshalb nichts von dieser Zeit, weil das Leben für sie keine Geheimnisse kennt – nur Rätsel, die man prinzipiell lösen kann.

Wir aber reden vom Geheimnis von Weihnachten: Dass Gott in die Welt kam, damals vor 2000 Jahren. Und was kam denn überhaupt in die Welt? Gott? Auch das – ein Geheimnis. Denn wir können Gott nicht fassen, nicht denken; und jeder, jede von uns hat zudem eigene Vorstellungen von dem Gott, an den wir glauben oder an den wir gerade nicht glauben. Gott ist der große Unbekannte, die Lebenskraft, das Leben an sich. Er ist der liebe Gott und verhindert doch nicht das ganze Leid auf dieser Welt. Er ist unberechenbar. Unfassbar. Unsichtbar.

Aber wir sagen: Er hat sich gezeigt. Er ist erschienen. In einem Menschen. Er wurde sichtbar und anfassbar. Damals in Bethlehem, in einem kleinen Kind. In Windeln gewickelt – und die hatte es nicht nur, damit es von den Hirten besser erkannt wurde. Die hat es gebraucht. Denn Gott wurde ein normaler Mensch – wie du und ich.

Das Geheimnis von Weihnachten: Der unfassbare, allmächtige Gott offenbart sich in einem Kind. Ein einfaches Kind. Das soll der Erlöser sein. Später werden auch viele Wunderlegenden von dem Kind erzählt. Aber Lukas erzählt von einem einfachen Kind in Windeln.  

Gott wird anfassbar, sagst du. Gott wird sichtbar. Aber das muss ich erst einmal glauben. Denn ich habe dieses Kind weder angefasst, noch gesehen. Aber – ich glaube es. Ich glaube, dass in Jesus von Nazareth das Göttliche in einer Weise Gestalt annahm, dass wir Menschen darin wahrnehmen können, welch Göttlichkeit auch auf uns liegt, welch Göttlichkeit auf dieser Welt liegt. Ich glaube das. Aber das ist ein weiteres Geheimnis. Geheimnis des Glaubens. Woher kommt das? Es ist ja, als ob noch immer Wellen von diesem Kind in der Krippe ausgingen, und von dem, was Jesus dann lebte und lehrte. Das hat mich schon in meiner Jugend, als mir christlicher  Glaube noch fremd war, dennoch fasziniert: da gab es vor 2000 Jahren einen Menschen und noch heute richten Menschen ihr Herz und ihre Taten nach ihm aus.  So, als ob er durch Jahrtausende hindurch greifen und Herzen berühren kann; meins hat er dann auch erreicht. Dorothee Sölle hat es für mich auf den Punkt gebracht. Sie hat einmal den schönen Satz gesagt: „am ende der suche nach der frage nach gott steht keine antwort sondern eine umarmung.“

Ich habe viel über den Glauben nachgedacht, aber seine Wurzel hat er nicht im Kopf, sondern im Herz. Wie im Einzelnen mein Glaube entstanden ist, ist kaum zu beschreiben. Geheimnis des Glaubens. Was ich empfinde ist: Glauben zu können ist ein Geschenk.

Und du sagst es, Daniel: Mit dem Glauben ist es so eine Sache. Die einen können’s, die anderen nicht. Erstere haben es sicher einfacher in der Kirche, die anderen müssen sich ein wenig mehr anstrengen. Aber vielleicht gelingt es ja, wenigstens für heute Abend, für diesen Gottesdienst. Stellen wir uns doch einfach vor, dass Gott oder, wie du auch sagst, das Göttliche in einem Kind erschienen ist. Durch Jesus wird der unfassbare Gott fassbar. Gott kommt uns nahe. „Gott ist Mensch geworden, damit der Mensch Gott werden könne“, sagte schon  im 2. Jahrhundert der Kirchenvater Irenäus. Das klingt für unsere protestantischen Ohren ungewohnt, ja vermessen. Wenn wir sagen: „Der Mensch spielt Gott“, so meinen wir: Er spielt sich auf zum Herrn über Leben und Tod. Fühlt sich allmächtig – und zerstört damit die Grundlagen unseres Lebens. Genau das Gegenteil aber ist gemeint. Wenn wir Gott – oder göttlich – werden, dann heißt das: Wir verwirklichen in unserem Leben den Willen Gottes. Und der Wille Gottes ist, dass allen Menschen geholfen werde. Auch uns selbst.

Deshalb hat Gott nicht die eine allgemeine Botschaft für alle. Denn wir brauchen, wenn uns geholfen werden soll, durchaus unterschiedliche Hilfen, weil wir verschieden sind. Und wir gehen, wenn wir den Willen Gottes tun, auch unterschiedliche Wege. Als Christinnen und Christen sagen wir: Diesen Weg gehen wir am besten in der Nachfolge Jesu. Denn in ihm sehen wir, wer wir eigentlich sein sollen. Deshalb gibt es auch so viele unterschiedliche Geschichten von Jesus – weil wir Menschen so unterschiedlich sind.

„Gott ist Mensch geworden, damit der Mensch Gott werden könne“, sagt Irenäus. Ich stelle dem ein verwandtes Wort zur Seite: „Mach es wie Gott – werde Mensch.“

Wir sagen manchmal: „Was der gemacht hat, war echt unmenschlich.“ Oder umgekehrt: „Man sollte menschlich miteinander umgehen.“ Wenn wir das so sagen, haben wir ein hohes Ideal des Menschen vor Augen. Wir haben ein Bild vor Augen – vom wahren Menschen. Wir wissen alle, was es bedeutet. Wir tragen dieses Bild in uns. Ein Bild der Liebe und Nächstenliebe. Es ist in gewisser Weise das Bild, das Jesus verkörpert. Würden wir alle mit solcher Liebe, gepaart mit Achtung und Respekt seinem Beispiel folgen, wären viele Veränderungen zum Guten möglich. Menschlich sein – göttlich sein: Jesus spiegelt uns beides – das Göttliche und das Menschliche. Und auch die Abgründe des Menschseins.

Für dich ist Jesus ein Bild der Liebe. Das ist er für mich auch. Noch mehr aber bewundere ich an ihm, wie er seinen eigenen Weg gegangen ist: den Weg der Gewaltlosigkeit. Er hat nach dem Guten gesucht, in der Welt, in den Menschen und auch in Gott. Er hat sich nicht beirren lassen, weder von seinen Anhängern noch von seinen Gegnern. Er strebte nicht nach Macht und Reichtum und war sich bewusst, dass ihn sein Weg ins Leiden und schließlich in den Tod führen könnte. Und so ist es ja schließlich auch gekommen. Er setzte sich für die Menschen ein, und er hat immer wieder gepredigt: Glaubt daran, dass Gott es gut mit euch meint. Glaubt an das Gute im Leben und in Gott. Und ich glaube, dass Jesus ein wirklich freier Mensch war.

Daniel: So heißt es – etwas geheimnisvoll – ja auch in unserem Hymnus: Freigesprochen im Geist. Freispruch – das klingt immer nach Gerichtsverhandlung. Aber es geht hier um eine andere Freiheit. Es geht um eine Freiheit von Zwängen. Um die Freiheit vom zwanghaften Gefühl: erst wenn ich etwas geleistet habe, habe ich es verdient geliebt zu werden. Jesus weiß sich uneingeschränkt geliebt von Gott und lebt aus dieser Liebe.

Wir müssen nichts vorweisen, wir müssen nichts leisten und werden umarmt. Das ist der Freispruch im Geist – wir sind frei – von der Last der Selbstrechtfertigung. Glauben heißt: loszulassen von dem Zwang, etwas vorweisen zu wollen und darauf zu vertrauen: Du bist geliebt. „Lass los von der Vorstellung, etwas dafür leisten zu müssen!“ Gott liebt! Punkt. In den Krippenspielen wollen die Hirten dem Kind gerne etwas mitbringen. Lukas erzählt davon nichts. Sie haben nichts und brauchen nichts mitzubringen – und doch sind sie die, die Gott als erstes anspricht. „Euch ist heute der Heiland geboren!“

Und dass in Jesus Gott selbst auf die Erde gekommen ist, können wir nicht beweisen oder erklären. Alles, was wir sehen, ist ein normales Kind. Wir können es aber leben und erleben. Wir können es bekennen und davon singen, wie die ersten Christinnen und Christen den Timotheus-Hymnus:

Groß ist das Geheimnis unseres Glaubens – Jesus Christus.
Er ist uns erschienen als Mensch
und freigesprochen worden im Geist.
Er wurde erkannt von den Engeln
und bekannt unter den Völkern.
Er wurde geglaubt in der Welt,
und aufgenommen in Herrlichkeit.

So haben sie gesungen, weil sie in Jesus ihr eigenes Leben wiedergefunden haben. Und weil sie gespürt haben, wie das Göttliche sie berührt hat. So singen wir auch jedes Jahr wieder zu Weihnachten, weil wir zumindest etwas ahnen von dem Geheimnis unseres Glaubens, dass Gott in die Welt, zu den Menschen, zu uns gekommen ist: Himmlische Heere jauchzen dir Ehre. Freue dich, o Christenheit.

Amen.

So schön wie hier

Wer findet den Fehler? Es war Peter, beruflich eher naturwissenschaftlicher Hintergrund, der bei seinem letzten Besuch darauf hinwies, dass der Satz von Christoph Schlingensief irgendwie merkwürdig ist: „So schön wie hier kann’s im Himmel gar nicht sein.“ Der Himmel – egal, ob wir christlich angehaucht sind oder Hardcore-Atheisten – steht für das Schöne an sich: „Wie im Himmel“ heißt der berührende schwedische Film. Verliebte sind gar im „7. Himmel“. Und „einfach himmlisch“ waren die Weihnachtskekse von Schwiegermutter, die unsere Tochter nun kongenial nachbackt.

Und „hier“, auf der Erde, ist die Lage doch eher gemischt. Schlingensief gab diesen Satz seinem Bericht über seine Krebserkrankung, der er nach fünf Jahren erlag. Und die auch bei ihm von jeder Menge unangenehmer Therapien und vor allem immer der Aussicht auf den Tod begleitet war. Und trotzdem: „So schön wie hier…“

Aber er hat auch nicht geschrieben: Auf der Erde ist es schöner als im Himmel. Diese Aussage könnte man zu Recht bezweifeln, denn der Himmel… siehe oben.

Ich könnte zum Beispiel aus voller Überzeugung sagen: „So schön wie in Niendorf kann’s in Spannbrück gar nicht sein.“ Ich weiß, wovon ich rede, denn ich komme von da. Mein Bruder, der immer noch von da kommt, sagt dagegen mit derselben Überzeugung: „So schön wie in Spannbrück kann’s in Niendorf gar nicht sein.“ Und wer hat nun recht?

Natürlich beide. Denn wir sagen nichts über die schönere Schönheit der Orte an sich. Sondern über unsere Beziehung zu unserem Ort. Der „Hamburger an sich“ weiß natürlich, dass unsere Stadt die schönste der Welt ist. Auch wenn internationale Rankings etwas anderes behaupten, und eins sogar München bevorzugt. Ausgerechnet München! Na gut…

Schlingensief sagt also im Grunde nichts über den Himmel, sondern alles über sein Verhältnis zur Erde: Er lebt gerne, und zwar weil das Leben so schön ist. Schöner als im Himmel. Trotz aller Gegengründe, die auch er zur Genüge hat.

Und das heißt auch: Er will nicht dorthin. Zumindest noch nicht. Und er schreibt im Vorwort: „Nicht zuletzt wünsche ich der Kirche, dass sie aufhört, uns mit den Geheimnissen des Jenseits unter Druck zu setzen. Das Leben ist zu schön, um uns Menschen permanent mit kommendem Unglück zu drohen. Gottes Liebe und Hilfe – egal, wer oder was das auch sein möge … manifestiert sich vor allem in der Liebe zu uns selbst! … Wir sind ganz einfach wunderbar. Also lieben wir uns auch mal selbst. Gott kann nichts Besseres passieren.“ (Seite 11) 

Nach der Diagnose setzt er sich intensiv mit seiner Krankheit auseinander. „Mal wütend und trotzig, mal traurig und verzweifelt, aber immer mit berührender Poesie und Wärme umkreist er die Fragen, die ihm die Krankheit aufzwingen: Wer ist man gewesen? Was kann man noch werden? Wie weiterarbeiten, wenn das Tempo der Welt plötzlich zu schnell geworden ist? Wie lernen, sich in der Krankheit einzurichten? Wie sterben, wenn sich die Dinge zum Schlechten wenden? Und wo ist eigentlich Gott?“ So steht es im Klappentext.

Trotz – oder wegen? – seiner Krankheit arbeitet er an einer Vision: Ein Operndorf in Afrika. In der Nähe von Ougadougou, Burkina Faso. Ein internationales Kultur- und Begegnungszentrum. Abgedreht, menschenfreundlich und „eines der gegenwärtig interessantesten Kulturprojekte weltweit“ (Chris Dercon).

Genauso verstehe ich auch den Titel der Biographie des chilenischen Dichters Pablo Neruda: „Ich bekenne, ich habe gelebt.“ Als Aussage ist er banal: Dass jemand gelebt hat, muss man nicht bekennen. Das gilt für alle Lebewesen. Aber gerade durch dieses Wort „ich bekenne“ wird die Aussage großartig und geheimnisvoll. Sie beschreibt in fünf Wörtern ein Leben voller Hingabe und Lust, Neugier und Leiden – und der Liebe zum Leben und zu seinem Land.

Von seiner Rückkehr aus Europa schrieb er: „Gegen Ende 1943 kam ich wieder nach Santiago. „Ich richtete mich im eigenen … Haus ein … und begann nochmals das schwierige Leben. Von neuem ging ich auf die Suche nach den Herrlichkeiten meines Vaterlandes, der starken Schönheit der Natur, dem Zauber der Frauen, der Arbeit meiner Gefährten, der Intelligenz meiner Landsleute.“ Und beschreibt dann auch deren überaus schwere Lebensbedingungen.

Bis zum Schluss blieb er seinen Überzeugungen treu, setzte sich für die Menschen ein und schrieb seine Gedichte. Er lebte sein Leben.

Ich bin weder Künstler wie Schlingensief noch dichtender Politiker wie Neruda. Aber in ihren Überzeugungen bin ich ihnen nahe: „Ich bekenne, ich habe gelebt“, und so will ich weiterleben, denn „so schön wie hier kann’s im Himmel gar nicht sein.“

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Beitragsbild: pxhere, Torres del Paine, Chile

Verhandlungssache

Wenn wir an Abraham denken, steht das Bild von Isaaks Opferung oft im Vordergrund. Klar, wenn das Leben eines Kindes auf dem Spiel steht, schafft es diese Geschichte immer auf die erste Seite. Dabei gibt es eine andere, in der es um eine ganze Stadt geht – und in der Abrahams Charakter noch viel deutlicher zum Ausdruck kommt. Drei Männer besuchen ihn in seinem Beduinenzelt. Er lädt sie ein und bewirtet sie. Während des Gesprächs verraten sie ihm, dass sie, in Gottes Auftrag, zwei Städte zerstören sollen: Die Leute in Sodom und Gomorrha haben es sich mit dem Allerhöchsten verdorben. Doch mit der Zerstörung ist Abraham nicht einverstanden. „Und wenn es doch gute Menschen dort gibt?“, wendet er ein. „Gut, wenn es 50 Gute gibt, soll die Stadt leben.“ Abraham will das schon als Erfolg feiern, da kommen ihm Bedenken: „Und wenn es nur vierzig sind?“ Na gut, Gott ist gnädig. Vierzig also. Aber Abraham hat immer noch ein schlechtes Gefühl – nach mehreren Runden handelt er Gott auf 10 herunter.

Nun, wie man weiß, hat auch das nicht geholfen. Vielleicht hätte Abraham weitermachen sollen? Vielleicht hat er nicht damit gerechnet, dass die Städte so verdorben waren? Vielleicht wusste er auch als erfahrener Verhandler, dass seine Position ausgereizt war.

Man muss sich das einmal vorstellen: Der Mensch feilscht mit dem Allmächtigen um Menschenleben – auf der Seite der Menschen! An diesem Bild stimmt – dogmatisch – gar nichts. Und menschlich alles.

Denn im wirklichen Leben feilschen wir meistens mit Gott – um unser Leben, das unserer Lieben, das unserer Welt. Und Gott erweist sich oft als sehr flexibel: Dass die Menschen böse sind, nimmt er mal als Grund für deren Vernichtung, dann wieder – derselbe Grund! – für deren Rettung (Sintflut). Jakob stellt Gott Bedingungen : „Wenn es mir gut geht, will ich an dich glauben. Sonst – und im Raum steht, dass Jakob sich wohl auch durchaus anderen Göttern zuwenden würde. Eine sehr moderne Haltung (1. Mose 28,20). Später kommt es dann noch zu einer stundenlangen handfesten Auseinandersetzung mit einem Engel (Kap. 32).

Die Alten pflegen mit Gott ein äußerst dynamisches Verhältnis. Und Gott mit ihnen. Er macht zwar einen Vertrag mit Abraham, inklusive großer Versprechungen: Ich bringe dich zu jeder Menge Reichtum und Ehre. Wenn man aber genauer hinschaut, bleibt von dem allen nur ein Familiengrab. Und auch die weitere Geschichte Israels verläuft alles andere als glanzvoll.

Die Theologen haben sich immer eifrig bemüht, den Menschen dafür die Schuld zu geben. Nicht immer haben sie mich überzeugt.

Ich mag Abraham. Er weiß durchaus zu kämpfen (1. Mose 14). Aber im Grunde ist er ein großer Verhandler und Schlichter, der mit seinen Verwandten, Nachbarn und Gegnern gut auskommen will. Vielleicht ist seine Fähigkeit aus der Not geboren. Da er nichts besitzt und keine große Familie hat, ist seine Lage immer sehr unsicher. Eine militärische Auseinandersetzung kann er sich nur im Ausnahmefall leisten. Deshalb redet er.

Und auch wenn er manchmal in der Gefahr steht, sich um Kopf und Kragen zu reden – am Ende verdient er sich mit seinem Geschick und seiner Integrität von allen Seiten Achtung, auch die mächtiger Fürsten.

Ich glaube, dass ich Abrahams Situation nachfühlen kann. Zwar habe ich im Gegensatz zu ihm immer in einem festen Haus gelebt. Doch das Leben war für mich mehr schwankendes Boot als sicherer Hafen – in den letzten Jahren sowieso. Ich wurde enttäuscht, fallen gelassen und verletzt. Und ich habe Unterstützung erfahren und wurde gehalten; das Boot ist bisher nicht untergegangen.

Und wie Abraham habe ich ein Versprechen, eine Verheißung bekommen. Mein Konfirmationsspruch lautet: „Gott spricht: Ich will mit dir sein.“ (2. Mose 3,12) Aber wie das mit Verheißungen so ist: Was macht mich so sicher, dass ich wirklich gemeint bin? Gott sprach ja eigentlich zu Mose. Auch Abraham hat ihn gehört, Paulus und vielleicht sogar mein Nachbar. Doch mit mir sprach er allenfalls in Andeutungen. Ich kann Leonard Cohen verstehen, wenn er sich von Gott wünscht: „I wish we had a treaty I could sign.“ Ich wünschte, ich hätte einen Vertrag, in dem steht: Ich, Gott, erkläre verbindlich… Am besten mit Notar, Vertragsstrafen und all den Sicherungen.

Habe ich nicht. Ich habe nur die bisherigen Erfahrungen, dass ich lebe und dass ich gehalten werde. Ob das auch für heute oder gar morgen gilt? Dietrich Bonhoeffer hat schon recht: Wenn überhaupt, dann gibt uns Gott nur „in jeder Notlage soviel Widerstandskraft, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern auf ihn verlassen“.

In der direkten Auseinandersetzung ist Gott mir überlegen. Deshalb mag ich gegen ihn auch nicht kämpfen. Auf der anderen Seite will ich aber auch nicht so einfach aufgeben. Denn es gibt Dinge, für die es sich zu kämpfen lohnt. In Abrahams Fall waren es Sodom und Gomorrha. Manchmal aber ist es einfach nur Lebenszeit, ein guter Tag oder der Sonnenstrahl, der gerade durchs Fenster scheint – und mich zum Spaziergang animiert wie in der Stunde, als ich diesen Beitrag schrieb…

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Die „Dreifaltigkeitsikone“ – am berühmtesten ist die von Andrey Rubljev – nimmt den RubljevGedanken des Gesprächs auf. Sie deutet die Gäste des Abraham als die drei Personen der Trinität und in einem immerwährenden Gespräch mit sich selbst. Gott ist nur Gott in Kommunikation, Begegnung und Bewegung. Eine schöne ausführliche Auslegung findet sich in der Zeitschrift Quatember. (The Yorck Project (2002) 10.000 Meisterwerke der Malerei (DVD-ROM), distributed by DIRECTMEDIA Publishing GmbH. ISBN: 3936122202., Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=158610

Beitragsbild:  Julius Schnorr von Carolsfeld – Holzschnitt aus „Die Bibel in Bildern“, 1860. Drei Engel bei Abraham, Ankündigung der Geburt Isaaks. Quelle: Der Literarische Satanist, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5469758