Predigt am 14. Januar 2018, am 2. Sonntag nach Epiphanias, in der Kirche am Markt in Niendorf
Predigttext: 1. Korinther 2, 1-10
Liebe Gemeinde!
Vor 30 Jahren dauerte es noch sechs Jahre, bis sich das Wissen der Menschheit verdoppelt hatte. Heute schaffen wir es innerhalb eines Jahres. Vor 30 Jahren habe ich noch ordnerweise Zeitungsartikel gesammelt – man konnte ja nie genug Informationen haben. Heute trage ich mit meinem Smartphone ganze Bibliotheken mit mir herum. Mein Problem ist es nicht mehr, Informationen zu bekommen, sondern diese Informationen zu sortieren, zu bewerten und für mich nutzbar zu machen: Was ist wichtig, was unwichtig? Was ist richtig, was ist falsch? Und vor allem: Was nützt mir, was nützt uns zu einem besseren Leben?
Wir alle profitieren vom Wissen: Aberglaube und irrationale Ängste bedrängen uns nicht mehr so wie Menschen früherer Zeiten. Der technische Fortschritt hat das Leben bequemer und angenehmer gemacht. Allerdings auch zur Atombombe geführt, zu Umweltverschmutzung, zu immer effektiveren Methoden, Kriege grausamer und überhaupt, sich das Leben schwer zu machen.
Was wir brauchen, ist nicht nur Wissen, sondern Weisheit. Ein weiser Mensch hat Wissen, aber auch Intuition, Verstand ebenso wie Gefühl. Er ist reif geworden im Lauf der Jahre und hat sich gleichzeitig seine Kindlichkeit bewahrt. Natürlich ist er klug, aber immer auch ein bisschen schräg und unvernünftig. Er ist realistisch und rechnet doch damit, dass es mehr gibt, als wir sehen können. Der weise Mensch vereint ein gesundes Selbstbewusstsein mit einer tiefen Demut, denn er muss sich nichts mehr beweisen. Und ja, ich würde gerne weise werden wollen.
Auch die Bibel schätzt die Weisheit übrigens sehr hoch. Mehrere Bücher des Alten Testamentes sind ihr gewidmet, wie die Sprüche oder der Prediger Salomo. Die griechische Philosophie trägt diese Hochachtung sogar in ihrem Namen: Die Freundin der Weisheit. Und das wohl einflussreichste religiöse System der Zeit des Paulus, die Gnosis, hatte einen eigenen Weisheitsmythos entwickelt: Die Weisheit erlöst den Menschen von seinen irdischen Bedingungen. Ja, Weisheit war und ist für alle ein erstrebenswertes Ziel.
Außer für Paulus selbst, offenbar. „Menschenweisheit“ sagt er zu allen diesen Gedanken und Erkenntnissen – und es mag offen bleiben, ob er damit die griechische Philosophie oder gnostische Lehren gemeint hat, die in der Gemeinde in Korinth unterwegs waren. Er setzt dem allen seine eigene Botschaft gegenüber – eine Weisheit, die von Gott kommt und die wir nur durch den Glauben erkennen.
Das hört sich sehr nach einem Trick an: Wer die Meinung des Paulus nicht teilt, hat eben auch nicht den richtigen Glauben und die höhere Erkenntnis, die von Gott kommt. Mit so jemandem kann man nicht vernünftig diskutieren. Andererseits: Mein Glaube beruht doch geradezu auf Aussagen und Zusagen, die nicht durch die Vernunft begründet werden. „Fürchte dich nicht“, sagen die Engel zu den Hirten. „Ihr seid das Licht der Welt“, so Jesus zu seinen Jüngern. „Gott spricht: Ich will mit dir sein“, zu Mose, mein absoluter Lieblingssatz. Und für Paulus ist es Jesus, der Gekreuzigte.
Und wer wollte bestreiten, dass die Botschaft von Kreuz und Auferstehung für uns Christen zentral ist? Dass Jesus gekreuzigt wurde, kann man vernünftigerweise noch nachvollziehen. Aber das mit der Auferstehung kommt schon in der Bibel eher als Geheimnis denn als Tatsache rüber. Und dass dieses Geschehen uns Menschen erlöst, als Vorbild dienen soll, zutiefst menschlich und zugleich göttlich ist, das ist wirklich nur noch zu glauben.
Ecce homo, sagt Pilatus über den gequälten Jesus, seht, welch ein Mensch. Er ist beschädigt. Die Performance ist schwach. Furcht und Zittern gehören dazu, Kraft und Weisheit sind verborgen. Theologen nennen es auch das Jerusalemer Menschenbild: Es sieht den Menschen in seinem Leiden.
Dem gegenüber steht das Athener Modell. Der ideale Mensch ist selbstbestimmt, stark, intelligent und belastbar – mens sana in corpore sano, ein gesunder Geist in einem gesunden Körper. Wenn dann noch Reichtum und Schönheit dazu kommen, dann ist es perfekt. Im Grunde ist es das Ideal, das sich seit der Renaissance zumindest in Westeuropa ziemlich durchgesetzt hat.
Paulus dagegen zeigt auf Jesus: So wie er war, so sind wir. Guten Willlens zwar, aber oft schutzlos den Bedingungen dieser Welt und den Mächtigen ausgeliefert. Ecce homo, so ist der Mensch: Er scheitert. Er leidet. Er ist unscheinbar. Kein Sportlerass, kein Nobelpreisträger, kein musikalisches Wunderkind, normalerweise.
Und er führt sich dafür selbst als Beispiel an. „Ich bin zu euch gekommen“, schreibt er, „mit einem Gefühl der Schwäche und zitternd vor Angst. Ich setzte bei meiner Rede und Verkündigung nicht auf die Weisheit und ihre Fähigkeit zu überzeugen. Ihre Wirkung verdankte sich vielmehr dem Heiligen Geist und der Kraft Gottes.“
Nicht meine Fähigkeiten, sagt er, sondern Gott selbst, der durch mich gesprochen hat, hat euch überzeugt. Nehmen wir einmal an, dass solche Sätze nicht nur Rhetorik sind, sondern dass Paulus sie auch so meint – dann paart sich hier eine niedrige Meinung von sich selbst mit dem Anspruch, Gottes Wahrheit zu kennen: Ich selbst bin gar nichts, Gott ist alles. Nach meiner Erfahrung führt eine solche Haltung allerdings schnell zum Fundamentalismus.
Für uns wünsche ich mir viel mehr Selbstbewusstsein als es Paulus hier zur Schau trägt – aber auch eine viel größere Vorsicht gegenüber dem, was sich als Wahrheit Gottes ausgibt. Denn wir sind doch beides: stark und schwach, gut und böse, langsam und schnell, gesund und krank, einfach und kompliziert. Wir sind Leistungsträger und Mitläufer. Und manchmal sind wir es nacheinander und manchmal gleichzeitig, manchmal mehr, manchmal weniger. Wir planen unser Leben, steuern unseren Kurs, übernehmen selbstbewusst Verantwortung und brauchen gleichzeitig die Unterstützung und die Hilfe unserer Mitmenschen und sind darauf angewiesen, dass wir von guten Mächten wunderbar geborgen werden. Und – wir dürfen so sein.
In einer Gesellschaft, die so offensichtlich das Athener Modell lebt, brauchen wir eine Kirche, in der die Fußkranken und grauen Mäuse willkommen sind. Wir brauchen einen Ort, an dem wir zu unseren Schwächen stehen – aber dabei nicht stehen bleiben. Paulus schreibt: Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig.
Denn der Geist der Furcht ist ausgetrieben, weil die größte Furcht gebannt ist: Die Furcht vor mir selbst. Die Furcht vor dem Scheitern, davor, übervorteilt zu werden, ausgenutzt, klein gemacht, ausgelacht. Denn ich weiß: Ich bin so, weil Gott mich so gemacht hat. Weil er mich so will. Und weil er noch viel mit mir vorhat.
Und plötzlich kann wachsen, was bisher verborgen war: Eine Gelassenheit, eine Furchtlosigkeit, eine Offenheit für die Menschen um uns herum. Wir bekommen Gottes Geist, den Geist der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit. Und wir erkennen: Eigentlich sind wir schon die ganze Zeit in der Liebe Gottes geborgen gewesen. Es war nur vor unseren Augen verborgen, so wie die Weisheit Gottes vor den Augen der Welt verborgen ist.
Doch der Geist Gottes öffnet uns die Augen – für unsere Schwäche, und damit für unsere Stärken; für die Welt, wie sie ist, und damit für die Welt, wie sie sein soll; für die anderen Menschen und damit für uns selbst – und für die Liebe Gottes, die uns umhüllt wie ein warmer Mantel im Hamburger Winter.
Amen.
Danke schön für das Einstellen der heutigen Predigt! Passt gut zu dem Hörbuch von Clemens Kuby, das ich gerade mit ganz großem Interesse höre. „Unterwegs in die nächste Dimension“. Darin geht es um geistige Heilung, dargestellt an eindrucksvollen Beispielen. Wirklich sehr hörenswert, für mich geradezu aufregend, (weil offene Türen einrennend).
Ich hoffe, die Kirche war gut besetzt, und Sie konnten es kräftemäßig gut packen! Ich hab‘ um 10 Ihr an Sie gedacht…und noch eine Wrile länger
Herzliche Grüße,
Jutta Seeland
LikeLike
Schöne Predigt! Gefällt mir und spricht micht an.Viele interessante Aspekte.
Lieben Gruß aus der Ferne und alles Gute für die nächste Zeit, Ralf
LikeLike
Vielen Dank für die interessanten Gedanken der Predigt! Seit wir von Ihrem Blog im Dezember gehört haben, sind wir froh, diese Gelegenheit zu haben, als alte Niendorfer auch aus der fernen Potsdamer „Diaspora“ ein wenig teilhaben zu können, denn solcher Input fehlt uns hier. Wir wünschen Ihnen weiterhin, viel von Gottes Geist und vor allem Kraft zu spüren!
LikeLike
Wunderbar, dass der Kontakt über die Entfernung aufrecht erhalten werden kann. Und ganz herzlichen Dank für die guten Wünsche.
Aber sollte es nicht möglich sein, auch in Potsdam einen guten Input und Austausch über Glaubensfragen zu finden? Sozusagen als Ergänzung zum Blog?^^
LikeLike