Wie reden man mit jemandem, den man nicht sieht – ja, von dem man noch nicht einmal sicher weiß, dass es ihn überhaupt gibt? In allen Religionen spielt das Gebet eine hervorragende Rolle. Die meisten Schwierigkeiten scheinen die Protestanten mit ihm zu haben. Der Sonntag Rogate ist eine gute Gelegenheit, diesen Fragen nachzugehen. Zum Beispiel in einer Predigt.
Liebe Gemeinde!
Der Pfarrer von Boscaccio ist entsetzt. Gerade haben die Kommunisten, diese atheistischen Weltzerstörer, die Gemeinderatswahl gegen die christliche Partei gewonnen. „Wie konntest du das zulassen?“, ruft er empört in Richtung Kruzifix. Und der Jesus am Kreuz antwortet. „Das ist eben Demokratie“, sagt er. „Und die Armen haben schließlich Gründe genug, einen kommunistischen Bürgermeister zu wählen.“
Kenner wissen: Wenn ein Jesus am Kreuz antwortet, dann in den Geschichten von Giovanni Guareschi: Don Camillo und Peppone. Camillo pflegt einen sehr ungezwungenen Umgang mit dem Gottessohn. Und wenn sich die beiden unterhalten, geht es um sehr alltägliche Dinge. Ja, meistens geht es auch nur um den Priester und seine Leidenschaften. Mal will Camillo die kommunistische Versammlung aufmischen, mal jemanden verprügeln. Mal hat er Peppone eine Zigarre geklaut, mal will er sein Kind nicht taufen. Und Jesus gibt immer eine menschliche, oft undogmatische Antwort.
Davon unterscheiden sich unsere Gebete zumindest hier im Gottesdienst. Wir bitten um Gesundheit und Frieden in der Welt, wir danken dafür, dass wir genug zu essen haben. Aber wir erwarten nicht wirklich, dass Gott uns direkt antwortet, dass unser Kruzifix etwa plötzlich zu sprechen anfängt.
Im Grunde wissen wir ja auch, dass der sprechende Jesus ein literarischer Trick Guareschis ist. Weder das Kreuz hier in Niendorf noch das in Boscaccio – oder in Brescello, wo die Filme gedreht wurden – hat jemals auch nur ein Wort gesagt. Die Unterhaltungen zwischen Camillo und Jesus können ebenso gut Selbstgespräche sein. Sie sind der Ausdruck der beiden Seelen in der Brust des Priesters. Jesus ist seine innere Stimme, sein Gewissen. Und wir erkennen uns darin nur allzu gut.
Ich glaube: Genauso spricht Gott zu uns, wenn er zu uns spricht. Genauso war es in der Bibel, und so ist es auch bei den Menschen, die meinen, ihn deutlich zu hören. Und es ist nicht immer, eigentlich nie deutlich zu unterscheiden: Ist das nun wirklich Gottes Stimme oder nur unsere eigene, der wir Bedeutung und Autorität geben wollen? Nicht umsonst heißt es in der Bibel an prominenter Stelle: Du sollst dir kein Bildnis, keine Vorstellung von Gott machen.
Während der Exerzitien vor zwei Jahren sprach ich darüber auch mit dem Pfarrer, der mich durch diese geistlichen Übungen begleitete. Und er meinte: „Sprechen Sie mit Gott darüber.“ Und ich: „Wie bitte? Wie soll ich erkennen, dass Gott spricht und antwortet? Wie soll ich verhindern, dass ein solches Gespräch ein Selbstgespräch bleibt?“ Und er sagte: „Probieren Sie es aus. Werden Sie still.“ Und was mir besonders im Gedächtnis geblieben ist: „Trauen Sie es Gott doch einfach zu, dass er zu Ihnen redet. Wo sollte er es sonst tun, wenn nicht in der Stille?“
Ich hab’s gemacht. Und ehrlich gesagt: Ich bin mir keineswegs sicher, dass Gott zu mir gesprochen hat. Oder wann oder wie. Aber das ist mir auch nicht mehr wichtig. Irgendwie haben sich die Gedanken und Erkenntnisse in dieser Zeit geordnet und zusammengefügt. Ja, irgendwie hatte ich den Eindruck: Das war Gott. Und wenn er es nicht war, dann konnte man es gut mit ihm verwechseln.
Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber wurde einmal gefragt, ob er an Gott glaube, und er meinte: „Wenn an Gott glauben bedeutet, von ihm in der dritten Person reden zu können, glaube ich nicht an Gott. Wenn an ihn glauben bedeutet, zu ihm reden zu können, glaube ich an Gott.“ Damit kann ich sehr viel anfangen.
Und wie wir mit Gott reden können – das hängt dann doch sehr von dem Bild ab, das wir von Gott haben. Denn wir haben Erfahrungen gemacht, die wir mit Gott verbinden. Und so unterschiedlich wie diese Erfahrungen sind auch unsere Gebete.
Ein Beispiel. Kürzlich hat der Papst gemeint, wir müssten das Vater unser verändern. Die Bitte „Und führe uns nicht in Versuchung“ passe nicht zu Gott. Er meint: Gott schickt uns nichts Böses. Deshalb sollten wir lieber beten: Lass mich nicht in Versuchung geraten.
Ich habe ein anderes Bild von Gott. Ich glaube, dass er sehr wohl mit dem Bösen zu tun hat. Denn er ist der Ursprung von allem. Und wenn es mir schlecht geht, dann wende ich mich an ihn und klage und klage an: Warum? Und die Bibel gibt mir Recht: Auch die Psalmisten klagen, und manchmal bekommen auch sie keine Antwort.
Wenn aber Klage und Anklage die einzige Art ist, wie ich bete, dann kreise ich mich ein bei meinem Leiden, bei den Gefühlen von Ungerechtigkeit und Hoffnungslosigkeit, bei den Schmerzen und der Schwäche. Unser Bibeltext lenkt den Blick auf eine andere Art von Gebet: „Hört nicht auf zu beten“, heißt es da. „Bleibt dabei stets wachsam und voller Dankbarkeit!“
Das ist nichts anderes als das, was Jesus immer wieder gepredigt hat: Schaut auf den Gott, der euch das Nötige zum Leben gibt, sagt er. Der euch vergibt und euch zu guten Taten ermutigt. Seid aufmerksam für den Mitmenschen und für die Gelegenheiten, Gutes zu tun.
Und genau darum geht es auch beim Beten: Aufmerksam zu werden für das, was ist. Wer wir sind und was wir tun, für die Gelegenheiten, die uns das Leben – oder Gott – bietet. Und es ist nicht entscheidend, wie wir beten. Wir können gemeinsam mit anderen unsere Anliegen aussprechen oder auch alleine für uns. Wir können gemeinsam oder alleine schweigen oder singen. Wir können Gebete frei formulieren oder von anderen formulierte wie das Vater unser sprechen – ob nun in der traditionellen Form oder der vom Papst vorgeschlagenen. Wir können im Gottesdienst die Gebete, die vom Altar gesprochen werden, mitbeten und nachvollziehen oder in dieser Zeit auch unseren eigenen Gedanken nachhängen. Wir können klagen und bitten, danken und unsere Sünden bekennen.
Und damit habe ich lange meine Schwierigkeiten gehabt. Nicht weil ich nicht einsehen wollte, auch mal etwas falsch gemacht zu haben. Sondern weil mich das Bekenntnis niedergedrückt hat: Ich armer elender Sünder bin es nicht wert, zu Gott zu kommen, weil ich notorisch alles falsch mache.
Bis ich für mich gelernt habe, dass Sünden gar nicht die Verstöße gegen einen Moralkodex sind, den andere festgelegt haben. Sondern dass es die Fallen sind, in die ich immer wieder hineintappe: die Gedanken, die Einstellungen und Taten, die mich davon abhalten, das Gute zu tun. Und das Gute ist: Liebe und Hoffnung und Vertrauen zu fördern, bei mir und bei anderen.
Und wenn es dann heißt, dass Gott uns unsere Sünden vergibt, dann nichts anderes als: wir sollen uns nicht in unsere Schuldgefühle einkreisen, wir können und sollen neu und unbelastet anfangen, aufeinander zugehen, Frieden schließen, wenn wir mit uns oder auch mit anderen Menschen im Unfrieden leben. Wir sollen frei werden, den Weg zu gehen, der für uns der gute und der richtige Weg ist.
Oder, mit den Worten des Kolosserbriefs: „Führt im Unterschied zu denen draußen ein Leben voller Weisheit. Macht das Beste aus der Zeit! Eure Rede sei stets verbindlich, aber mit der nötigen Prise Salz. Dann wisst ihr auch, wie ihr jedem die angemessene Antwort geben könnt.“ Also: Christinnen und Christen vermeiden Hate Speech, die Hassrede gegen alle, die nicht ihrer Meinung sind. Sie vermeiden auch Fake News, die Verdrehung oder Erfindung von Tatsachen, damit sie in mein Weltbild passen. Denn sie lassen sich bei ihrem Reden nicht von den eigenen Emotionen beherrschen.
Ich merke: Dieser Abschnitt aus dem Kolosserbrief ist seit langem mal wieder ein Text aus der Bibel, dem ich vorbehaltlos zustimmen kann: Eine Anleitung und eine Mahnung zu einem selbstbestimmten, weisen und vernünftigen Leben und Handeln. Ich bin sicher, dass wir alle damit auch schon gute Erfahrungen gemacht haben. Ich kann mir aber auch vorstellen, dass wir noch einen guten Weg vor uns haben. Nun fängt ja jeder Weg mit dem ersten Schritt an. Und je eher wir losgehen, desto eher kommen wir an.
Amen.