Muss ich mich rechtfertigen – lassen?

 

In den Siebzigerjahren nahm die Theologie viele Anregungen aus der Psychologie auf. Wir lernten zum Beispiel die „nichtdirektive Gesprächsführung“ von Carl Rogers kennen, die Archetypenlehre C. G. Jungs und die Logotherapie nach Victor Frankl. Besonders beliebt war unter uns Theologen die Transaktionsanalyse nach Eric Berne. Vielleicht, weil sie dem traditionellen christlichen Menschenbild ziemlich deutlich widerspricht?

Eine ihrer Grundannahmen lautet: „Die Menschen sind in Ordnung.“ Gut, nicht alle ihre Taten, aber ihr Wesen. Und wenn sie es noch nicht sind, so können sie es doch werden und durch die Therapie zur Haltung vordringen: „Ich bin ok – du bist ok.“ Das heißt: Ich nehme mich an, wie ich bin und nehme dich so, wie du bist.

Die christliche Grundannahme über den Menschen dagegen lautet: Alle Menschen sind „voll böser Lust und Neigung“, haben weder Gottesfurcht noch wahren Glauben, weil sie eine „angeborene Seuche“ haben, nämlich die Erbsünde. Deshalb sind sie von Gott verdammt und können sich auch nicht selbst davon befreien. Aber sie können gerecht werden, weil der Gottessohn Jesus gestorben ist und ein Opfer für die Sünde war. Gottes Zorn ist damit prinzipiell versöhnt, und wir sind vor ihm gerecht geworden „aus Gnade um Christi willen durch den Glauben, nämlich wenn wir glauben, dass Christus für uns gelitten hat und dass uns um seinetwillen die Sünde vergeben, Gerechtigkeit und ewiges Leben geschenkt wird“. So steht es in den Artikeln 2-4 des Augsburgischen Bekenntnisses, das nach der Präambel der Nordkirche unseren Glauben beschreibt und auf das alle Ordinierten verpflichtet werden. Man nennt diese Idee auch die Rechtfertigungslehre.

Sie geht zurück auf Martin Luther, der wiederum Paulus interpretiert hat. Beide waren von ihrem Wesen her Perfektionisten. Sie wollten Gott gefallen. Und da sie Angst hatten, dass Gottes Zorn beim kleinsten Fehler zuschlug, hatten sie ein riesiges schlechtes Gewissen. Für beide war es eine Befreiung, dass sie nicht selbst die Forderungen Gottes erfüllen mussten – Jesus hatte es mit seinem Tod ja bereits getan, und zwar vollständig.

Ich finde diese Gedanken nicht mehr ganz so überzeugend wie früher einmal. Und dafür habe ich mehrere Gründe:

  1. Ich glaube nicht, dass der Sündenfall etwas mit Sünde zu tun hat, sondern mit der Entfremdung von Gott. Das ist für mich ein großer Unterschied. Die Entfremdung hat etwas mit – unerfüllter – Sehnsucht zu tun, die Sünde mit Schuld. Die Sünde kommt in der Bibel erst bei Kain und Abel vor. Daher glaube ich: Die Erbsünde gibt es nicht. Sie ist eine Erfindung von Theologen.
  2. Die „Gnade“ hat in der Bibel keine juristische Bedeutung. Sie ist vielmehr mit „Schönheit“ oder „Wohltat“ zu übersetzen. Keine Frage: Wenn einem im juristischen Sinn Schuld vergeben wird, wenn man also begnadigt wird, ist das auch eine Wohltat. Aber im Zentrum steht dieser Aspekt nicht.
  3. Es erscheint mir absolut unverständlich, warum Gott seinen geliebten Sohn töten musste, damit meine Schuld vergeben wird. Ich fände es völlig absurd, das Leben meines Sohnes aufs Spiel zu setzen, um einen Rechtsstreit mit einer anderen Person zu klären. Ich kann jemand anderem auch so vergeben – warum könnte Gott das nicht?
  4. Ich glaube noch nicht einmal, dass der Mensch schlecht ist. Er hat gute und böse Seiten, keine Frage. Aber im Umgang mit anderen möchte ich von Eric Bernes Ansatz ausgehen: Ich bin ok, du bist ok. Das hat mir im Zusammenleben mit mir und anderen Menschen immer besser getan, als wenn ich das Gegenteil gedacht habe. Gott setzt auch nicht voraus, dass wir vollkommen sind. Das ist vielleicht unser Ziel im Glauben (Matthäus 5,48). Aber im wirklichen Leben gilt für mich eher die Überzeugung des Künstlers Nam June Paik: „When too perfect, lieber Gott böse.“

Ich glaube, dass die Rechtfertigungslehre eine ganz spezielle Antwort von Personen wie Paulus oder Martin Luther auf ihre Frage ist: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Weil sie Angst hatten vor Gottes Zorn. Weil sie Perfektionisten waren. Weil sie sich durch diese Auslegung der Jesusgeschichte von einem unglaublichen Druck befreit haben.

Auf mich treffen beide Voraussetzungen eher nicht zu. Von einem Perfektionisten trennen mich einige Welten. Und mein Konfirmationsspruch lautet: „Gott spricht: Ich will mit dir sein.“ Das ist die Grundlage meines Glaubens.

Dabei habe ich gerade in den letzten Jahren durchaus nicht immer erlebt, dass Gott mit mir ist. Der Blog ist auch der Versuch, diese beiden Eckpunkte meines Lebens zusammenzubringen: Gottes Treue, Nähe und Unterstützung – und seine Abwesenheit, Unaufmerksamkeit und Härte. Und ich bin immer noch auf dem Weg.

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Beitragsbild: Das Jüngste Gericht (obere Hälfte), von Hans Memling (um 1470) – http://mng.gda.pl/zbiory/sztuka-dawna/hans-memling/, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1455943

Wir Guten

Serie: Die AfD und ich (1)

Ich gestehe: Ich bin nicht perfekt. Manchmal mache ich Fehler, manchmal verletze ich andere Menschen, manchmal nerve ich einfach. Ich rede mal zu viel, mal zu wenig, mal das Falsche. Ich sehe meine Grenzen, die meisten jedenfalls, und sie liegen deutlich vor meinem Horizont. Aber das Gute ist, und das beruhigt mich dann wieder: Das ist nicht ganz so schlimm. Denn ich gehöre zu den Guten. Prinzipiell wenigstens. Weiterlesen