Der Einzug

Exerzitien 25. Teil, Bingen 2018, die „dritte Woche“.

Und weiter geht es mit unserer kleinen Fortsetzungsgeschichte über die letzten Tage Jesu (über ihren Hintergrund steht hier mehr). Die Planungen für den Einzug in Jerusalem sind abgeschlossen, die Vorbereitungen beginnen.

Nach den Beratungen hielt ich mich von der Gruppe fern; bei den Vorbereitungen hätte ich nur gestört. Und so machte ich mich auf den Weg in die Stadt. Wie ich schon vermutet hatte: Mit Rom kein Vergleich. Aber es lag eine seltsame Atmosphäre über der Stadt, eine explosive Mischung von Aufruhr, religiöser Anspannung und Festtagsstimmung.

Auf dem Rückweg kam ich an einem Hügel mit Olivenbäumen vorbei. Doch Oliven wurden hier keine mehr geerntet. Dafür waren Querbalken an die Stämme genagelt worden. Und an ihnen hingen Menschen, sterbend oder bereits tot. „Die Gruppe von Jehuda dem Messerwerfer,“ meinte ein Passant. „Die Römer kreuzigen alles, was nur entfernt nach Hochverrat aussieht. Und Jehuda hat immerhin einige Hoffnungen auf Befreiung in der Bevölkerung geweckt.“

Zurück in Betfage sah ich Jesus auf einer Bank sitzen. „Darf ich?“, fragte ich. Jesus rückte ein wenig zur Seite.

„Jesus“, sagte ich, „warum machst du das eigentlich? Ich meine, wenn dich die Leute dazu drängen würden, dann würde ich das ja noch verstehen. Aber diese ganze Inszenierung – es ist ja fast so, als ob du sterben wolltest.“

„Nun“, antwortete Jesus, „immerhin setzen meine Jünger große Hoffnungen in mich. Petrus sieht in mir den Gesalbten, den Messias, den Gottessohn. Judas hofft, dass ich die Römer vertreibe und ein gerechtes Reich aufrichte. Philippus sieht schon das Reich Gottes entstehen, und für Johannes bin ich der vollkommene spirituelle Lehrer. Alle setzen große Hoffnungen in mich.“

„Und du?“, fragte ich. „Was willst du selbst? Du hast etwas von Leid und Tod erzählt – ich sah heute eine Reihe von Gekreuzigten. Es war ziemlich grauenvoll. Und das mit der Auferstehung verstehe ich, ehrlich gesagt, nicht wirklich. Warum also das alles?“

„Es ist mein Weg.“

„Es gibt zweifellos angenehmere Wege und Ziele.“

„Du denkst an Rom, die Thermen und alles?“ Jesu Frage war eher rhetorisch gemeint. „Ja, vielleicht ist das ja dein Weg. Ein angenehmes Leben und dann heiter sterben.“ Ich hatte in Rom mit einigen Stoikern zu tun gehabt, auch Seneca getroffen, und in der Tat: Das schien mir ein durchaus überzeugendes Lebenskonzept zu sein.

„Aber das will nicht zu meinem Leben passen“, fuhr Jesus fort. „Ich bin Jude, unser Gott ist alles: liebender Vater und unberechenbarer Despot, hochemotional und von unergründlicher Tiefe. Er trennt zwischen seinem Volk und allen anderen und ist doch der Gott aller Menschen und für alle da. Und so sind wir Juden auch: Wir glauben schnell und sind gleichzeitig auf der Suche nach der ewigen Wahrheit. Wir lachen und tanzen und leiden unter der Ungerechtigkeit und der Herrschaft der Römer. Wir könnten Römer werden, wie unsere Vorfahren Babylonier hätten werden können, aber dann hätten wir uns verloren. Wir hätten Gott verloren. Es gibt für uns offenbar nicht den leichten Weg.“ Und nach einer Pause: „Nein, ich weiß selbst nicht richtig, wozu das alles gut sein soll. Aber ich bin überzeugt davon, dass es wichtig ist.“

Dann schwieg er. Ich auch. Nach einer Weile stand ich auf und ging ins Bett.

Am nächsten Tag ging ich hinunter ins Kidron-Tal. Etwa 30 m hinter dem Garten Gethsemane hatten sich die Jüngerinnen und Jünger mit gut 40 weiteren Menschen versammelt. Und als Jesus unter den Bäumen zu sehen war, begannen sie zu rufen: „Da ist er, Jesus, der Prophet aus Nazareth, Gesalbter, Retter, Sohn Gottes. Hosanna.“ Erst durcheinander, dann im Chor. Das Fohlen hatte vor Schreck kurz gebockt, aber dann hatte Jesus es im Griff. Das Geschrei sorgte für Aufsehen. Immer mehr Menschen strömten zusammen. Einige hatten schon von Jesus gehört und informierten die anderen.

Ich schaute die Leute an. Die meisten waren aus Neugier dabei. Andere hatten einen hoffnungsvollen Blick. Wieder andere ließen sich mitreißen. Und einen hörte ich hinter mir sagen: „Vielleicht schafft er ja das, woran Jehuda der Messerwerfer gescheitert ist.“

Es dauerte eine ganze Weile, bis Jesus das Kidron-Tal durchritten hatte und zum Goldenen Tor kam. Bis dahin waren vielleicht zwei- bis dreihundert Menschen zusammengekommen.

Plötzlich kehrte Ruhe ein. Aus dem Tor waren Soldaten gekommen, eine kleine Einheit von Pilatus‘ berittener Garde. Aber sie beobachteten nur. Als Jesus das Tor durchritten hatte, schlossen sie es sofort. Sie befürchteten wohl, dass es in den engen Gassen Tote und Verletzte geben könnte.

Jesus aber hatte erreicht, was er wollte.

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Beitragsbild: Henri van Waterschoot († 1748(?) in München), Einzug in Jerusalem – http://www.lempertz-online.de/, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=15774002
Über die Arten von Kreuzigung gibt, natürlich, Wikipedia umfassend Auskunft.

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