Parallelgesellschaft

Nach meiner privaten Theorie hat der Norddeutsche an sich seinen Wikingerglauben nie ganz abgelegt. Die Götter unserer Vorfahren waren, im Unterschied zum Gott der Bibel, grundsätzlich bedrohlich. Wenn sie auftauchten, wurde es gefährlich: auf See, in der Schlacht, bei der Ernte, in der Nacht. Im besten Fall bekam man später einen anständigen Platz in Walhalla. Die Menschen wurden von Geistern geängstet und gequält. Entsprechend hielt man sich tunlichst von ihnen fern. Und die Geistlichkeit hatte genau diese Aufgabe, sie zu bannen – oder, wenn sie schon mal da waren, sie zu besänftigen.

Warum also, so die norddeutsche Überzeugung, muss ich zur Kirche, wenn es mir gut geht? Erst zu den prekären Zeiten wird sie gebraucht: Bei Geburt und Tod, in der Pubertät oder bei der Hochzeit, bei Ernte und dann, wenn es dunkel ist: im tiefen Winter. Dann ist die Kirche traditionell auch knallvoll. In der modernen Gesellschaft haben sich die Bedingungen gewandelt, das Prinzip aber ist geblieben – wenn man sich z.B. den Boom der Schulanfängergottesdienste anschaut; dieser Lebensübergang ist ja vor allem für die Eltern angstbesetzt.

In Brinkebüll aber ist diese Naturerfahrung noch unmittelbar. Die Nordfriesen, so erzählt Dörte Hansen in der „Mittagsstunde“, seien „gegen jeden Glauben imprägniert“. Alles Göttliche liefe ab an ihrem Fell wie Wasser am Gefieder einer Gans.

Gemeint ist natürlich der Gott der Bibel, den die Pastoren den Menschen nahe bringen wollen. Die Menschen aber glauben an einen anderen Gott, der näher an ihren eigenen Erfahrungen ist: Unberechenbar und bedrohlich wie die Natur. Und der geht es „gar nicht um das bisschen Mensch“, wie Dörte Hansen am Anfang und am Ende ihres Buches betont. Der Mensch kommt und geht, aber größer noch, wichtiger und beständiger ist das Altmoränenland, der Wind, die Natur.“ Und so hatte „der Gott, an den Sönke Friedrichsen glaubte, nicht viel Väterliches, und besonders gnädig war er auch nicht, nur gerecht“. So einer überhört am besten die lebensferne Botschaft des fremden Evangeliums: „Verrückte und Pastoren, einfach klappern lassen.“ Evangelium auf der Geest ist das, was hilft, in diesem Leben zurecht zu kommen. Und so wird das biblische Sabbatgebot denn auch zur „Middachstunde“, zur heiligen Ruhe mitten am Tag: An ihm darfst du keine Arbeit tun: du und dein Sohn und deine Tochter, dein Sklave und deine Sklavin und dein Vieh und dein Fremder in deinen Toren. (2. Mose 20,10)

Es gab allerdings auch Pastoren, die den Zugang zu ihrer Gemeinde fanden. Sie ehrten die Alten mit ihrem Besuch bei runden Geburtstagen. Sie nahmen selbstverständlich am Beerdigungskaffee teil. Sie sagten nicht nur Moin, sie sprachen platt und sahen, wann ein Schwein reif für den Schlachter war. Sie achteten auf die Moral in der Gemeinde, sahen dann aber nicht mehr so genau hin. Und wenn man dann mal zur Kirche ging, hörte man lebensnahe Predigten, nicht so pastoral.

Pastor Ahlers hat diesen Ton offensichtlich nicht ganz getroffen. Sein Zuhause war eher das Studierzimmer. Bis zuletzt hoffte er „mit aller Demut und Sanftmut, mit Langmut, die Seelen zu erquicken und sie aus den dunklen Tälern zu befreien“. Die Seelen aber hatten andere Sorgen.

In meiner Heimatgemeinde Toestrup gab es nun vor hundert Jahren einen Pastor, der sich noch einmal in ganz anderer Weise den Erwartungen widersetzte. Ja, er machte unzählige Hausbesuche. Aber sein Ziel war kein unverbindlicher Klönschnack. Er wollte Seelen zu Jesus bekehren. Er achtete auf die Moral in der Gemeinde und sah auch im Nachhinein genau hin. Als Christ, so seine Botschaft, spielt man keine Karten, man trinkt nicht und lässt die Ehefrau des Nachbarn in Ruhe.

Und siehe, einige Familien ließen sich überzeugen. Zumal dieser Schritt auch mit wirtschaftlichen Vorteilen verbunden war: Man hatte morgens beim Melken einen Kirche Toestrupklaren Kopf, nicht schon die Hälfte der Haushaltskasse verspielt, und das Verhältnis zum Nachbarn war wesentlich gelassener geworden.

Der Kröger im Nachbardorf schenkte nur noch Nichtalkoholisches aus und stellte seinen Gastraum dem kirchlichen Posaunenchor zur Verfügung. Und die Gottesdienste waren auch an normalen Sonntagen gut besucht.

Als mein Vater in der Gemeinde seinen Hof baute, verstand er sich besonders gut mit diesen Familien. Er selbst gehörte zur Gemeinschaft in der Landeskirche, einer Art Freikirche innerhalb landeskirchlicher Strukturen. Und auch meine Mutter gehörte zu den Frommen im Lande. Sie war geprägt von der Breklumer Mission, die 1876 vom Pastor Christian Jensen gegründet worden war. In ihrem Heimatdorf Vollstedt gab es einen aktiven „Missionsnähkreis“, jedes Jahr räumte ein Bauer seine Scheune für das „Missionsfest“, und meine Großmutter hielt am Sonnntagnachmittag die „Sonntagsschule“, in der sie uns und Kindern aus dem Dorf biblische Geschichten beibrachte.

In dieser Welt bin ich groß geworden. Wir lebten in einer Parallelgesellschaft, gut vernetzt bis nach Hamburg – in einer Zeit, in der die meisten Angeliter knapp hinter die Schlei guckten, durchaus ungewöhnlich. Unser Jugendchor kooperierte mit einem anderen aus Altona, und die „Gemeinschaft“ veranstaltete ihre Jahrestreffen in den Holstenhallen in Neumünster. Viele von ihnen sahen wir auf dem Jahresfest des „Elisabethheims“ wieder, einem Waisenhaus in Havetoft zwischen Flensburg und Schleswig. Und beim Jahresfest der Breklumer Mission kamen Delegierte aus der ganzen Welt ins dörfliche Schleswig-Holstein. Mag die Frömmigkeit auch eher eng gewesen sein, der Blick ging weit über den Tellerrand hinaus.

Auch über den der eigenen Gemeinschaft. Bewusst engagierten sich viele Mitglieder in Kirchenvorständen und leitenden Gremien der Landeskirche – durchaus mit missionarischem Impuls: Nach unserer Vorstellung waren die „Kirchenchristen“ mit dem rechten Evangelium eher unterversorgt und von modernen Theologien unterwandert. Das führte manchmal zu harten Auseinandersetzungen und Abgrenzungen, aber auch zum Austausch und besserem Verständnis füreinander.

Es war nicht immer leicht, in einer solchen Parallelgesellschaft zu leben. Wir waren vielleicht nicht unbedingt Außenseiter, aber doch etwas Besonderes – und fühlten uns auch so. Wenn andere erzählen, wieviel Spaß sie in ihrer Jugend gehabt, auf Feten geknutscht und am Strand  abgehangen haben, dann erzähle ich von der Arbeit in der Ernte und dem Schülergebetskreis.

Andererseits habe ich von der frommen Atmosphäre sehr profitiert. Wir fragten immer nach den wirklich wichtigen Dingen: Gibt es einen Gott, einen Sinn? Was hält unsere Welt zusammen? Wie wollen wir leben? Und Spaß hatten wir durchaus auch.

Und dann ging mein Weg ja weiter. Im Studium, in der Ferne konnte ich dann für mich ganz neue Erfahrungen machen.

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Das Beitragsbild zeigt die Nicolaikirche zu Bredstedt, zu deren Kirchengemeinde Högel – und damit wohl auch Brinkebüll – gehört: Von Goegeo – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3838642
Bild im Text: St. Johanniskirche zu Toestrup © Erik Thiesen

Ein schönes Leben

Es gibt ja viele Weihnachtsfilme. Einige habe ich gesehen, und sie bewegten sich zwischen „ja, kann man sich gönnen“ und „geht gar nicht“. Zwei von ihnen allerdings spielen für mich in der Ausnahmeliga. Neben dem „Kleinen Lord“ ist es „Ist das Leben nicht schön?“ von Frank Capra mit James Stewart in der Hauptrolle. Der Film „erzählt die Geschichte des engagierten Bürgers George Bailey, der in der Weihnachtsnacht wegen eines Missgeschicks seinen Lebensmut verliert und sich von einer Brücke stürzen will – bis er von einem Engel gerettet und ihm gezeigt wird, wie seine Heimatstadt aussehen würde, wenn er nie geboren wäre“ (Wikipedia).Bedford Falls1

Natürlich ist dieser Film hemmungslos kitschig, unglaubwürdig und überzeichnet. Aber er berührt mich immer noch ganz tief, weil nach meinem Empfinden seine Botschaft so wichtig ist. George Bailey möchte eigentlich gerne reich werden und die Welt bereisen. Doch durch eine Reihe von Zufällen und seiner eigenen Mischung aus Naivität und Gutmütigkeit (James Stewart in einer Paraderolle) muss er in seinem Kaff Bedford Falls bleiben – und rettet dadurch die Stadt. Diese wiederum hilft ihm am Ende aus seiner Misere. Und sein Bruder Harry, der genau das erreicht hat, was er gerne wollte, nennt ihn am Ende den „reichsten Mann der Stadt“. Dabei wird der Lebensstil der beiden Brüder nicht gegeneinander ausgespielt. Harry wird seine reiche Verlobte heiraten und bleibt der gefeierte Kriegsheld.

Capra – bzw. Philip Van Doren Stern, der die Buchvorlage geschrieben hat – gibt eine Antwort auf die Frage nach dem, was wirklich wichtig ist im Leben: füreinander da sein und dort, wo man gerade ist, einen guten Job machen. Diese Erkenntnis deckt sich mit den Recherchen des Journalisten Sebastian Junger. Er vertritt „die These, dass für Menschen nichts so wichtig sei wie das Gefühl des Gebrauchtwerdens und des Eingebundenseins – und dass unsere moderne Gesellschaft in dieser Hinsicht völlig versage. Denn sie habe ‚die Kunst perfektioniert, den Menschen das Gefühl der Nutzlosigkeit zu geben'“. (Ulrich Schnabel, Sinn des Lebens, in: Die Zeit 1/2019, S. 35).

Dazu muss man nicht Pastor werden oder Ärztin. Eine befreundete Richterin dehnt die Gesetze so weit, dass sie den Menschen helfen. George Bailey gibt denen Kredit, die anderswo abgeblitzt wären. Ein Freund organisiert für ein afrikanisches Krankenhaus Geräte, die hier verschrottet worden wären. Eine Niendorferin lacht Menschen an, die ihr auf der Straße begegnen, einfach so.

Ulrich Schnabel gibt auch Tipps, wie man den Lebenssinn findet. Es gibt keinen allgemein gültigen Sinn, sagt er. Man muss schon seinen eigenen finden. Dabei kommt es nicht so sehr darauf an, auch das Ziel zu erreichen. Wichtig ist, sich auf den Weg zu machen. Und: Sinn produziert nicht nur Glücksgefühle. Beispiel Kinder; Eltern wissen jetzt, was ich meine. Aber Sinn führt auf Dauer zu größerer Zufriedenheit, besserer Gesundheit und Stressbewältigung. Es lohnt sich also.

Wir können das nur bestätigen. Schon immer, aber besonders in den letzten Jahren haben wir erfahren, wie viel Lebensmut wir aus der Gemeinschaft schöpfen. Und wie gut es tut, füreinander da zu sein. Und so wünschen wir uns und euch, dass wir gemeinsam auf dem Weg bleiben, der uns Sinn gibt und Zufriedenheit, Gesundheit und vor allem das Zutrauen, dass wir die Herausforderungen des kommenden Jahres bewältigen.

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Beitragsbild: Bedford Falls, It’s officially Christmas Eve — „It’s a Wonderful Life“ movie is on TV, von Tom auf Flickr.
Bild im Text: Bedford Falls on Christmas Eve 1946. By Liberty Films – Own work, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=20372871

Heilige heidnische Weihnachten

Eigentlich dürfte Weihnachten gar nicht mehr existieren, denn gefühlt alle Menschen haben etwas dagegen: Die einen finden den Konsum ganz furchtbar, die anderen beklagen sich über zu wenig Geschenke. Die Familien versinken im Stress, die anderen verfallen in Depressionen, und die dritten fliegen in den Süden oder fahren wenigstens nach Dänemark. Die Heiden beschweren sich über den christlichen Überbau und betonen die Tradition des Sonnenwendfestes, die Christen beklagen die heidnische Ausgestaltung.

In der Tat hat die heutige Weihnachtsfeier nicht mehr viel mit den original christlichen Traditionen zu tun. In amerikanischen Weihnachtsfilmen wird zwar sehr viel für den Glauben geworben, aber nicht den an Jesus oder Gott, sondern an Santa Claus. Und selbst hierzulande kann man die Krippenspiele nur als grobe Verfälschungen der biblischen Aussagen bezeichnen (beliebte Quizfragen: Gab es in der Bibel Esel, Ochse, Wirt, eine überfüllte Stadt, die Heiligen drei Könige, den Stern, der den Hirten erschien? Nein, nichts davon!).

All das war mir natürlich von Anfang an bekannt. Und trotzdem habe ich jedes Jahr wieder ein Krippenspiel verantwortet, die rührendsten Geschichten erzählt, vom Zauber der Weihnacht gepredigt und mich gefreut, dass so viele Menschen in der Kirche waren. Und ich stehe dazu.

Auch wenn es Lukas 2 in fast jedem Gottesdienst im Wortlaut gab, selbst in den Familiengottesdiensten – ich verstehe meine Aufgabe als Pastor nicht so, dass ich die Bibel vorlesen oder auslegen soll. Ich möchte die Botschaft des Evangeliums verkündigen, das ist etwas anderes. Denn diese Botschaft muss heute anders lauten als damals, weil die Umstände und Verhältnisse ganz andere sind. Deshalb darf ich an Weihnachten zum Beispiel von Flüchtlingen sprechen, obwohl in der ganzen Weihnachtsgeschichte kein einziger vorkommt.

Ich habe als Pastor meine Aufgabe weniger darin gesehen, Seelen zu retten. Das erschien mir immer eine Nummer zu groß, und deshalb habe ich es Gott überlassen. Aber ich habe mich immer gefreut, wenn Menschen, sinngemäß, gesagt haben: Meine Seele ist größer geworden, freier. Jetzt sehe ich etwas in der Welt und in meinem Leben, was ich vorher daraus nicht habe entnehmen können: Einen Zauber, eine Bedeutung, eine Kraft, eine Richtung, ein Ziel. Einen Gott.

Wenn ich es richtig einschätze, sehen die meisten Menschen in ihrem Leben keinen wirklichen Sinn. Und wenn, dann den, den sie sich selbst geben. Und irgendwie haben sie auch recht. Es gibt keinen Lebenssinn an und für sich und für alle Menschen gleich. Man muss ihn für sich schon irgendwie herausfinden. Wenn man partout keinen sieht, ist das aber sehr schwer

Mein Glaube besteht darin, dass es für jeden Menschen diesen Sinn gibt. Dass jedes Leben zauberhaft ist und bedeutungsvoll. Dass Gott schon unter uns und in uns wohnt. Und wir ihn nur entdecken müssen. Und Weihnachten ist ein wunderbarer Anlass, gemeinsam auf diese Entdeckungsreise zu gehen.

Und auch das ist die Botschaft des Kindes in der Krippe: Hier fängt etwas an, etwas Bedeutungsvolles, und es ist noch nicht abzusehen, wohin es führen wird.

Deshalb werde ich den Menschen in dieser Zeit weiterhin „Gesegnete Weihnachten“ oder zumindest „Fröhliche Weihnachten“ wünschen, und nicht „Happy Holidays“ oder „Season’s Greetings“ oder irgendwelche deutschen Ableger. Weil darin nun wirklich kein Zauber und keine Bedeutung mehr zu spüren sind.

Deshalb sind die Suchbewegungen nach dem Sinn von Weihnachten, wie sie in den Medien und Gesprächen jedes Jahr um diese Zeit geführt werden, oft so viel spannender als viele Predigten, die die Antwort schon gefunden haben, ehe die Frage gestellt wurde. Und mir deshalb die Frage, die ich zu stellen habe, gleich mit vorgeben.

Ja, Weihnachten ist furchtbar: zu stressig, zu viel Konsum, zu heidnisch, zu kitschig, zu … ach, es gibt eine ganze Menge, was man an diesem Fest aussetzen kann. Und Weihnachten ist wunderbar. Soviel Zauber, soviel Gemeinsamkeit, soviel Mühe um Menschen, die man liebt, aber auch die, denen man sonst im Jahr aus dem Weg geht. Soviel Zukunft und Hoffnung und Schönheit. Ostern mag vielleicht, christlich gesehen, bedeutender sein. Weihnachten aber ist schöner, zweifellos.

Alles wirkliche Leben ist Begegnung

Predigt in der Heiligen Nacht

Ich war mir nicht sicher, ob ich an Weihnachten wirklich auf der Kanzel würde stehen können. Aber es wurde wahr. Gemeinsam mit Pastor Hendrik Hoever, dem Gospelchor ReJOYce unter der Leitung von Christoph Schlechter und Gudrun Fliegner am Klavier gestalteten wir die Christmette in der Kirche am Markt. Und hier ist die Predigt:

Liebe Gemeinde!

Zu den Wünschen, die wir in den letzten Wochen ausgetauscht haben, gehörte gerne auch einmal: „Ich wünsche dir besinnliche Weihnachten.“ Nun ist der Heiligabend fast vorbei. Und ich fürchte, dass er in den meisten Häusern nicht das war, was wir unter besinnlich verstehen. Vielleicht finden wir ja in einem Gottesdienst Besinnlichkeit. Vielleicht wurde uns besinnlich zumute, wenn wir in der Familie die Weihnachtsgeschichte gelesen oder ein nachdenkliches Gedicht gehört haben. Vielleicht haben wir den Heiligabend aber auch schon aufgegeben, was Besinnlichkeit angeht, und wir hoffen auf die kommenden Tage, auf Besinnung nach dem ganzen Trubel.

Mit Besinnung verbinden wir ja, dass wir zur Ruhe kommen. Dass wir uns besinnen auf das, was Sinn macht und was wirklich wichtig ist – was uns wirklich wichtig ist. Haben wir aber nicht genau das heute Abend gemacht oder zumindest versucht?

Gut, zur Ruhe sind wir bisher vielleicht eher nicht gekommen. Aber dieser ganze Stress: Geschenke einkaufen, Wohnung schmücken, Essen vorbereiten, die ganzen Weihnachtsfeiern – das machen wir doch nicht so einfach zum Spaß. Oder zumindest nicht nur. Sondern weil es uns etwas wert ist. Weil wir es uns wert sind. Weil es für uns Sinn macht.

Zum Beispiel die Geschenke. Seitdem ich denken kann, wird über den Konsum und den Kommerz von Weihnachten geschimpft. Ich finde, das ist ungerecht diesem Fest gegenüber. Wir sind nicht mehr konsum- und kommerzorientiert als auch sonst im Jahr. Wenn wir etwas brauchen oder einfach nur haben wollen, dann kaufen wir es gleich. An Weihnachten aber geht es uns darum, anderen eine Freude zu machen, ihnen etwas Besonderes zu schenken. Nicht immer gelingt es uns, und nicht immer machen wir uns genug Gedanken darüber. Aber wenn es uns einmal glückt, dann war es die ganze Mühe wert.

Oder die Menschen, mit denen wir zusammen feiern. Am liebsten mit der Familie. Weil diese Menschen uns auch meistens am nächsten stehen. Das geht auch ganz gut, besonders wenn die Kinder klein sind. Das wird allerdings oft komplizierter, wenn die Kinder größer werden, eigene Interessen haben, eine eigene Meinung, eine eigene Vorstellung davon, wie ein schöner Weihnachtsabend aussieht. Soll man auf die traditionelle Ente verzichten, nur weil eine Tochter Veganerin ist? Oder wie ist es mit dem gemeinsamen Kirchgang? Wie teuer dürfen die Geschenke sein – und sind sie nicht ohnehin der Ausdruck schlechten Gewissens, dass man sich unterm Jahr nicht umeinander gekümmert hat?

Solche Konflikte können die besinnliche Zeit sehr schnell und effektiv schreddern. Deshalb greifen nicht wenige zu pragmatischen Lösungen: Man trifft sich einfach nicht mehr. Die einen fahren nach Fuerteventura, die anderen feiern bei Freunden. Und Onkel Peter mit seinen skurrilen politischen Ansichten wird ohnehin schon seit Jahren nicht mehr eingeladen.

Es hat ja auch etwas für sich, Weihnachten mal unter Palmen zu feiern. Und ist es nicht irgendwie logisch, dass wir gerade zum Fest der Liebe unangenehmen Diskussionen und gegenteiligen Meinungen aus dem Weg gehen und lieber unter uns bleiben? Ich kann das gut verstehen. In den letzten Monaten habe ich ein paar Diskussionen über Religion oder Politik mit Menschen geführt, die so gar nicht meiner Meinung waren. Wir haben uns nicht gerade gestritten, kamen aber inhaltlich auch nicht zueinander. Und das, obwohl ich die besten Argumente hatte. Fand ich. Aber das fanden die anderen wohl auch.

Und dann passierte es, dass wir manchmal doch noch zueinander kamen. Nicht inhaltlich. Aber auf einer anderen, der persönlichen Ebene. Das war im direkten Gespräch meist leichter als im Internet. Weil wir uns dort eher zeigen konnten: Mir liegt etwas an dir. Du hast zwar völlig skurrile Ansichten, aber du bist nett. Ich will dir nichts Böses und merke, dass du es auch mit mir gut meinst. Wir sind uns begegnet.

„Alles wirkliche Leben ist Begegnung“, meint der Philosoph Martin Buber. Ich glaube, hier liegt auch das Geheimnis und das Ziel von Weihnachten: dass wir uns begegnen. Dass wir uns hinter den Geschenken und Traditionen als Menschen wahrnehmen. Ich glaube, dass hier auch der Schlüssel für den Frieden in unserer Gesellschaft ist: dass wir uns trotz unterschiedlicher, ja manchmal gegensätzlicher Ansichten persönlich gewogen sind.

Nur so kann ich mir auch den ewigen Frieden vorstellen, von dem der Prophet Jesaja spricht – die Worte der Bibel haben wir vorhin gehört, jetzt hören wir sie von ReJoyce.

Prince of Peace (Jesaja 9, 1 und 5-6), hier als Podcast:
ReJoyce:

Ich versuche eine Übersetzung aus dem Englischen: Die Menschen, die in der Finsternis wandelten, haben ein großes Licht gesehen: Licht ist über ihnen angebrochen, den Bewohnern in einem Land, das dunkel ist wie der Tod. Weil ein Kind für uns geboren ist, ein Sohn ist uns gegeben. Es trägt das Zeichen der Herrschaft auf seiner Schulter; Er soll genannt werden wunderbarer Ratgeber, im Kampf Gott gleich, Vater für alle Zeit, Prinz des Friedens. Groß soll seine Herrschaft sein, und grenzenlos der Friede, der Davids Thron und seinem Königtum gewährt wird, mit Gerechtigkeit von nun an für immer. Der Herr der Heerscharen wird dies mit Leidenschaft tun.

Es ist möglich, dass Jesaja selbst durchaus in militärischen Kategorien dachte: dass da jemand kommt, der stärker ist als die furchtbaren Assyrer und die Ägypter; ein zukünftiger König, der sie alle mit der Kraft Gottes besiegen wird. Bis heute brauchen wir ja Polizei und Militär, um Konflikte in den Griff zu bekommen.

Ich glaube allerdings nicht, dass dies Gottes Weg ist. Denn wir haben es bis heute dadurch nicht geschafft, dauerhaft Friede und Gerechtigkeit zu schaffen. Gewalt gebiert nur neue Gewalt, und wirkliche Gerechtigkeit entsteht nur dort, wo der Mensch in seiner Einzigartigkeit gesehen wird. Egal ob menschliche oder Gottes Herrschaft – immer wenn sie mit militärischer Gewalt durchgesetzt werden sollte, war das Ergebnis Leid, Tod und Ungerechtigkeit. Ich glaube, dass Gottes Weg viel persönlicher ist.

Der „Prinz des Friedens“ ist ein kleines Kind. Jesaja sagt von ihm, dass er bereits geboren ist. Und das heißt: Der Friede ist unter uns, aber er muss noch wachsen. Und er wächst, mit jeder Begegnung.

Christen haben den „Prince of Peace“ immer schon mit Jesus identifiziert. Und genauso wie der Prinz muss das Kind in der Krippe noch wachsen. Und als Jesus erwachsen war, hat er kein System von Richtigkeiten aufgestellt und keine Dogmatik entwickelt. Er ist den Menschen begegnet, und diese Begegnung hat sie heil gemacht. Er hat die Menschen ermutigt, an einen Gott zu glauben, der wie ein Vater ist, und dem Leben zu vertrauen. Damit wir im Frieden mit uns und mit den anderen Menschen leben können.

Nun ist diese Welt noch nicht in Ordnung. Selbst in unseren Familien gibt es so manche Bruchstellen, bei den einen mehr, den anderen weniger. Und einige von ihnen sind auch heute wieder aufgebrochen. Jesaja aber macht uns Mut: Der Grund für den Frieden ist schon gelegt. Und Weihnachten erinnert uns auch in diesem Jahr wieder daran, dass das Licht schon in die Welt gekommen ist. Wenn Sie eine Krippe zuhause stehen haben, dann können Sie erkennen, wie das aussehen kann: Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft versammeln sich unter einem Dach und kommen gut miteinander aus.

Das wäre eine Weihnachtsbotschaft, die wir gut ins neue Jahr 2018 mitnehmen könnten, jeder und jede Einzelne von uns.

Amen.