Keine weißen Schafe

Fahne schwarzes SchafSeit vielen Jahren wird eine besondere Kirchenfahne an unserem Pfingstmontagsgottesdienst aufgehängt. Sie ist ein Geschenk der katholischen Gemeinde St. Ansgar an die lutherische Kirche in Niendorf. Die Farben stehen für die ökumenische Gemeinschaft (gelb-weiß sind die Farben des Vatikans, violett ist die der evangelischen Kirche). Und das schwarze Schaf? Dazu meinte der Pfarrer Rohtert bei der Übergabe: „Ich möchte Ihnen ein Geheimnis erzählen. Es gibt gar keine weißen Schafe.“

Alfons Rohtert war bekannt dafür, dass er eine besondere Liebe zu den schwarzen Schafen hatte – und das hieß für ihn: zu allen Menschen. Als ich ihn kennenlernte, war er schon fast 30 Jahre Pfarrer in Niendorf und bei Katholiken und Protestanten gleichermaßen bekannt und beliebt. Die Konfession spielte für ihn eine untergeordnete Rolle.

Orgelpfeifen mit Rohtert kl

Pastoren Trunz und Thiesen, Organist H.-J. Wulf und Pfarrer Alfons Rohtert

Ich erinnere mich: Im Advent 1994 machte das Niendorfer Wochenblatt in der Kirche am Markt ein Foto mit den lutherischen, freikirchlichen und katholischen Geistlichen aus Schnelsen und Niendorf. Wir bauten damals gerade eine neue Orgel, und die alten Pfeifen standen zum Verkauf. Wir baten um ein Werbefoto. Wie selbstverständlich nahm auch Alfons Rohtert eine kleine Pfeife und meinte: „Ich bin Niendorfer Pastor. Da kann ich auch für diese Orgelpfeifen Werbung machen.“

„Pastor“ ist bei den Katholiken eigentlich ein Pfarrer, der noch keine Gemeinde hat. Alfons Rohtert kümmerte sich nicht um solche Hierarchiefragen. „Hier in Norddeutschland heißen die Seelsorger Pastoren“, meinte er. Und so wurde er auch für viele Evangelische „unser Pastor“. Wenn ich bei einem Feuerwehrfest auftauchte, saß er schon da. Der Wehrführer erzählte von gemeinsamen Gottesdiensten, und es war deutlich: Alfons Rohtert gehörte dazu. Er war auch Dorfpastor von Niendorf.

Aber natürlich war er in erster Linie Pfarrer seiner Gemeinde St. Ansgar, deren Verwaltung er sehr ernst nahm. Das bedeutete die Teilnahme an vielen Gremien und Gemeindekreisen. Er selbst aber kommentierte sein Engagement mit einem typischen Understatement: „Ich gehe nur dahin“, meinte er, „damit die Leute in meiner Abwesenheit nicht über mich reden.“

In St. Ansgar arbeitete damals auch die Gemeindereferentin Gabriele Scheel.
Die beiden bildeten geradezu ein Dreamteam. Gemeinsam veranstalteten sie die Bibelspiele im Kloster Nütschau – mit einer beeindruckenden Zahl von Teilnehmenden. Die jährlichen Kirchweihfeste waren Legende, und die Partnerschaft mit Gemeinden in Indien und Island lag ihnen am Herzen.

Ihr größtes Projekt aber war die Alimaus. Anfang der 90er Jahre hatte Gabriele Scheel damit begonnen, Brötchen an die Obdachlosen am Hauptbahnhof zu verteilen. Sie gründete den „Hilfsverein St. Ansgar e.V.“, kaufte einen Zirkuswagen und setzte dort ihre Arbeit fort. Damals kamen sie und Alfons Rohtert auch in unseren Kirchenvorstand, um für das Projekt zu werben. Wir sagten eine maßvolle finanzielle Hilfe zu, sahen uns aber nicht in der Lage, uns darüber hinaus zu engagieren.

Die katholische Gemeinde aber konnte. Heute ist Alimaus eine der wichtigsten Hilfsorganisationen in der Obdachlosenhilfe in Hamburg. Zu ihr gehören neben der Essensausgabe eine Beratungsstelle, die Kleiderkammer „Don Alfonso“ und medizinische Nothilfe. Und ihr jüngstes Projekt ist der „Kältebus“, der im Winter bei Bedarf obdachlose Menschen in eine Unterkunft bringt.

RohtertAls Pastor Alfons Rohtert im Jahr 2001 starb, kam der befreundete Circus Jodokus und gab ihm zu Ehren Sondervorstellungen auf dem Kinderspielplatz hinter unserer Kirche.

Zu seinem Requiem bat die Gemeinde St. Ansgar uns evangelische Geistliche, im Talar zu erscheinen. Zur Kommunion lud der Priester alle ein, die sich eingeladen fühlten, unabhängig von der Konfession. Viele Protestanten gingen mit nach vorn. Ich schaute Pastor Trunz an, und wir entschieden uns dagegen. Zwei Pastoren im Talar bei einer katholischen Kommunion, damit hätten wir womöglich zu stark provoziert.  Ohne Talar hätten wir wohl teilgenommen.

In diesem Gottesdienst wurde mir aber auch deutlich, dass Alfons Rohtert keinesfalls nur aus Zufall katholisch war, wie ich jahrelang meinte. Er war tief in seiner Glaubenstradition verwurzelt und gewann seine Kraft aus der katholischen Spiritualität und seiner Verbindung zu den Benediktinern im Kloster Nütschau.rohtert-grabstein.jpg

Und dann bekam die Gemeinde doch noch Ärger mit der Hierarchie. Sie hatte in der Folgezeit eine längere Vakanzzeit zu überwinden. Ganz im ökumenischen Sinn lud sie Pastor Trunz ein, einen Wortgottesdienst am Sonntagmorgen zu übernehmen. Doch diese Zeit ist der Heiligen Messe vorbehalten, und das Erzbistum war mit einem Protestanten auf der Kanzel nicht einverstanden. Die Katholiken, die ich danach fragte, zuckten allerdings nur mit den Schultern und erinnerten an die Haltung ihres verstorbenen Pfarrers: Der Papst ist in Rom, und Rom ist weit.

Der Nachfolger versuchte dann das katholisch-konfessionelle Element deutlich zu stärken. Er wechselte dann ins Erzbistum und ist heute Generalvikar. An der Basis aber pflegen wir bis heute ein extrem entspanntes Verhältnis zwischen Protestanten und Katholiken.

Alfons Rohtert ist auf dem Niendorfer Pastorenfriedhof begraben. Auf seinem Stein steht ein Spruch von Vinzenz von Paul: „Glücklich, die den kurzen Augenblick des Lebens nützen, um Erbarmen zu üben.“

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Hat er sich diesen Spruch selbst ausgesucht? Hat es die Gemeinde getan oder seine Familie? Gleichviel – so habe ich ihn kennengelernt.

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Beitragsbild: Drei schwarze Ouessantschafe, von Anton Hornbläser – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=34010783
Bild 1, 4 und 5: © Erik Thiesen
Bild 2 Köllmann, im Archiv Forum Kollau, mit frdl. Genehmigung © FORUM KOLLAU e.V.
Bild 3 mit frdl. Genehmigung der Alimaus © Hilfsverein St. Ansgar e.V. – Alimaus

Pfingsten in Jerusalem

Exerzitien 35. Teil, Bingen 2018, die „vierte Woche“.

Und wieder war Jerusalem voller Menschen. Die Juden feierten Schawuot, das Wochenfest. Wir hatten uns in einem Raum versammelt. Die Ängstlichen unter uns hatten sogar darauf bestanden, die Türen abzuschließen. Vielleicht erinnerten sich ja einige Juden an die Geschichte 50 Tage zuvor – damals hatten sie darauf bestanden, dass Jesus gekreuzigt werden sollte.

Zu unserer kleinen Gesellschaft waren nun auch Mitglieder der Familie Jesu gestoßen. Das war sehr bemerkenswert, denn ich erinnere mich deutlich daran, dass das Verhältnis zum Wanderprediger sehr gespannt gewesen war. Aber es hieß, dass Jakobus, einer seiner Brüder, selbst eine Vision gehabt habe. Ich beobachtete ihn. Es war deutlich, dass er sich zu Höherem berufen fühlte. Vom Vater allerdings keine Spur. Ich wollte schon nach Josef fragen, da war es, als ob jemand ein Fenster geöffnet hätte. Ein starker Wind zog durch den Raum, einige standen auf, hoben die Hände. Auf ihren Gesichtern erschien ein merkwürdiger Glanz. Irgendjemand sagte: „Das ist der Heilige Geist!“

Und plötzlich war kein Halten mehr. Die Türen wurden geöffnet, etliche Männer und Frauen gingen nach draußen und fingen an, zu den Menschen zu reden. Ich sah, wie viele genervt weitergingen, andere blieben stehen. Und obwohl deutlich war, dass etliche aus anderen Ländern angereist waren, schienen sie sich gut mit den Jesus-Leuten zu verstehen.

Und dann fing Petrus an, laut zu reden. Ausgerechnet Petrus. Und was er sagte, war nicht gerade leicht zu verstehen. Aber man spürte seine Begeisterung, und genau davon predigte er: „Was ihr hier seht, ist die Erfüllung dessen, was der Prophet Joel gesagt hat: Der Geist wird ausgegossen über die Menschen, und sie werden Visionen haben, und es werden Wunder geschehen, und das alles kommt von Jesus, der gekreuzigt wurde, aber wieder auferweckt worden ist. Der Tod ist besiegt, wir werden alle leben!“

Und er brachte noch mehr Zitate aus den Heiligen Schriften, offenbar alles, was ihm gerade einfiel. Das war mehr assoziativ als logisch, aber so kannte ich Petrus: Er war kein großer Denker, aber immer ganz bei der Sache. Nicht so sehr Kopf, dafür umso mehr Bauch.

Ganz anders als übrigens der andere große Theologe der Jesusbewegung, den ich auf meiner Rückreise nach Rom kennenlernen sollte. Paulus war ein scharfer Denker, nüchtern und kopfgesteuert. Und ein schwieriger Charakter. Beide aber hatten maßgeblichen Anteil daran, dass sich immer mehr Menschen von der Jesus-Botschaft begeistern ließen. Die Bewegung wurde so stark, dass Kaiser Nero sie einige Jahrzehnte später zu Sündenböcken für einen verheerenden Brand in Rom machen konnte.

Ich erlebte es selbst mit. Knapp 20 Jahre blieb ich noch in Palästina, dann kehrte ich nach Rom zurück. Nicht ohne ein paar Abstecher zu machen. Vor allem interessierte mich Athen, wo ich den Parthenon bewunderte und über den Areopag schlenderte. Dort begegnete ich auch Paulus persönlich – ein Treffen, das mich sehr beeindruckt hat und über das ich früher schon einmal berichtet habe.

In Rom hatte sich mittlerweile eine ansehnliche Gemeinde gebildet, die ich öfter aufsuchte. Allerdings genoss ich auch die Freuden der Hauptstadt – auf die Thermen hatte ich lange verzichten müssen. Und ich pflegte und knüpfte alte und neue Verbindungen, die mir während der heiklen Zeit unter Nero sehr nützlich wurden. Paulus, der sich zu dieser Zeit auch gerade in Rom aufhielt, hatte nicht soviel Glück. Er wurde verhaftet und hingerichtet.

Kurz nach dem großen Brand kam auch Petrus in die Hauptstadt. Er hatte zugelegt, an Weisheit wie an Körperumfang. Und er war alles andere als verkniffen. Deshalb freute ich mich, als er mich besuchen kam. Ich holte einen starken Schnaps aus dem Keller, den ein Freund mir aus dem Norden Britanniens mitgebracht hatte und der dort „Wasser des Lebens“ genannt wurde. Und wir hatten einen wirklich netten Abend. Petrus schwärmte von den alten Zeiten als Fischer am Galiläischen Meer, so dass ich fast Lust bekam, wieder dorthin zu reisen.

Kurz darauf wurde Petrus verhaftet und zum Tod verurteilt. Im Prozess blieb er gerade und klar – ganz anders als damals bei der Kreuzigung in Jerusalem. Er wurde getötet wie sein Meister, aber nicht gebrochen.

Und die Gemeinde in Rom wuchs trotz allem weiter. Ich fand dort viele Freunde und Freundinnen und genoss als einer, der „den Meister gesehen“ hatte, auch einiges Ansehen. Allerdings musste ich auch einige Erwartungen enttäuschen. Denn ich wusste auf viele Fragen immer noch keine Antwort. Doch nach wie vor bin ich davon überzeugt, dass Jesus eine besondere Nähe zu Gott hatte – und dass ich an dieser Nähe teilhabe.

Damit endet meine Geschichte – bzw. die Geschichte meines „alter ego“, des namenlosen Römers – mit Jesus und der ersten Gemeinde, die unter den Olivenbäumen bei Caesarea Philippi begann. Wir beide, der Römer und ich, haben in dieser Zeit die bekannten Geschichten neu erlebt und haben einige Überraschungen erlebt. Vor allem aber war es spannend, diesen Weg im Geist mitzugehen. Ich möchte noch einmal betonen: Das ist meine ganz eigene Sicht der Dinge in der Mitte des Jahres 2018. Zu anderen Zeiten hätte ich anderes „erlebt“. Und ich bin überzeugt: Wenn ich irgendwann wieder in diese Zeit und an diesen Ort reise, wird es wieder anders werden. Und warum muss ich eigentlich allein reisen? Vieles ist denkbar, wenn man den Geist laufen lässt…

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Beitragsbild: Glasbild-Trennwand zu einem religiösen Thema im Seniorenheim Martin Luther Haus Wormsvon Barbara Heinisch – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=48367637

Charisma und Gnadengaben

Eine Predigt zum ökumenischen Open-Air-Gottesdienst Pfingstmontag 16. Mai 2016, gemeinsam gehalten mit Pastor Eberhard Müller (Freie evangelische Gemeinde am Bondenwald)
Text: 1. Kor. 12, 4-11

20140609_114126.jpgDie Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen.
Erik Thiesen (ET): Liebe Gemeinde, Willy Brandt hatte es.
Eberhard Müller (EM): Mahatma Gandhi mit Sicherheit.
ET: Anuthida hat es auch.
EM: Wer ist Anuthida?
ET: Anuthida machte mal bei „Germanys next Topmodel“ mit. Der Juror Thomas Hayo hatte es über sie gesagt.
EM: Ach so. Ja, und Hitler hatte es auch, leider.
ET: Dafür auch Jesus. Unbedingt.
EM: Und jetzt werden Sie sich fragen, was Brandt und Gandhi, Anuthida, Hitler und Jesus gemeinsam hatten?
ET: Sie hatten Charisma. Weiterlesen

Christentum to go – Heiliger Geist

3. Teil der Reihe. Die ersten beiden über Gott und Jesus findest du hier und hier.

Der Heilige Geist ist eine schillernde Persönlichkeit. Jesus sagte ja schon, dass er weht, wo er will. Und er ist unsichtbar. Viele Menschen wissen ziemlich wenig mit ihm anzufangen.

Pfingsten ist sein Fest. Damals, so heißt es in der Bibel, ist er zum ersten Mal auf Christinnen und Christen übergesprungen. Ein Brausen sei zu hören, Feuerzungen über den Köpfen zu sehen gewesen. Und die Predigt wäre von allen Menschen auch in anderen Sprachen verstanden worden. Eine fremde Welt. Weiterlesen

Verstehst du mich?

Heute Vormittag waren wir beim Open-Air-Gottesdienst. Es war wieder mal eine tolle Stimmung. Mehrere hundert Menschen aus den Schnelsener und Niendorfer Gemeinden, Katholiken, Lutheraner und Freikirchler, feierten bei schönstem Wetter zum Thema „Offene Türen“. Keine Frage, die Türen waren offen. Mit der Ökumene haben wir traditionell keine nennenswerten Probleme. Wir verstehen uns prima.

Pfingsten1Und so ist das doch einmal gemeint gewesen, damals, als es angefangen hat in Jerusalem. Weiterlesen