Das wirkliche Leben

Eines der geheimnisvollsten und wichtigsten Worte, die mir in der letzten Zeit begegnet sind, hat Martin Buber gesagt: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“ Wie wahr, habe ich oft gedacht. Wenn wir unseren wöchentlichen Lichtblick zu wählen hatten, dann waren es fast immer Begegnungen, die uns eingefallen sind. Oft haben wir dann einen anderen Lichtblick gewählt, weil es sonst ziemlich eintönig geworden wäre; nur die Namen hätten manchmal gewechselt.

Begegnungen und Gespräche, die Nähe zu anderen Menschen, ihre Teilnahme, ihre Gebete, einfach ihr Da-sein geben uns Leben und Freude und Energie – das, was die Mediziner etwas spröde „Lebensqualität“ nennen. Man kann auch sagen: Sie sind unser Lebenselixier. Dazu zählen natürlich vor allem die persönlichen Begegnungen, aber auch die über den Blog, über Mails, übers Telefon. Oder diejenigen „über Bande“ – wenn uns Menschen erzählen, dass andere Menschen innerlich unseren Weg mitgehen.

„Begegnung“ aber ist auch das Zauberwort in meiner Glaubenswelt geworden. Dabei haben mir die Exerzitien wichtige Anstöße gegeben. So fragte ich Pfr. Mückstein, warum Gott bei meiner Krankheit nicht besser aufgepasst habe. Ein andermal erzählte ich ihm, dass ich den Paulustext Römer 1,18-31 ablehne. Ich hoffte dann auf eine anregende theologische Diskussion – die mir der Spiritual jedesmal verweigerte. Stattdessen gab er mir den Ratschlag: Sprechen sie mit ihm – mit Gott, mit Paulus. Gehen Sie in den Meditationsraum und schweigen Sie eine Stunde mit Gott. Und als ich ihn fragte, wer mir dort antworten sollte, meinte er: Trauen Sie Gott doch zu, dass er mit Ihnen redet.

Ich habe es getan. Und es war tatsächlich wie ein Gespräch. Ob es mit Gott oder mit mir selbst war – wer will das objektiv wirklich beurteilen? Es hat mich zumindest weitergebracht als eine theologische Diskussion. Und näher zu mir selbst. „Wenn an Gott glauben heißt, über ihn in der dritten Person zu reden, glaube ich nicht an ihn. Wenn es heißt, mit ihm zu reden, glaube ich.“ (Martin Buber) Und auch die Gespräche mit Paulus und Jesus haben mir noch einmal neue Türen geöffnet. Trotzdem bin ich nach wie vor ein Fan von differenziertem theologischen Denken.

Und noch in einem dritten Bereich ist mir „Begegnung“ wichtig geworden: in der Politik. Hans-Dietrich Genscher hat einmal gesagt: „Solange man miteinander redet, schießt man nicht aufeinander.“ Das gilt für mich nicht nur für die internationale Politik, sondern auch für das Miteinander in unserem Land. Ich trete dafür ein, mehr mit Moslems zu reden als über sie, mit der AfD, mit dem nervigen Nachbarn. Ronja von Rönne hat dazu in einer schönen Kolumne geschrieben: „Es geht auch um den Entschluss, nicht erfrieren zu wollen in einer erkalteten Gesellschaft, sondern stattdessen ein Nachbarschaftsfest zu organisieren. Was natürlich viel schwieriger ist, als ein Deckenburrito zu sein [= sich in eine Decke einzumümmeln wie in einen Burrito]: Was, wenn keiner kommt? Oder noch schlimmer, was wenn jemand kommt?“

Was aber ist, wenn die Nachbarn nicht wollen, wenn sich die AfD in ihren Hassreden gefällt, und die moslemische Gemeinde lieber in ihrer Opferrolle verharrt und sich gar nicht integrieren will? Ralf hat mir bei unserem letzten Besuch das Buch von Tuba Sarica gezeigt, in dem sie die Scheinheiligkeit der im Grunde integrationsunwilligen Deutschtürken schildert. Die Probleme sind immens, ob bei Moslems oder AfD. Übrigens – kann jemand mal anfangen, Horst Seehofer zu integrieren?

Manchmal ist es auch nötig, Abstand zu halten, wenn es geht. Nicht mit allen Menschen kommt man klar. Und auch in der Gesellschaft ist die Haltung eines „leben und leben lassen“ manchmal hilfreicher als sich mit allem und jedem auseinander zu setzen.

Trotzdem bleibe ich dabei: Soviel und solange miteinander reden wie möglich. Mein Beispiel ist unsere türkische Gemeinde, die ich mit den Konfis viele Jahre lang besucht habe. Sie pflegt intensiv eine türkische und muslimische Identität. Und doch gehörten ihre Beiträge zu meinem Abschied aus der Gemeinde zu den berührendsten. Ich glaube auch, dass ich mehr erreiche, wenn ich sie als Freund kritisiere und nicht als Gegner.

Begegnung ist für mich zwar kein Allheilmittel, aber ein Schlüsselwort geworden, im persönlichen wie im religiösen und politischen Bereich.

 

 

Unterwerfung

Der Roman hat mich fasziniert, die schauspielerische Umsetzung durch Edgar Selge war genial, und den Film habe ich genossen: Michel Houellebecqs „Unterwerfung“ hat mich immer wieder angeregt, über unsere Gesellschaft nachzudenken.

Houellebecq beschreibt, wie der Vertreter einer islamischen Partei in Frankreich die Präsidentschaftswahlen gewinnt und unverzüglich damit beginnt, die Gesellschaft zu islamisieren. Und das beschreibt er durchaus glaubwürdig: So könnte es wirklich kommen. Und wenn nicht 2022, wie im Roman, dann eben ein paar Jahre später. Genauer: so könnte es in Frankreich kommen.

Denn für Deutschland kann ich mir ein solches Szenario noch nicht recht vorstellen. Keine einzelne Person hat hier eine solche Macht wie in Frankreich der Präsident. Unser Parteiensystem begünstigt Kompromisse und Koalitionen. Genau dieser Zustand wird ja auch von vielen Menschen beklagt: Die politischen Entscheidungen wären nicht richtig rechts, nicht richtig links und manchmal reichlich undurchsichtig.

Wichtiger noch aber finde ich einen anderen Unterschied zwischen Deutschland und Frankreich: Jenseits des Rheins ist die Gesellschaft laizistisch. Das heißt: Eine konsequente Trennung von Kirche und Staat. Anders gesagt: Religion im Allgemeinen und die (katholische) Kirche im Besonderen haben sich aus der Öffentlichkeit herauszuhalten.

Deutschland hat ein anderes Konzept. Hier hält sich der Staat aus weltanschaulichen Fragen heraus und bemüht sich, Religionen und andere entsprechende Verbände als gesellschaftliche Akteure einzubinden. „Hinkende Trennung“ von Kirche und Staat heißt das dann, oder „Subsidiaritätsprinzip“.

Wenn wir dieses Prinzip durchhalten, dann kann der Staat gar nicht islamisiert werden. Dann muss er „nur“ dafür sorgen, dass alle gesellschaftlichen Akteure gemäß ihrer Bedeutung vorkommen und die Gesellschaft mitgestalten können. Keine Frage: Das ist ungeheuer kompliziert und sehr aufwändig. Aber ich finde, es lohnt sich unbedingt.

Es bedeutet allerdings auch, dass die christlichen Kirchen Privilegien abgeben müssen, da ihre Bedeutung in der Gesellschaft objektiv schwindet. Und dass der Islam stärker vorkommen muss, da immer mehr Moslems zu Deutschland gehören. Dass aber auch alle Nichtreligiösen ihren angemessenen Platz bekommen. Und die anderen auch. Und ehrlich gesagt: Ich habe keine Ahnung, wie es dann am Ende aussehen wird. Oder genauer: Wir werden mit diesem Prozess nie an ein Ende kommen.

Wie es aber bestimmt nicht geht:
– Wenn wir erklären, der Islam gehöre nicht zu Deutschland.
– Wenn wir Kreuze in öffentlichen Gebäuden aufhängen wollen.
– Wenn wir die Religion vollständig aus der Öffentlichkeit verbannen wollen.
– Wenn wir einzelne Gruppen vom gesellschaftlichen Diskurs ausschließen oder behindern, daran teilzunehmen.

Ich glaube, das geht nur, wenn wir reden. Miteinander, nicht übereinander. Ich weiß, das ist anstrengend. Besonders das Reden mit den Anstrengenden, mit denen, die so gar nicht unserer Meinung sind. Aber es lohnt sich.

So verhindern wir eine islamische Gesellschaft, wie Houellebecq sie beschreibt. Aber auch eine christliche, wie sie möglicherweise Söder vorschwebt. Oder eine sozialistische, wie wir sie aus der DDR kannten. Oder eine laizistische, wie sie in Frankreich praktiziert wird.

Und genau so möchte ich leben.

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Beitragsbild: Sultan-Achmed-Moschee (Istanbul). Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=395994

WM-Aus: Söder hat Schuld

digWährend der Exerzitien hatten wir einen eigenen Blick auf die WM – zeitversetzt und als Standbild bzw. als Nachricht aus der Zeitung. Und während die Nation noch nach den Verantwortlichen für das Debakel suchte, stand für mich sofort fest: Söder hat Schuld. Nicht, dass er nun für alles Schlechte in der Welt verantwortlich wäre, obwohl er sich wirklich alle Mühe gibt. Aber dafür schon.

Angefangen hat es aber nicht mit ihm, sondern mit Gauland, der Boateng nicht als Nachbarn haben wollte. Und seinen Höhepunkt fand es mit dem Shitstorm, den Özil und Gündogan bei Erdogan ausgelöst haben. Und dazwischen war die klare Stellungnahme der CSU, dass der Islam, in welcher Form auch immer, nicht zu Deutschland gehöre. Damit war zumindest Özil, der seinen Glauben bewusst praktiziert, schon einmal raus. Von Gündogan weiß ich das nicht so genau.

Wie ich überhaupt von den beiden nichts weiß – warum sind sie zu Erdogan mit ihrem Trikot, stehen sie immer noch dazu, solche Fragen. Wie lebt es sich, wenn man sich als türkischer Deutsche oder deutscher Türke fühlt? Und dann noch in der Nationalmannschaft spielt? Das wären spannende Fragen, auch wichtig für die Frage nach Integration überhaupt.

Aber die durften ja nicht reden. Wahrscheinlich ein Maulkorb vom DFB. Es ginge ja nur um Fußball, meinte Bierhoff.

Quatsch. Beim DFB geht es nie nur um Fußball, sondern ebenso um Geld, Macht und Einfluss. Bei der FIFA sowieso. Da dürfen sich alle möglichen Verantwortlichen mit allen möglichen Diktatoren dieser Welt ablichten lassen und kriegen auch noch viel Geld dafür.

Ich halte es für gut möglich, dass Özil & Co. in Russland zumindest unbewusst gedacht haben: Sollen sich die Leute in Deutschland doch gehackt legen. Ich verdiene mein Geld sowieso woanders, Weltmeister bin ich schon, und ich will endlich Urlaub.

Dass es anders geht, kennen wir vom Sommermärchen und aus Brasilien, als alle, wirklich alle Spieler fraglos „zu uns“ gehörten. Insofern stimmt Merkels Satz nicht ganz: Wir schaffen das. Genauer müsste er heißen: Gemeinsam schaffen wir das.

Und es stimmt also auch nicht ganz, dass Söder am WM-Aus alleine Schuld ist. Der DFB auch.

Mit der AfD reden – Fortsetzung

Mein letzter Beitrag zur AfD endete mit einer Kapitulationserklärung. „Ich kann es einfach nicht“, schrieb ich damals, Mitte März. „Ich habe es ehrlich versucht, viele Anläufe habe ich gemacht, aber ich schaffe es definitiv nicht, Rechtspopulisten wie die AfD wirklich zu verstehen.“ Inzwischen bin ich mir nicht mehr so sicher, ob das Verständnis wirklich so wichtig ist. Ich glaube, es ist viel wichtiger, überhaupt miteinander zu reden. Denn
1. wer miteinander redet, schießt nicht. Und nimmt sich
2. überhaupt erst wahr. Und hat dann auch
3. die Chance zu erahnen, warum der oder die andere so denkt.

Denn wenn es stimmt, was Berger und Luckmann von der „gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit“ schreiben, ist das Verständnis füreinander ohnehin Glückssache. Und wer dann noch das Gegenüber von der eigenen Meinung überzeugen kann oder auch nur Verständnis dafür weckt, hat schon das große Los gezogen.

Also wollte ich anfangen, nicht über die, sondern mit der AfD zu reden. Weiterlesen

* Von Menschen und Göttern

AlgerienDer Film beruht auf wahren Begebenheiten. Algerien, 1993. Neun Mönche leben in einem Kloster in Tibhirine. Sie haben sich dem Land und seinen Menschen gewidmet. Und deshalb studiert Bruder Christian den Koran, Bruder Luc heilt die Kranken des Dorfs und alle nehmen teil am Leben der Dorfgemeinschaft. Ihr Leben wird bestimmt durch den Rhythmus der Gebete und die tägliche Arbeit.

Dann geraten sie in den mörderischen Konflikt zwischen Militär und Islamisten. Ihre Lage wird lebensgefährlich. Und für die Brüder beginnt ein persönlicher und gemeinsamer Entscheidungsprozess: Bleiben oder gehen? Weiterlesen

* Wir müssen reden

Christoph war nicht ganz zufrieden mit mir, das wurde deutlich. „Warum willst du den interreligiösen Dialog?“, fragte er mich. Und ich sagte: „Weil er wichtig ist. Weil wir die anderen kennenlernen müssen, wie sie denken und so. Und die uns.“ – „Das reicht nicht“, meinte er. Christoph ist Experte für den interreligiösen Dialog. „Wie, das reicht nicht?“, fragte ich.

„Es kommt auf die persönlichen Beziehungen an“, sagte er. Weiterlesen