Verhandlungssache

Wenn wir an Abraham denken, steht das Bild von Isaaks Opferung oft im Vordergrund. Klar, wenn das Leben eines Kindes auf dem Spiel steht, schafft es diese Geschichte immer auf die erste Seite. Dabei gibt es eine andere, in der es um eine ganze Stadt geht – und in der Abrahams Charakter noch viel deutlicher zum Ausdruck kommt. Drei Männer besuchen ihn in seinem Beduinenzelt. Er lädt sie ein und bewirtet sie. Während des Gesprächs verraten sie ihm, dass sie, in Gottes Auftrag, zwei Städte zerstören sollen: Die Leute in Sodom und Gomorrha haben es sich mit dem Allerhöchsten verdorben. Doch mit der Zerstörung ist Abraham nicht einverstanden. „Und wenn es doch gute Menschen dort gibt?“, wendet er ein. „Gut, wenn es 50 Gute gibt, soll die Stadt leben.“ Abraham will das schon als Erfolg feiern, da kommen ihm Bedenken: „Und wenn es nur vierzig sind?“ Na gut, Gott ist gnädig. Vierzig also. Aber Abraham hat immer noch ein schlechtes Gefühl – nach mehreren Runden handelt er Gott auf 10 herunter.

Nun, wie man weiß, hat auch das nicht geholfen. Vielleicht hätte Abraham weitermachen sollen? Vielleicht hat er nicht damit gerechnet, dass die Städte so verdorben waren? Vielleicht wusste er auch als erfahrener Verhandler, dass seine Position ausgereizt war.

Man muss sich das einmal vorstellen: Der Mensch feilscht mit dem Allmächtigen um Menschenleben – auf der Seite der Menschen! An diesem Bild stimmt – dogmatisch – gar nichts. Und menschlich alles.

Denn im wirklichen Leben feilschen wir meistens mit Gott – um unser Leben, das unserer Lieben, das unserer Welt. Und Gott erweist sich oft als sehr flexibel: Dass die Menschen böse sind, nimmt er mal als Grund für deren Vernichtung, dann wieder – derselbe Grund! – für deren Rettung (Sintflut). Jakob stellt Gott Bedingungen : „Wenn es mir gut geht, will ich an dich glauben. Sonst – und im Raum steht, dass Jakob sich wohl auch durchaus anderen Göttern zuwenden würde. Eine sehr moderne Haltung (1. Mose 28,20). Später kommt es dann noch zu einer stundenlangen handfesten Auseinandersetzung mit einem Engel (Kap. 32).

Die Alten pflegen mit Gott ein äußerst dynamisches Verhältnis. Und Gott mit ihnen. Er macht zwar einen Vertrag mit Abraham, inklusive großer Versprechungen: Ich bringe dich zu jeder Menge Reichtum und Ehre. Wenn man aber genauer hinschaut, bleibt von dem allen nur ein Familiengrab. Und auch die weitere Geschichte Israels verläuft alles andere als glanzvoll.

Die Theologen haben sich immer eifrig bemüht, den Menschen dafür die Schuld zu geben. Nicht immer haben sie mich überzeugt.

Ich mag Abraham. Er weiß durchaus zu kämpfen (1. Mose 14). Aber im Grunde ist er ein großer Verhandler und Schlichter, der mit seinen Verwandten, Nachbarn und Gegnern gut auskommen will. Vielleicht ist seine Fähigkeit aus der Not geboren. Da er nichts besitzt und keine große Familie hat, ist seine Lage immer sehr unsicher. Eine militärische Auseinandersetzung kann er sich nur im Ausnahmefall leisten. Deshalb redet er.

Und auch wenn er manchmal in der Gefahr steht, sich um Kopf und Kragen zu reden – am Ende verdient er sich mit seinem Geschick und seiner Integrität von allen Seiten Achtung, auch die mächtiger Fürsten.

Ich glaube, dass ich Abrahams Situation nachfühlen kann. Zwar habe ich im Gegensatz zu ihm immer in einem festen Haus gelebt. Doch das Leben war für mich mehr schwankendes Boot als sicherer Hafen – in den letzten Jahren sowieso. Ich wurde enttäuscht, fallen gelassen und verletzt. Und ich habe Unterstützung erfahren und wurde gehalten; das Boot ist bisher nicht untergegangen.

Und wie Abraham habe ich ein Versprechen, eine Verheißung bekommen. Mein Konfirmationsspruch lautet: „Gott spricht: Ich will mit dir sein.“ (2. Mose 3,12) Aber wie das mit Verheißungen so ist: Was macht mich so sicher, dass ich wirklich gemeint bin? Gott sprach ja eigentlich zu Mose. Auch Abraham hat ihn gehört, Paulus und vielleicht sogar mein Nachbar. Doch mit mir sprach er allenfalls in Andeutungen. Ich kann Leonard Cohen verstehen, wenn er sich von Gott wünscht: „I wish we had a treaty I could sign.“ Ich wünschte, ich hätte einen Vertrag, in dem steht: Ich, Gott, erkläre verbindlich… Am besten mit Notar, Vertragsstrafen und all den Sicherungen.

Habe ich nicht. Ich habe nur die bisherigen Erfahrungen, dass ich lebe und dass ich gehalten werde. Ob das auch für heute oder gar morgen gilt? Dietrich Bonhoeffer hat schon recht: Wenn überhaupt, dann gibt uns Gott nur „in jeder Notlage soviel Widerstandskraft, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern auf ihn verlassen“.

In der direkten Auseinandersetzung ist Gott mir überlegen. Deshalb mag ich gegen ihn auch nicht kämpfen. Auf der anderen Seite will ich aber auch nicht so einfach aufgeben. Denn es gibt Dinge, für die es sich zu kämpfen lohnt. In Abrahams Fall waren es Sodom und Gomorrha. Manchmal aber ist es einfach nur Lebenszeit, ein guter Tag oder der Sonnenstrahl, der gerade durchs Fenster scheint – und mich zum Spaziergang animiert wie in der Stunde, als ich diesen Beitrag schrieb…

______________________________
Die „Dreifaltigkeitsikone“ – am berühmtesten ist die von Andrey Rubljev – nimmt den RubljevGedanken des Gesprächs auf. Sie deutet die Gäste des Abraham als die drei Personen der Trinität und in einem immerwährenden Gespräch mit sich selbst. Gott ist nur Gott in Kommunikation, Begegnung und Bewegung. Eine schöne ausführliche Auslegung findet sich in der Zeitschrift Quatember. (The Yorck Project (2002) 10.000 Meisterwerke der Malerei (DVD-ROM), distributed by DIRECTMEDIA Publishing GmbH. ISBN: 3936122202., Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=158610

Beitragsbild:  Julius Schnorr von Carolsfeld – Holzschnitt aus „Die Bibel in Bildern“, 1860. Drei Engel bei Abraham, Ankündigung der Geburt Isaaks. Quelle: Der Literarische Satanist, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5469758

Tief ist der Brunnen…

Früher habe ich ziemlich viel gelesen, besonders im Studium. Klassiker der Weltliteratur waren darunter wie Faust I und(!) II, Der Herr der Ringe oder Peggy, der Blindenhund. Die Freude am Lesen blieb, aber die Inhalte veränderten sich. Im Beruf waren es vor allem Zeitungen und Zeitschriften, die mich fesselten, von  der Zeit über Psychologie heute bis Zeitzeichen und dem Deutschen Pfarrerblatt. Als die Onlinemedien aufkamen, konnte ich mir gar meine morgendliche Presseschau leisten.

Die Zeiten der Bücher waren, mit wenigen Ausnahmen, ziemlich vorbei. Aber nicht die der Hörbücher. Harry Potter hat für mich die Stimme von Rufus Beck. Ein liebender Mann ist natürlich Goethe, aber ich höre Martin Walser. Und Thomas Mann hätte ich ohne Gert Westphal nie geschafft. Mit ihm allerdings waren Joseph und seine Brüder purer Lese-, Verzeihung, Hörgenuss. 36 Stunden, 30 CDs. Es ist gut möglich, dass ich sie mir demnächst zum dritten Mal gönne.

Thomas Manns Worte und Gert Westphals Stimme führen uns in eine ferne Vergangenheit, als Geschichte und Mythos noch nicht zu trennen waren. „Höllenfahrt“ heißt das erste Kapitel – eine Reise zum Beginn der Welt, wie er uns von der Bibel berichtet wird. Und gleichzeitig eine Reise in unser Inneres, in die Ur- und Abgründe des Menschen. „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollten wir ihn nicht unergründlich nennen?“

Und so geht Thomas Mann auch erst einmal in die Anfangszeit zurück, zum Turm von Babel, der Urflut, Kain und Abel bis hin zum Paradies und der Schöpfung, ehe er in der Zeit der Patriarchen ansetzt: Abraham und Esau, Jakob und Joseph. Und er taucht ein in die Bilder- und Mythenwelt des Alten Orients, versucht zu verstehen, wie die Menschen damals gedacht und gefühlt haben: ihr Verständnis von der Zeit, vom Leben, von ihrer Umwelt und besonders von Gott und den Göttern.Thomas_Mann_1937

Und Thomas Mann erzählt – mäandernd und ausufernd und doch immer dicht und spannend. Wie es kam, dass ein Zeitraum von offenbar mehreren Jahrhunderten auf vier Generationen zusammenschrumpfen konnte. Warum Abraham aus seiner Heimat auswanderte und wie er „Gott entdeckte“. Warum Jakob humpelte – vom Engel an der Hüfte verwundet. Wie Joseph seinen Weg fand zwischen Bestimmung und eigener Anstrengung. Von seinen Schwächen und Stärken, Fall und Aufstieg. Wie Potiphars Frau dem Joseph in unglücklicher Liebe verfiel. Und Joseph sich am Ende mit seinen Brüdern versöhnte. Von seinem Weg mit Gott. „Beide Jakob und Joseph, Vater und Sohn, sind Menschen ‚mythischer Bildung‘, die immer wussten, was ihnen geschah, in allem irdischen Wandeln zu den Sternen blickten und immer ihr Leben ans Göttliche knüpften“, schreibt der Ägyptologe Jan Assmann.

Und doch geht es nicht nur darum, die Bibel zu bebildern. Thomas Mann verhandelt die großen Gegenwartsfragen: Was ist meine Bestimmung? Abraham machte sich auf den Weg, nicht nur um gute Weidegründe zu suchen, wie viele andere zu seiner Zeit. Er war auf der Suche nach Gott. Und zwar nicht irgendeinem Gott. Nicht dem zweitbesten, selbst wenn es der Eine Gott des mächtigen Pharao, die Sonne selbst wäre. Sein Anspruch galt nichts weniger als dem Höchsten.

Und „Abraham entdeckte Gott und machte einen Bund mit ihm, dass sie heilig würden – einer im anderen“. So sagt es sein Nachfahre Joseph dem Pharao. Glaube gibt es nur in Beziehung. Der Mensch ist an Gott gebunden wie Gott an den Menschen. Das ist die uralte und immer wieder neue Erkenntnis.

Und: Glaube ist Geschichte. Eine uralte Geschichte, die immer wieder neu erzählt und neu erlebt wird. Die wir immer wieder neu finden und weiterschreiben in unserem Leben. Und es lohnt sich, sehr genau zu lesen und zu hören, für Religiöse wie für Atheisten.

Das hat Thomas Mann getan. Sechzehn Jahre hat er geforscht und mit seinen Erkenntnissen selbst die Forschung bereichert. Vier Bände sind daraus geworden, fast anderthalbtausend Seiten. Nichts für Feiglinge. Aber es lohnt sich. Die alte Welt wird neu, lebendig, farbig. „Wie kann man noch einmal einer schönen geschminkten Frau in die Augen sehen, ohne sofort auch an die Schilderung der Frau des Potiphar zu denken, ihren ersten Auftritt, der auf zwei Seiten, subtil verschachtelt, ägyptische Lidstriche vorführt, Duftöle, Frisierkunst, gefälteltes durchscheinendes Leinen, träge Blicke aus verschwimmenden Kohleaugen und sich schlängelnde karmesinrote Lippen, die hochmütig nervös geschlossen sind: ‚Das war Mutemenet, eine verhängnisvolle Person'“, schreibt Dieter Bartetzko in der FAZ.

Und doch sollten wir Thomas Mann nicht alles glauben, natürlich nicht. Denn auch er wusste nicht wirklich, wie es zuging vor 3-, 4000 Jahren. Auch er hatte seinen eigenen Blick. Und der war nicht nur in die Vergangenheit gerichtet, sondern auch in seine Gegenwart. Er schrieb seine Romane zur Zeit des Nationalsozialismus. Sein Anliegen war es, der Unmenschlichkeit das Ideal des Humanismus entgegenzusetzen. Und das ist ein ebenso christliches wie atheistisches Anliegen und behält, wie wir auch und gerade wieder erleben, bis heute seine Aktualität.

_______________________________
Beitragsbild: Blick in den Brunnen der Burg Königsberg i. Bay. Von Michaklu – Eigenes Werk, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=10597892
Bild im Text: Thomas Mann 1937, von Carl Van Vechten – Van Vechten Collection at Library of Congress, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=28419

Thomas Mann, Joseph und seine Brüder, vier Romane in einem Band, geb. Ausgabe, S. Fischer Verlag, Frankfurt/M., 6. Aufl. 2007, 1344 Seiten
Thomas Mann, Joseph und seine Brüder, Texteinrichtung Gert Westphal, Deutsche Grammophon, 2005 30 CDs 
Assmann, Borchmeyer, Stachorski, Joseph und seine Brüder I und II, kommentierte Ausgabe, Fischer, Frankfurt/M, 2018Peggy-der-Blindenhund
Und wer sich ein wenig einarbeiten möchte, kann hier im Netz etwas ausführlicher forschen: Miriam Albracht, Mythos und Zeit in Thomas Manns „Joseph in Ägypten“, pdf-Datei, 76 Seiten, http://www.mythos-magazin.de/mythosforschung/ma_mann.pdf
Übrigens hat Jan Assmann gerade mit seiner Frau Aleida den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhalten.
Und schließlich: Peggy der Blindenhund hat mich zu Tränen gerührt. Ich war ungefähr sieben.