Nachdenken über Gott

„Wenn dir der Gedanke kommt, dass alles, was du über Gott gedacht hast,
verkehrt ist, und dass es keinen Gott gibt, so gerate darüber nicht in Bestürzung.
Es geht vielen so. Glaube aber nicht, dass dein Unglaube daher rühre,
dass es keinen Gott gibt.

Wenn du nicht mehr an den Gott glauben kannst, an den du früher geglaubt hast,
so rührt das daher, dass in deinem Glauben etwas verkehrt war,
und du musst dich besser bemühen, zu begreifen, was du Gott nennst.

Wenn ein Wilder an seinen hölzernen Gott zu glauben aufhört, heißt das nicht,
dass es keinen Gott gibt, sondern nur, dass der wahre Gott nicht aus Holz ist.“
(Leo Tolstoi)

Mit dem Krebs veränderte sich mein Bild vom Glauben, von Gott. Vielleicht war es auch gar keine Veränderung, sondern eine Intensivierung; die Grundlinien waren schon früher gelegt. Aber die Voraussetzungen hatten sich verändert.

Mein erster Lehrer auf dem Weg war Leonard Cohen: You want it darker. Was ist, wenn der Krebs kein Versehen Gottes war, kein „Ich geh denn mal kurz Kaffee trinken“, während der Teufel den Hiob quält. Was ist, wenn er den Krebs wollte?

Wir kennen diesen dunklen Gott, den Richter und den, der das Leid Unschuldiger zulässt. Martin Luther nennt ihn „deus absconditus“ – den verborgenen Gott. Für den „natürlichen“ Menschen verborgen und unverständlich. Der Glaubende wendet sich dem „deus revelatus“ zu, der sich in Jesus offenbart hat – als derjenige, der die Sünde wegnimmt und den Menschen nur Gutes will.

Für mich wird der Mensch dadurch entmündigt und Gott nicht ernst genommen. Für mich gibt es keinen „lieben Gott“ mehr, einen, der von seinen dunklen Seiten reingewaschen wird.

Widerspricht das aber nicht der gesamten biblischen Botschaft? Ist Gott nicht Liebe, menschenfreundlich und gut?

Ja, auch. Er ist sogar ganz großartig. Wenn er in allem ist und alles in ihm, dann ist sein Wesen ebenso schön und grandios, wie es das Leben eben – auch – ist.

Er ist beides, mal so und mal so, gut und böse, die coincidentia oppositorum (Nicolaus von Kues), das Zusammenfallen der Gegensätze. In der Theorie. Und deshalb in der Praxis vor allem: Unberechenbar.

Wie ich damit umgehen kann, habe ich bei Psychologinnen und Neurobiologen, Ärztinnen und Theologen gelernt. Die Kunst scheint darin zu bestehen, die Realität und eigene Wahrnehmung nicht zu leugnen – und dann die Fähigkeit zu haben, auf das Gute zu schauen.

Unsere Freundin Jutta Seeland (Psychotherapeutin) betont mit Gerald Hüther (Neurobiologe), dass unser Bewusstsein nicht nur unser Verhalten, sondern sogar das Verhalten unserer Zellen beeinflusst. Ärzte sagen, dass nachgewiesenermaßen – neben der Bewegung – eine gute Einstellung eine positive Wirkung hat. Für alle anderen alternativen Therapien gibt es keine ausreichenden Belege.

Giovanni Maio (Arzt) sagt: „Hoffnung ist ein Offensein für das, was kommen wird, und ein Vertrauen darauf, es bewältigen zu können.“ Und Fulbert Steffensky (Theologe): Hoffen ist „zu handeln, als gäbe es einen guten Ausgang“. Schließlich noch Sebastian Murken (Religionspsychologe): „Eine Religion hilft vor allem denen, die stark daran glauben, dass sie ihnen hilft.“

So verstehe ich auch die Botschaft Jesu: Er weiß darum, wie gefährlich das Leben ist. Er weiß um die Gefahr voPsalsssssssssssssssssn Hunger und Krankheit, um Unterdrückung und Folter. Und doch sagt er: Sorget nicht! (Matthäus 5,25ff.) Wenn wir ihn nicht für unzurechnungsfähig halten sollen, dann meint er damit: Schaut auf die hoffnungsvolle Seite des Lebens. Geht nicht auf in den Bedrängungen der Welt. Sucht die gute Seite Gottes als Verbündete.

Es ist also wenig hilfreich, einfach nur auf Gott zu vertrauen und zu glauben, dass er es schon gut machen werde. Weniger „Der Herr ist mein Hirte“ (Psalm 23,1) als vielmehr: „Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen.“ (Psalm 18,30)

Ich halte den Psalm 23 immer noch für einen schönen Text, der trösten kann und beruhigen und in den Schlaf wiegen. Aber er trägt mich nicht mehr, wenn es darauf ankommt. Genausowenig wie der Satz, den Margot Käßmann anlässlich ihrer Krebserkrankung gesagt hat: „Ich kann nicht tiefer fallen als in Gottes Hand.“ Ich fürchte: Doch, ich kann. Ich muss nicht. Selbst wenn ich bisher immer gehalten wurde, kann ich beim nächsten Mal durchgereicht werden. Zu vielen ist es schon passiert.

Die Frage, wie ich denn mit einem unberechenbaren Gott umgehen soll, werde ich nicht durch das Fürwahrhalten solcher Glaubenssätze lösen, auch nicht, indem ich über ihn rede, sondern mit ihm. Ganz grundsätzlich sagt Martin Buber dazu: „Wenn an Gott glauben bedeutet, von ihm in der dritten Person reden zu können, glaube ich nicht an Gott. Wenn an ihn glauben bedeutet, zu ihm reden zu können, glaube ich an Gott.“

Im Grunde ist es das Gottesbild der Bibel, besonders des Alten Testaments. Dort wird eigentlich relativ wenig über Gott geredet, dafür umso mehr mit ihm. Einer der für mich wichtigsten Texte steht in 2. Mose 3, die Unterhaltung des Mose mit Gott am Dornbusch. Mose erhält von Gott den Auftrag, die Hebräer aus Ägypten zu befreien. Mose lehnt ab. Alles spricht dagegen, dass er es könnte. Gott besteht darauf. Mose verlangt Garantien. Gott gibt ihm keine. Nur seinen Namen.

Und der lautet eben nicht: „Ich bin, der ich bin“ – ich bin der Ewige, der Herrscher des Himmels und der Erde. Das ist griechisches Denken. Er lautet: אֶֽהְיֶ֖ה אֲשֶׁ֣ר אֶֽהְיֶ֑ה „Ich werde mich als der erweisen, als der ich mich erweisen werde. Mit anderen Worten: Du wirst es nur herausfinden, wenn du es ausprobierst.

Und Mose geht los. Mit nichts an der Hand als den Trick mit der Schlange (2. Mose 4,2-4) und einem Bruder, der zur Not für ihn reden soll. Nicht gerade viel gegen den Herrn der damals bekannten Welt.

Es hätte schief gehen können. Und es ist auch nicht gerade glatt gegangen. Aber die Hebräer konnten Ägypten verlassen.

Schließlich ist er dann doch gestorben, bevor er am Ziel war. Sein Lebenstraum hat sich nicht erfüllt, aber seine Aufgabe hat er bewältigt.

Und ich glaube, genau das ist Leben: Nicht dass wir unsere Träume verwirklichen können, sondern dass wir eine Aufgabe haben und sie bewältigen, jeden Tag neu. Václav Havel hat gesagt: Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.“

 

Lichtblick der Woche

„Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“, heißt es in den Psalmen (90, 12). Ich habe es nie ganz verstanden. Heißt es, dass ich das Leben nicht so wichtig nehmen soll?

Jetzt las ich, dass Luther nicht genau übersetzt hat. Genau steht da:

„Unsere Tage zu zählen, das lehre uns, auf dass wir klug werden.“

(Für die Theologinnen und Theologen: לִמְנֹ֣ות יָ֭מֵינוּ כֵּ֣ן הֹודַ֑ע וְ֝נָבִ֗א לְבַ֣ב חָכְמָֽה׃ ). Und das hat genau die gegensätzliche Bedeutung: Zähle jeden Tag, denn jeder Tag zählt.

Genau.

 

Aufs Leben schauen

In diesem Jahr habe ich zwei Gottesdienste gehalten, und jeder war auf seine Weise ein Highlight. Im Januar war es die Kombination mit der Musik. Ich erinnere mich noch an den Auftakt, Picinellis C-Dur Sonate, von Andrii Spharkyi auf der Posaune gespielt, und ich bin immer noch und immer wieder ganz geflasht. Es war ein schöner Gottesdienst.

Während dieser Gottesdienst besonders war wegen der Dinge, die in ihm geschahen, gewann der zweite seine Bedeutung vor allem durch die, die vor ihm passierten. Denn am Freitag und am Sonnabend ging es mir so schlecht, dass nicht klar war, ob ich wirklich auf die Kanzel würde steigen können. Nein, eigentlich war völlig klar, dass ich es nicht könnte. Glieder-, Magen- und Rückenschmerzen waren schon schlimm genug. Vor allem mein Kreislauf machte mir zu schaffen – ich kam kaum unfallfrei vom Sofa zum Sessel. Bis in die Nacht war nichts, aber auch gar nichts mit mir anzufangen. Und Ute meint, dass ich mit dieser Beschreibung noch nicht einmal besonders dramatisiere.

Und doch habe ich meine Kollegin Friederike Waack nicht angerufen und sie gebeten, die Predigt zu übernehmen. Obwohl ich wusste, wie es mir geht, habe ich diesen Gedanken nicht zugelassen. Denn ich wollte diesen Gottesdienst und wäre nur gewichen, wenn mich der Krebs von der Kanzel geschubst hätte. Und das wollte ich doch erstmal sehen.

Ich weiß nicht, was mich dazu getrieben hat. So unvernünftig kenne ich mich sonst nicht. Es war auch nicht so sehr eine bewusste als vielmehr eine instinktive Entscheidung. An dieser Stelle gönnte ich dem Tiger keinen Zentimeter. Ich dachte an Sonja (Ein Mann namens Ove): Wir können an den Tod denken oder wir können weiterleben. Gottesdienst bedeutete für mich Leben. Ich hatte mich vorbereitet und wollte meine Gedanken mit euch teilen. Ich wollte euch sehen. Ich wollte nicht zuhause liegen und an den Tod denken.

Ich glaube, dass ich noch nie mit solch wackeligen Beinen zur Kirche gegangen bin. Aber es gelang. Ich weiß nicht, ob mir diese Erfahrung in anderen Situationen nützen wird. Aber ich habe sie gemacht, und sie hat schon ihren Wert in sich.

Ich glaube, dass ich in einem gewissen Rahmen Entscheidungen treffen kann. Welche Medikamente will ich nehmen und welche Therapie durchführen? Blog schreiben oder Netflix gucken? Gottesdienst ja oder nein? Gespräche führen oder doch lieber nicht? Diese Entscheidungen beeinflussen mein Leben und seine Qualität. Aber ich spüre eine Grenze. Auf den Zeitpunkt meines Todes habe ich keinen Einfluss. Weder durch innere Vorstellungen, indem ich mir z.B. ausmale, wie wir die Route 66 fahren, noch durch irgendwelche anderen Entscheidungen.

Ich glaube, dass Gott der Herr ist über Leben und Tod. Er bestimmt Anfang und Ende des Lebens. Ich weiß nicht, ob Gott den Tod irgendwann für jeden Menschen von Anfang an vorherbestimmt hat oder ob er das adhoc entscheidet. Mir geht es aber ganz gut damit, das Ganze ihm zu überlassen.

route66-schild1-e1503652216841.jpgMeine Aufgabe ist es, die Zeit zwischen Geburt und Tod zu gestalten und die Möglichkeiten auszuloten. Im Moment ist die Route 66 in weite Ferne gerückt. Aber ausgeschlossen ist sie immer noch nicht. Ich schaue täglich auf das Schild im Wohnzimmer und freue mich daran und weiß: Wenn die Zeit dafür kommt, werde ich sie nutzen. Das Straßenschild ist ein Symbol für die Zukunft, wie (un-)wahrscheinlich sie auch immer sein mag.

Am Gottesdienst-Wochenende habe ich erfahren, wie recht Fulbert Steffensky hat, wenn er schreibt: Hoffen ist „zu handeln, als gäbe es einen guten Ausgang“.

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Beitragsbild: Aus dem Gottesdienst am 17. Januar; Gudrun Fliegner an der Orgel und Andrii Spharkyi mit der Posaune © Ingelor Schmidt
Route 66: © Erik Thiesen

 

Aus aktuellem Anlass

Liebe Freundinnen und Freunde,

auch wenn es aus dem Tumorland zurzeit nicht viel zu berichten gibt, möchten wir euch einen kurzen Zwischenstand mitteilen. Das PET/CT hat ja ein „divergentes Bild“ ergeben: Einige Metastasten sind zurückgegangen, andere dafür offensichtlich neu gekommen. Aber so beunruhigend diese Neuerscheinungen sind, man kann sie noch nicht recht einordnen. Auch ein MRT am letzten Donnerstag brachte keine Klarheit. Deshalb müssen wir jetzt wieder einmal abwarten.

Um die Vergrößerungen in der Lunge wirklich bewerten zu können, ist der Abstand vom letzten Staging eigentlich zu kurz. Die Ablagerungen in den Weichteilen und vor allem im Spinalkanal können richtig gefährlich werden. Oder sind es doch nur Auswirkungen der letzten Therapien? Ein Fall für das Tumorboard. Da der zuständige Onkologe in dieser Woche aber nicht im Haus ist, müssen wir bis zur nächsten Woche warten. Irgendwann in der zweiten Hälfte werden wir vielleicht nicht mehr wissen, aber Entscheidungen treffen müssen.

Der Säbelzahntiger gibt nicht auf. Wir aber auch nicht.

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Beitragsbild: Eines der MRTs des UKE © Erik Thiesen

Keine weißen Schafe

Fahne schwarzes SchafSeit vielen Jahren wird eine besondere Kirchenfahne an unserem Pfingstmontagsgottesdienst aufgehängt. Sie ist ein Geschenk der katholischen Gemeinde St. Ansgar an die lutherische Kirche in Niendorf. Die Farben stehen für die ökumenische Gemeinschaft (gelb-weiß sind die Farben des Vatikans, violett ist die der evangelischen Kirche). Und das schwarze Schaf? Dazu meinte der Pfarrer Rohtert bei der Übergabe: „Ich möchte Ihnen ein Geheimnis erzählen. Es gibt gar keine weißen Schafe.“

Alfons Rohtert war bekannt dafür, dass er eine besondere Liebe zu den schwarzen Schafen hatte – und das hieß für ihn: zu allen Menschen. Als ich ihn kennenlernte, war er schon fast 30 Jahre Pfarrer in Niendorf und bei Katholiken und Protestanten gleichermaßen bekannt und beliebt. Die Konfession spielte für ihn eine untergeordnete Rolle.

Orgelpfeifen mit Rohtert kl

Pastoren Trunz und Thiesen, Organist H.-J. Wulf und Pfarrer Alfons Rohtert

Ich erinnere mich: Im Advent 1994 machte das Niendorfer Wochenblatt in der Kirche am Markt ein Foto mit den lutherischen, freikirchlichen und katholischen Geistlichen aus Schnelsen und Niendorf. Wir bauten damals gerade eine neue Orgel, und die alten Pfeifen standen zum Verkauf. Wir baten um ein Werbefoto. Wie selbstverständlich nahm auch Alfons Rohtert eine kleine Pfeife und meinte: „Ich bin Niendorfer Pastor. Da kann ich auch für diese Orgelpfeifen Werbung machen.“

„Pastor“ ist bei den Katholiken eigentlich ein Pfarrer, der noch keine Gemeinde hat. Alfons Rohtert kümmerte sich nicht um solche Hierarchiefragen. „Hier in Norddeutschland heißen die Seelsorger Pastoren“, meinte er. Und so wurde er auch für viele Evangelische „unser Pastor“. Wenn ich bei einem Feuerwehrfest auftauchte, saß er schon da. Der Wehrführer erzählte von gemeinsamen Gottesdiensten, und es war deutlich: Alfons Rohtert gehörte dazu. Er war auch Dorfpastor von Niendorf.

Aber natürlich war er in erster Linie Pfarrer seiner Gemeinde St. Ansgar, deren Verwaltung er sehr ernst nahm. Das bedeutete die Teilnahme an vielen Gremien und Gemeindekreisen. Er selbst aber kommentierte sein Engagement mit einem typischen Understatement: „Ich gehe nur dahin“, meinte er, „damit die Leute in meiner Abwesenheit nicht über mich reden.“

In St. Ansgar arbeitete damals auch die Gemeindereferentin Gabriele Scheel.
Die beiden bildeten geradezu ein Dreamteam. Gemeinsam veranstalteten sie die Bibelspiele im Kloster Nütschau – mit einer beeindruckenden Zahl von Teilnehmenden. Die jährlichen Kirchweihfeste waren Legende, und die Partnerschaft mit Gemeinden in Indien und Island lag ihnen am Herzen.

Ihr größtes Projekt aber war die Alimaus. Anfang der 90er Jahre hatte Gabriele Scheel damit begonnen, Brötchen an die Obdachlosen am Hauptbahnhof zu verteilen. Sie gründete den „Hilfsverein St. Ansgar e.V.“, kaufte einen Zirkuswagen und setzte dort ihre Arbeit fort. Damals kamen sie und Alfons Rohtert auch in unseren Kirchenvorstand, um für das Projekt zu werben. Wir sagten eine maßvolle finanzielle Hilfe zu, sahen uns aber nicht in der Lage, uns darüber hinaus zu engagieren.

Die katholische Gemeinde aber konnte. Heute ist Alimaus eine der wichtigsten Hilfsorganisationen in der Obdachlosenhilfe in Hamburg. Zu ihr gehören neben der Essensausgabe eine Beratungsstelle, die Kleiderkammer „Don Alfonso“ und medizinische Nothilfe. Und ihr jüngstes Projekt ist der „Kältebus“, der im Winter bei Bedarf obdachlose Menschen in eine Unterkunft bringt.

RohtertAls Pastor Alfons Rohtert im Jahr 2001 starb, kam der befreundete Circus Jodokus und gab ihm zu Ehren Sondervorstellungen auf dem Kinderspielplatz hinter unserer Kirche.

Zu seinem Requiem bat die Gemeinde St. Ansgar uns evangelische Geistliche, im Talar zu erscheinen. Zur Kommunion lud der Priester alle ein, die sich eingeladen fühlten, unabhängig von der Konfession. Viele Protestanten gingen mit nach vorn. Ich schaute Pastor Trunz an, und wir entschieden uns dagegen. Zwei Pastoren im Talar bei einer katholischen Kommunion, damit hätten wir womöglich zu stark provoziert.  Ohne Talar hätten wir wohl teilgenommen.

In diesem Gottesdienst wurde mir aber auch deutlich, dass Alfons Rohtert keinesfalls nur aus Zufall katholisch war, wie ich jahrelang meinte. Er war tief in seiner Glaubenstradition verwurzelt und gewann seine Kraft aus der katholischen Spiritualität und seiner Verbindung zu den Benediktinern im Kloster Nütschau.rohtert-grabstein.jpg

Und dann bekam die Gemeinde doch noch Ärger mit der Hierarchie. Sie hatte in der Folgezeit eine längere Vakanzzeit zu überwinden. Ganz im ökumenischen Sinn lud sie Pastor Trunz ein, einen Wortgottesdienst am Sonntagmorgen zu übernehmen. Doch diese Zeit ist der Heiligen Messe vorbehalten, und das Erzbistum war mit einem Protestanten auf der Kanzel nicht einverstanden. Die Katholiken, die ich danach fragte, zuckten allerdings nur mit den Schultern und erinnerten an die Haltung ihres verstorbenen Pfarrers: Der Papst ist in Rom, und Rom ist weit.

Der Nachfolger versuchte dann das katholisch-konfessionelle Element deutlich zu stärken. Er wechselte dann ins Erzbistum und ist heute Generalvikar. An der Basis aber pflegen wir bis heute ein extrem entspanntes Verhältnis zwischen Protestanten und Katholiken.

Alfons Rohtert ist auf dem Niendorfer Pastorenfriedhof begraben. Auf seinem Stein steht ein Spruch von Vinzenz von Paul: „Glücklich, die den kurzen Augenblick des Lebens nützen, um Erbarmen zu üben.“

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Hat er sich diesen Spruch selbst ausgesucht? Hat es die Gemeinde getan oder seine Familie? Gleichviel – so habe ich ihn kennengelernt.

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Beitragsbild: Drei schwarze Ouessantschafe, von Anton Hornbläser – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=34010783
Bild 1, 4 und 5: © Erik Thiesen
Bild 2 Köllmann, im Archiv Forum Kollau, mit frdl. Genehmigung © FORUM KOLLAU e.V.
Bild 3 mit frdl. Genehmigung der Alimaus © Hilfsverein St. Ansgar e.V. – Alimaus

Aus aktuellem Anlass

Gestern war der Tag der Diagnosen. Nach dem PET/CT am Montag wurde noch ein Kopf-MRT gemacht, das wir gleich im Anschluss mit dem Operateur Prof. Westphal besprechen konnten. Und wie es aussieht, war die OP ein voller Erfolg. Die Metastase ist nicht mehr zu identifizieren, auch die anderen Raumforderungen sind entweder entfernt oder zusammengefallen und die Nachwirkungen unbedeutend. Der Professor zeigte uns beeindruckende Vorher-Nachher-Bilder. Er hat eine unglaubliche Arbeit geleistet.

Am Schluss des Gesprächs entdeckten wir, dass das PET/CT-Ergebnis auch bereits im System war, und das war keineswegs so eindeutig. Prof. Westphal konnte uns bei der Interpretation nur wenig weiterhelfen. Doch obwohl es schon nach Feierabend war, waren noch zwei Ärztinnen der HNO für uns da.

„Im kurzfristigen Verlauf divergentes Tumoransprechen“, heißt es im Bericht. Konkret: Die Metastasen am Fuß, in der Leiste und in der Leber sind rückläufig. In der Lunge gibt es kleiner und größer werdende Herde. Und im Rücken zeigen sowohl die Weichteile um die Knochen als auch der Spinalkanal deutlich vermehrte Stoffwechselaktivität. Es ist immer noch möglich, dass sie auf Nachwirkungen der Rücken-OP zurückzuführen ist. Die Erfahrungen aber haben gezeigt: Der Krebs mutiert, und gerade der Rücken ist eine Problemzone. Ein MRT in den nächsten Tagen soll klarere Ergebnisse bringen. In der kommenden Woche bespricht das Tumorboard den Fall, und dann werden wir sehen, ob uns noch etwas einfällt.

Bis dahin wird es eine unruhige Zeit: Wir wissen um die Gefahr, haben aber noch keine Strategie, um ihr zu begegnen. Und die Abstände werden kürzer: Dauerte es vor einem Jahr noch bis zwei Wochen nach der Chemo, bis sich neue Metastasen bildeten, kommen sie jetzt schon währenddessen. Wir haben zwar noch Pfeile im Köcher, sagen die Ärzte, aber sie werden stumpfer. Vielleicht müssen wir unser Augenmerk ja noch stärker auf alternative „Pfeile“ richten. Und dabei sind uns auch eure Informationen und euer Wissen wichtig.

Der Säbelzahntiger brüllt wieder. Es gab Zeiten, in denen es einfacher war, ihn zu ignorieren. Aber wir haben bei Fulbert Steffensky ja auch gelernt: „Hoffen lernt man auch dadurch, dass man handelt.“

P.S. Der nächste Gottesdienst ist bereits am 24. März. Ich stelle schon einmal den Predigttext bei „Zwischen Himmel und Erde“ rein. Wer noch nicht bei unserem Online-Bibelgesprächskreis dabei ist und gerne mitmachen möchte, dem gebe ich gerne das Passwort.

Wir wollen weiter hoffen lernen.

 

 

Auf den Punkt gebracht

Es gibt Menschen, deren Sätze keinen Punkt haben, sondern höchstens Kommas oder Semikola. Ihre Gedanken mäandern einfach weiter. Geistliche sollen dazu gehören. Ich kenne – öhm – jetzt gerade keinen, habe aber davon gehört.

Umso erstaunlicher, wenn ein Pfarrer ein Buch voller Aphorismen veröffentlicht, das nicht nur seinen Gedanken auf den Punkt bringt, sondern gleichzeitig unsere Gedanken weiterlaufen lässt. „Zärtlichkeit und Schmerz“ heißt das Buch, und Kurt Marti hat es geschrieben. Ich bekam es zu meinem Geburtstag 1982 von meinem Freund Johannes, und es wirkt seitdem wie eine Auffrischungsimpfung gegen die Bequemlichkeit des Denkens.

Ich kannte Kurt Marti schon. Seine „Leichenreden“, vor 50 Jahren erschienen, waren legendär. Und nicht wenige Theologiestudenten kannten den „Gustav E. Lips“ auswendig:

dem herrn unserem gott
hat es ganz und gar nicht gefallen
daß gustav e. lips
durch einen verkehrsunfall starb

Und Marti zählt etliche Gründe auf, warum es Gott nicht gefallen haben kann und meint schließlich:

im namen dessen der tote erweckte
im namen des toten der auferstand
wir protestieren gegen den tod von gustav e. lips

Wer die Sprache und Denkweise der Kirche der 60er Jahre im Ohr und vor Augen hat, der ahnt, welche Revolution Marti damit auslöste. Hier protestierte einer nicht nur gegen den Tod von Gustav E. Lips, sondern gegen eine Tradition, die einfach nachgesprochen wurde. Hier untersuchte ein Pfarrer die Wahrheit auf Wahrhaftigkeit.

Für viele von uns Theologiestudenten der 70er Jahre war es eine Befreiung. Und erst in der Gemeinde merkte ich, wie viel Mut Kurt Marti gehabt hatte. Denn noch Jahrzehnte später entfaltete die Tradition – auch mithilfe vieler Gemeindeglieder – eine ungeahnte Macht. Aber Kurt Martis „Zärtlichkeit und Schmerz“ hat bestimmt auch dazu beigetragen, dass der Stachel blieb: auch mal gegen das Selbstverständliche zu denken.

Aphorismen sind, wenn sie gut sind, witzig und intelligent, überraschend und anregend. Und wenn sie sehr gut sind, enthalten sie Gedanken, die sich festsetzen wie Widerhaken, immer wieder bewegen, ihre Wahrheit erst im Erleben freisetzen und neue Facetten aufscheinen lassen. Dies ist eine solche Sammlung.

Hier las ich zum ersten Mal den Satz: „Wer Mitleid fühlen will mit einem Europäer, muß ihn tanzen sehen.“ (Afrikanischer Christ über seine weißen Brüder)  Aber mehr noch beeindruckte mich die Folie divine: Gott? Jener Große, Verrückte, der noch immer an Menschen glaubt.“ Das gesamte Glaubensbekenntnis, unsere Lebensgrundlage und Hoffnung in neun Wörtern. Wie macht Marti das?

Und uns Geistlichen gibt er mit auf den Weg, zart und genau zu sein: Zart und genau: das sind ästhetische Kategorien. Nicht weniger sind es theologische. Vor allem sind es Kategorien einer Gerechtigkeit, die göttlich zu nennen erlaubt ist, weil ihr Recht … dem Willen entspringt, … den Menschen, den Dingen zutiefst gerecht zu werden.

Mein Lieblingsgedanke aber – und viele von euch kennen ihn, weil ich ihn wirklich schon oft zitiert habe, ist die Frage: Gott, so denkt man oft, so verkünden Eiferer lauthals, sei Antwort. Spröder sagt die Bibel, daß er Wort sei. Und wer weiß, vielleicht ist er meistens Frage: die Frage, die niemand sonst stellt.

Und zum Schluss ein Gedanke, der genau in unsere Situation hineinspricht. Wünsche: Wie, wenn Wünsche nicht fertig werden, wenn der Tod ihnen zuvorkommt? Und doch wäre dies das geringere Übel. Trauriger ist’s, wenn die Wünsche fertig sind, aber der Tod nicht kommen will.

Kurt Marti starb vor zwei Jahren. Aber seine Wünsche und Gedanken sind nach wie vor lebendig.

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Kurt Marti, Leichenreden, dtv München 2004 (Erstveröffentlichung 1969 Frankfurt/M). Die Leichenrede steht auf Seite 27.
Kurt Marti, Zärtlichkeit und Schmerz, Sammlung Luchterhand, Darmstadt und Neuwied 1981. Die Aphorismen stehen auf den Seiten 14, 24, 116, 107 und 37. Und das „Eismeer“ von C.D. Friedrich ist das Titelbild von Buch und Blog.

Beitragsbild: Von Caspar David Friedrich – The Yorck Project (2002) 10.000 Meisterwerke der Malerei (DVD-ROM), distributed by DIRECTMEDIA Publishing GmbH. ISBN: 3936122202., Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=151054

 

Sapere aude

„Habe den Mut, weise zu sein“, lautet das lateinische Sprichwort. Immanuel Kant machte es zum Motto der Aufklärung und übersetzte: „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ Im Grunde könnte dieser Satz aber auch der Bibel entstammen… 

Der heutige Gottesdienst stand unter dem Motto „Glaube und Wissen“. Ausgangspunkt war ein Text aus dem Buch Kohelet, Kapitel 7,15-18 (E).

15 In meinen Tagen voll Windhauch habe ich beides beobachtet: Es kommt vor, dass ein gesetzestreuer Mensch trotz seiner Gesetzestreue elend endet, und es kommt vor, dass einer, der sich nicht um das Gesetz kümmert, trotz seines bösen Tuns ein langes Leben hat. 1Halte dich nicht zu streng an das Gesetz und sei nicht maßlos im Erwerb von Wissen! Warum solltest du dich selbst ruinieren? 1Entfern dich nicht zu weit vom Gesetz und verharre nicht im Unwissen: Warum solltest du vor der Zeit sterben? 1Es ist am besten, wenn du an dem einen festhältst, aber auch das andere nicht loslässt. Wer Gott fürchtet, wird sich in jedem Fall richtig verhalten.

Begrüßung:

Liebe Gemeinde, herzlich willkommen zu diesem Gottesdienst am Sonntag Septuagesimae. „Credo quia absurdum“ lautete in der Alten Kirche ein geflügeltes Wort: Ich glaube, weil es absurd ist. Das klang damals nicht ganz so widersinnig wie heute. Denn damals setzte man gleichberechtigt neben das Vernunftwissen das Erfahrungswissen. So schreibt Paulus (1. Korinther 1,18): „Denn das Wort vom Kreuz ist denen, die verloren gehen, Torheit; uns aber, die gerettet werden, ist es Gottes Kraft.“ Wenn wir im unvernünftigen Wort vom Kreuz Gottes Kraft erfahren, dann ist Gott anders als wir meinen, und mit dem Menschen und seiner Vernunft kann etwas nicht stimmen. Der moderne Mensch aber setzt die Vernunft an die erste Stelle und kommt zum Schluss, dass dann mit Gott etwas nicht stimmen kann.

Müssen wir also, wenn wir an das Wort vom Kreuz glauben wollen, denken wie die vormittelalterlichen Menschen? Oder gibt es eine Brücke zum modernen Denken? Für diese Frage habe ich einen interessanten Gesprächspartner gefunden. Einen Denker aus der ganz alten Zeit, der sehr modern gedacht hat. Kohelet, den Prediger Salomo.

In diesem Gottesdienst soll aber nicht nur das Denken zu seinem Recht kommen, sondern auch das Feiern: Musik und Singen, Beten und Hören und Segnen – in christlicher Gemeinschaft unter Beteiligung des Heiligen Geistes, der mit dem Vater und dem Sohn lebt und regiert von Ewigkeit bis Ewigkeit. Amen.

Und die Predigt:

Liebe Gemeinde!

Obwohl sich das Wissen der Menschen enorm vergrößert hat und wir durch das Internet Zugang zu allen möglichen Informationen haben, halten sich immer noch eine Reihe von populären Irrtümern. Sie werden immer weitererzählt, sind aber trotzdem falsch. Falsch ist z.B., dass die Menschen im Mittelalter dachten, die Erde sei eine Scheibe, dass die Wikinger Helme mit Hörnern trugen und die Beatles und Rolling Stones miteinander verfeindet waren. Das alles kann man auch überall bei ernsthaften Wissenschaftlern nachlesen.

Es gibt aber einen Irrtum, dem selten widersprochen wird, gerade auch von Wissenschaftlern. Und das ist die Meinung, dass Glauben und Wissen Gegensätze seien. Und Wissen besser sei als glauben.

Gut, früher glaubten die Menschen, Jupiter schleudert die Blitze und die Erde ist in 7 Tagen à 24 Stunden erschaffen – und einige glauben das heute immer noch. Aber wir wissen es eigentlich besser. Und keine Frage: Da ist das Wissen dem Glauben überlegen.

Aber es gibt ja noch ein anderes „glauben“. Wenn ich sage: Ich glaube, dass es regnet, heißt es: Ich weiß es nicht, ich vermute mal. Wenn ich es wissen will, muss ich es anschauen, untersuchen, prüfen. Ich muss mich distanzieren, damit ich ein möglichst objektives Urteil fällen kann.

Wenn ich an etwas glaube, an den Sieg des HSV, an meine Kinder, an die Liebe oder auch an Gott, dann muss ich es ganz nah an mich heranlassen. Dann werde ich emotional, subjektiv. Der Glaube an die Kinder oder an Gott hat mit Logik nicht mehr viel zu tun; er ist eine Frage der Beziehung. Dann gibt es auch, objektiv gesehen, plötzlich mehrere Wahrheiten. Denn andere glauben an Borussia Dortmund und hoffentlich ihre eigenen Kinder.

Alles also nur ein großes Missverständnis, weil wir glauben und glauben nicht auseinanderhalten können? Religion und Wissenschaft gehören also nur in verschiedene Schubladen – wobei die Religion in unserer Gesellschaft immer mehr an Bedeutung verliert.

So dachte ich. Und dann lernte ich, dass Religion und Wissenschaft durchaus in eine Schublade gehören und sich nicht ausschließen müssen, ja, dass die Wissenschaft sogar ihre Wurzeln im Glauben, in der Religion hat.

Am Anfang jeder Wissenschaft steht die Frage: Könnte es nicht sein, dass…? Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem und jenem? Eine Theorie wird aufgestellt und wieder verworfen, und so erweitert sich das Wissen von der Welt. Und je mehr wir wissen, desto mehr können wir beeinflussen.

Und genauso ist die Religion entstanden. Die Ägypter erkannten Zusammenhänge zwischen den Sternen und dem Nilhochwasser. Ihre Theorie: Da wirken Götter im Hintergrund. Und je besser wir diese Götter verstehen, desto mehr können wir sie beeinflussen.

Und genauso lesen wir es auch in der Bibel. Ursprünglich, so lesen wir in der Schöpfungsgeschichte, lebten Mensch, Natur und Gott in einer engen Beziehung. Dann stellt die Schlange die Frage: Sollte Gott gesagt haben…? Gott wird Objekt einer Untersuchung – der Anfang der Wissenschaft. Die enge Beziehung bricht auseinander. Und einen Weg zurück gibt es nicht, denn ein Engel steht davor. Der Garten wird zum Dornenfeld. Schmerzen und Leid gehören nun zu uns Menschen. Und wir können diese Folgen nur in den Griff bekommen, wenn wir forschen und erfinden, in der Landwirtschaft wie in Medizin und Technik. Macht euch die Erde untertan. Wir sind auf diesem Weg schon ganz schön weit gekommen. Und all das wird in der Bibel nicht Sünde oder Sündenfall genannt, sondern einfach nur erzählt.

In der Bibel geht es dann nicht so sehr um Fragen der Technik, sondern des Zusammenlebens: Was ist richtig, was falsch, damit wir leben und überleben können? Wenn sich etwas als erfolgreich erwies, wurde es aufgeschrieben und bekam mit der Zeit vielleicht sogar den Rang eines göttlichen (Zehn-)Gebots. Nach diesem Prinzip fanden auch die Propheten ihren Eingang in die Bibel – wenn ihnen der Lauf der Geschichte Recht gegeben hatte.

Die Autoren der Bibel waren Forscher. Und das gilt besonders für den, den Martin Luther den „Prediger“ genannt hat. Sein Name „Kohelet“ hat aber vielmehr mit „versammeln“ zu tun. Er sammelt Sprüche und Weisheiten – aber nicht die alten, die überlieferten und bewährten. Er beobachtet selbst.

Kohelet ist ein Philosoph ganz im Sinne des Sokrates. „Ich richtete“, schreibt er am Anfang des Buches, „mein Herz darauf, die Weisheit zu suchen und zu erforschen bei allem, was man unter dem Himmel tut.“ Und das macht er, konsequent und ohne Kompromisse. Er sieht die Welt an, und er ist erschüttert. Das Leben? Ein Hauch, mehr nicht. Gott? Auch er schenkt keine Geborgenheit mehr, sondern ist unberechenbar und letztlich ungerecht. Eine Gerechtigkeit nach dem Tod gibt es für Kohelet nicht. Das Streben nach Sicherheit ist sinnlos. Ja, selbst die Moral ist relativ. Kohelet ist der Existentialist unter den biblischen Autoren, melancholisch, manchmal sogar pessimistisch.

Und dann gibt er auch Ratschläge gegen den Weltschmerz: „Sieh, was ich Gutes sah: Es ist schön, zu essen und zu trinken und Gutes zu genießen für all die Mühe und Arbeit unter der Sonne in der ganzen Zeit seines Lebens, die Gott einem gegeben hat.“ Und er meint es keineswegs ironisch wie später Paulus, sondern wiederholt diesen Rat an mehreren Stellen.

Gut, er sieht auch, dass es den einen mehr als anderen vergönnt ist zu genießen. Wir sollten es akzeptieren, meint er. Und uns im Übrigen an Gott und seine Gebote halten. Was das allerdings genau bedeutet, wird bei ihm nicht so ganz klar. Auf alle Fälle nicht übertreiben, meint er, weder mit den Gesetzen noch mit dem Wissen:

Halte dich nicht zu streng an das Gesetz und sei nicht maßlos im Erwerb von Wissen! Warum solltest du dich selbst ruinieren? Entfern dich nicht zu weit vom Gesetz und verharre nicht im Unwissen: Warum solltest du vor der Zeit sterben? Es ist am besten, wenn du an dem einen festhältst, aber auch das andere nicht loslässt. Wer Gott fürchtet, wird sich in jedem Fall richtig verhalten.

Kohelet hat gesehen, wie schnell Gesetzestreue in Selbstgerechtigkeit und Einbildung umschlagen kann. Er weiß, dass das Wissen zum Guten wie zum Schlechten verwendet wird und dass alles, was doch dem Leben dienen soll, schnell auch zum Tod führen kann.

Wer die Kunst des Maßhaltens beherrscht, so seine Überzeugung, der findet Ruhe in seiner Seele. Ganz ähnlich hören wir es von den griechischen Philosophen. Und er gibt uns den Rat: „Geh deinen Weg mit Verstand und mit offenen Augen.“ Das klingt auch sehr nach dem „Sapere aude“, das der Aufklärer Immanuel Kant viele Jahrhunderte später verkündete: Wage es, selber zu denken.

Wenn wir selber denken, können wir allerdings auch zu anderen Schlüssen kommen als Kohelet. Es kann Zeiten geben, in denen der Mittelweg nicht der richtige ist, in denen man sich entscheiden muss. Oder in denen man sich am besten ganz zurückhält. Und was für den einen gilt, muss für die andere noch lange nicht stimmen. Wir stehen an ganz unterschiedlichen Stellen in unserem Leben und haben ganz verschiedene Aufgaben. Das finden wir aber nur heraus, wenn wir uns unseres eigenen Verstandes bedienen.

Warum nur sind Wissenschaft und Glaube in einen Gegensatz geraten? Weil wir angefangen haben, an die Autoren der Bibel zu glauben und nicht, wie sie zu glauben. Wir haben gemeint, die Bibel wäre irgendwann vor fast 2000 Jahren abgeschlossen gewesen. Aber sie wird weitergeschrieben, durch jeden, jede von uns. Jeden Tag.

Wir sind, wie die Autoren der Bibel, auf einer Pilgerreise durch ein Land, das uns bekannt ist und dann wieder ganz neu. Wir haben keine Sicherheit – noch nicht einmal die, dass Gott uns trägt und wir tatsächlich ans Ziel kommen. Wir haben nur sein vages Versprechen: Ich werde mit dir sein. Ob es stimmt, werden wir nur herausfinden, wenn wir gehen. Und Pilger reisen mit leichtem Gepäck. Pablo Neruda nennt die Dinge, die wir brauchen. Er schreibt:

Nur drei Dinge nahm er mit
auf seine Pilgerreise:
die Augen geöffnet für die Weite,
die Ohren gespitzt
und den leichten Schritt.

Amen.

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Beitragsbild: Motto der Manchester Grammar School, by Sallyannewilliamson – Own work, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=9950216

Lichtblick der Woche

Die Krankheit macht es einem nicht leicht, sie zu ignorieren. Immer wieder spielt sie sich in den Vordergrund, gerade jetzt in der Chemo, und zeigt uns unsere Grenzen auf.

Auch andere leben offensichtlich sehr im Bewusstsein ihrer Grenzen. Rose Ausländer zum Beispiel. Und sie macht Mut, den Blick zu wenden, denn „Noch bist du da“ – und die Welt ist es auch. Und sie gibt uns den Rat, unsere Angst in die Luft zu werfen und auf die Möglichkeiten zu schauen: „Sei, was du bist, gib, was du hast.“

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Aus Copyright-Gründen dürfen wir das schöne Gedicht nicht zitieren. Es ist aber ganz leicht im Netz zu finden, zum Beispiel hier.