Mein Vater heiratete eine Frau von der Geest, ihr Bruder eine Angeliterin, seine Cousine einen Bauern aus Dithmarschen. Und unsere Nachbarin kam aus Ellerhoop bei Hamburg. Das war in den 50er Jahren sehr ungewöhnlich. Denn sie kamen aus unterschiedlichen Landstrichen in Schleswig-Holstein. Und zwischen ihnen lagen Welten. Eiderstedter und Dithmarscher, reiche und stolze Marschbauern, verband eine jahrhundertealte herzliche Abneigung. Die Angeliter nannten Schwansen „güntaf“, jenseits der Schlei, also nicht weiter der Rede wert – obwohl beide Regionen zum fruchtbaren Hügelland gehören. Und sie alle schauten herab auf die armen Bauern von der Geest.
Der Landstrich, der sich westlich an Angeln anschließt, wird „Luusangeln“ genannt. Ursprünglich war es nur die Beschreibung für „helles“ Land, heller eben als der dunkle Boden Angelns selbst – vom dänischen Wort für Licht, lys. Doch seit Jahrhunderten verstehen die Angeliter darunter nur noch das „lausige Angeln“. Und die richtige Geest kam ja erst dahinter.
Unsere Familien also überwanden kulturelle Grenzen, die leicht zu unterschätzen waren. Es war die völkerverbindende Kraft des christlichen Glaubens, die dies möglich machte. Trotzdem waren die Mentalitätsunterschiede deutlich spürbar.
Und ich merke sie auch in Dörte Hansens Roman „Mittagsstunde“, wenn sie die Flurbereinigung beschreibt. In Brinkebüll kam sie wie ein Ereignis von außen über das Dorf. Fremde, hochdeutsch sprechende Landvermesser kartieren die Landschaft, gestalten sie neu, und nachdem sie noch ein einheimisches Mädchen geschwängert haben, verschwinden sie wieder. Ich habe es anders erlebt. Mein Vater hat die Veränderungen aktiv vorangetrieben und selbst mit den Verantwortlichen in Kappeln und Kiel verhandelt. Für ihn war die Flurbereinigung ein großes Abenteuer und die Zukunft, die er mitgestalten wollte.
Später ging es darum, sich in der Viehwirtschaft zu spezialisieren. Und obwohl er leidenschaftlicher Milchbauer war, baute er große Schweineställe – es war ökonomisch vernünftiger. Natürlich wusste er bald um das Prinzip „Wachsen oder weichen“ oder, wie es in der „Mittagsstunde“ heißt, das „große Dreschen“. Nur wenige konnten überleben. Und er wollte mit dabei sein, sich die Zukunft und den Fortschritt zu Verbündeten machen. Dass mein Bruder aus dem Hof, den er aufgebaut hatte, einen Ökobetrieb machte, war für ihn ein Rückschritt in alte, unökonomische Zeiten.
Meine Mutter hat mit dieser Haltung immer gefremdelt. Ja, so sehr sie sich auch zu integrieren versuchte, sie fühlte sich nie so ganz zugehörig. Immer wieder stichelte sie gegen das „Gedöns“, das mein Vater um die Familie Thiesen und den Hof Spannbrück machte. Und den Investitionen meines Vaters stand sie eher misstrauisch gegenüber. Sie verunglückte dann tödlich bei der Stallarbeit. Und erst durch die Nachrufe bin ich darauf aufmerksam geworden, dass ihr Blick nicht so sehr den Erfolgreichen galt, sondern denen, die in der Dorfgesellschaft eher am Rande standen. Hilfe für Notleidende war auch für meinen Vater selbstverständlich, aber mehr noch aus christlicher Verantwortung, „um Jesu willen“. Für meine Mutter war es eine Haltung, die aus ihrer eigenen Erfahrung kam.
Diese Haltung erkenne ich immer noch wieder. Vor einigen Jahren waren wir zu einem „Vettern- und Cousinentreffen“ der Familie meiner Mutter – sie selbst hatte vier Geschwister – eingeladen. Zu ihnen gehörten die Erfolgreichen ebenso wie „Menschen mit besonderem Assistenzbedarf“ – in Brinkebüll nannte man sie „Halfbackte“. Und wir erzählten uns viele Geschichten, wie sich Eltern um Kinder und Kinder um Eltern und die Geschwister umeinander kümmerten. Alle hatten sie ihre Sorgen und ihre Freuden, die einen mehr vom einen, die anderen mehr vom anderen. Wir trafen Menschen, die reden konnten und zuhören. Es war für uns ein besonderer Tag, an dem die Kategorien „Erfolg“ und „Misserfolg“ nicht zählten.
Waren es also die Gene, die sie so gemacht haben? Oder die Landschaft? Oder der christliche Glaube? Ich denke: einfach eine glückliche Mischung von allem.
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Luusangeln, von Christian Knoll, – selbst fotografiert, gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=7788111
köstlich, dat vun Di to läsen. Dor kümmt bi mi ok ole Vertellns in Erinnerung. Dat nächstemol, wenn ik ju beseuken kumm, lot uns Mol so`n beten plattschnacken vun ole Tieden. Nu mut k mi overs konzentreeren op dat, wat vör mi ligt. De Handschlag mit A. M. Kiek mol in`t Fernsehn.
Ik kom ok Mol, um dorvun to berichten. Tschüss, Ove
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Ganz toll, hier von Luusangeln zu lesen. Ich habe schon als „angeliter Kind“ ( in Großsolt aufgewachsen und noch wohnhaft) gelernt, dass westlich unserer einen Straße das echet Angeln zu Ende ist und Luusangeln beginnt…
Aber es ist sehr schön dort! 😉
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Das hast du sehr schön beschrieben.
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