Im nächsten Jahr feiert die Kirchengemeinde Niendorf ihr 250-jähriges Jubiläum. Vor ihrer Gründung gehörte sie zum Hamburger Kirchspiel Eppendorf, politisch aber zur Herrschaft Pinneberg und unterstand dem dänischen König. Zwischen den reichen Hamburgern und den ärmlichen Schleswig-Holsteinern gab es oft Streit, meist um Geld und Personalfragen. Wobei die „Pfeffersäcke“ die Nase immer ein wenig höher trugen.
Das Verhältnis wird schön von einer Geschichte illustriert, die ich von einem alten Niendorfer hörte: Es muss irgendwann in den Jahren vor dem Bau der Kirche geschehen sein. Die Eppendorfer hatten ihre alte Kirche renoviert und Kirchengestühl eingebaut. Da aber nicht genug Platz zur Verfügung stand und die Niendorfer sowieso mit den kirchlichen Abgaben im Rückstand waren, waren alle Sitzplätze für die Hamburger reserviert. Das erfuhren die Niendorfer Bauernjungs, überquerten in der Nacht vor der Einweihung die Grenze zur Hansestadt, brachen in die Kirche ein, stapelten das Gestühl auf dem Vorplatz und verbrannten es. Es hat die Freundschaft der Nachbarorte nicht vertieft.
Diese Geschichte erzählte ich gerne bei so mancher Kirchenführung. Bis mich ein anderer alter Niendorfer fragte, woher ich sie habe. Und ich erzählte, ich hätte sie gehört und sie stünde doch in der Kollau-Chronik.
Neugierig geworden schaute ich nun selber nach. Und siehe da, ich fand die Stelle. Allerdings hörte sie sich anders an. Der Streit ging um die Besetzung der Pfarrstelle. Man konnte sich nicht einigen. Und dann heißt es: „Es kam so weit, daß, als die Eppendorfer Kirche neu gebaut war, man die Kirchenstühle neu verpachtete und die alten Rechte der Holsteiner nicht achtete. Sie beschwerten sich und vernagelten die neuen Stühle, obwohl sie nicht übermäßig pünktlich in der Bezahlung der Kirchstände zu sein pflegten.“ Was auch immer das Vernageln bedeutete, es war ein unfreundlicher Akt der Pinneberger. Aber nichts von Bauernjungs, nichts von Freudenfeuer – und das Ganze passierte auch nicht kurz vor 1770, sondern 1631. Und die Vorstellung, dass hier in der Gegend nur arme Geestbauern lebten? Als ich das einem Nachfahren einer alten Niendorfer Bauernfamilie erzählte, wiegte er mit dem Kopf und meinte: Nein, arm waren sie nicht. Richtig reich auch nicht. Aber durchaus vermögend.
Meine Geschichte von den armen, aber tapferen Niendorfern, die sich gegen die hochnäsigen Geldsäcke aus der Stadt auflehnten, fiel ziemlich in sich zusammen. Das mag in diesem Fall harmlos gewesen sein. Aber aus solchen Vorstellungen können auch Mythen gewoben werden: So ist er nun einmal, der Niendorfer an sich. Macht nicht viel von sich her, hat aber innen ein aufrechtes Herz. Mit der Realität hat das dann nur noch am Rande zu tun.
Ich zeige gerne mit dem Finger auf Donald Trump und seine „alternativen Fakten“, lache über den Stern, der auf die Hitler-Tagebücher hereingefallen ist und frage mich, warum Claas Relotius so lange beim Spiegel mit seinen Reportagen aus Fakt und Fiction durchgekommen ist. Dabei bin ich selbst keineswegs gefeit davor, gerne das aufzunehmen und zu glauben, was sowieso in mein Weltbild passt.
Ja, sagte ich, als ich meinen Irrtum eingestehen musste, es gibt eine Wirklichkeit und es gibt eine Wahrheit. Und meine Geschichte mit den Bauernjungs ist eben wahr, denn sie illustriert doch wunderbar die Situation, wie sie zur Zeit der Kirchengründung existierte.
Diese Einstellung fand ich wieder beim Regisseur Werner Herzog, der in einem Interview mit dem Tagesspiegel gesagt hat: „Ich habe Dokumentationen gedreht, in denen so gut wie jedes Detail erfunden ist und die genau deshalb viel mehr Wahrheit enthalten als viele andere, die sich buchhalterisch an Objektivismus klammern.“
Ganz ähnlich gehen wir ja auch mit den biblischen Geschichten um, wenn wir sie nicht wörtlich nehmen wollen, weil wir dann mit der Naturwissenschaft in Konflikt kommen – von der Schöpfungsgeschichte über die Sintflut bis hin zu den Wundern Jesu: Wenn sie auch vielleicht nicht wirklich passiert sind, so sagen wir, drücken sie doch eine tiefere, eine göttliche Wahrheit aus.
Woher aber wissen wir von dieser Wahrheit, woher weiß Herzog, welche Wahrheit wirklich wahr ist? Liegt sie in den Geschichten, die aber womöglich erfunden – oder vielmehr gefunden – wurden, um eine dahinter liegende Wahrheit zu erzählen?
Ich bewege mich da auf unsicherem Boden. Wir können nur ahnen, wer die Autoren der Bibel wirklich waren – welche Erfahrungen sie gemacht, welche Verletzungen sie in ihrem Leben davon getragen, mit welchen Dämonen sie gekämpft haben. Wir kennen ihre Welt und ihre Motive nur in Umrissen. Und ich bin ganz anders, lebe in einer anderen Zeit und habe andere Herausforderungen zu bestehen.
Wahrheit entdecke ich, wenn ich genau danach frage, was unsere Welt zusammenhält. Was uns gut tut. Indem ich nach Gott frage und dem Sinn. Und ich entdecke, dass es die eine Wahrheit nicht gibt. Was für mich früher einmal wahr war, ist fraglich geworden. Was für mich heute wahr ist, sieht eine andere völlig anders. Und auch das gilt: Ich entdecke in den Gedanken des anderen eine Wahrheit, die mir völlig plausibel scheint. Aus einem Bibeltext leuchtet eine Erkenntnis, die mein Leben hell macht. Aber wenn ich nicht vorsichtig mit dieser Wahrheit umgehe, ist sie schnell wieder verschwunden.
„Zart und genau“, schrieb Kurt Marti, „sind … Kategorien …, die göttlich zu nennen erlaubt ist, weil ihr Recht … dem Willen entspringt …, zart und genau zu sein, d. h. den Menschen, den Dingen zutiefst gerecht zu werden.“
Den Menschen und Dingen gerecht zu werden bedeutet, immer wieder neu hinzuschauen. Denn sie können ganz anders sein und ganz anders werden als ich vorher dachte. Das gilt auch für Werner Herzog. Ich weiß noch nicht einmal, ob er den Satz wirklich so gesagt hat. Denn das Interview führte ausgerechnet Claas Relotius.
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Das Zitat aus der Kollau-Chronik stammt aus Dr. Adolf Hansen und Rudolf Sottorf, Die Kollauer Chronik II. Band, Seite 80, Altona 1929.
Und „Zart und genau“: Kurt Marti, Zärtlichkeit und Schmerz, Seite 116, Darmstadt 1981.
Es ist nichts Neues und doch eine schöne und nachdenklich stimmende Erzählung. Menschen nehmen Wirklichkeit selektiv wahr, vor dem Hintergrund ihrer Lebensgeschichte, ihrer Bedürfnisse und persönlichen Glaubenssätze.
Wir selektieren, lassen weg, heben hervor oder erfinden auch ganz neu. Und so entstehen unsere ganz individuellen „Geschichten“ und damit unsere „Wahrheiten“. An diese glauben wir fest und unermüdlich, für uns ist das Wahrheit und oft auch Realität. Und doch ist dies nicht die Realität, sondern lediglich unser empfundener Teil davon.
Schwierig und wirklich kompliziert wird es in Konflikten, wenn verschiedene „Wahrheiten“ je nach Eskalationsstufe auch unversöhnlich aufeinanderprallen, wie wildgewordene „Geister“ aus der „Unterwelt“ und die „Vernichtung“ des jeweils anderen bedrohlich nahe kommt.
Was ist also wirklich wahr oder besser noch Realität? Gibt es überhaupt so etwas wie die reine Wahrheit und damit objektive Realität? Ich bezweifele dieses!
Wenn wir uns als Menschen näher kommen und verstehen wollen, braucht es zwingend den Blick durch die „Brillen“ der anderen. Unser eingeschränkter Blick kann sich weiten und dieses Verstehen kann bereichern. Im Ergebnis können wir trotzdem unsere „Wahrheit“ bestärkt sehen. Doch haben wir diese zumindest einmal „hinterfragt“. Vielleicht stehen als Resultat aber auch verschiedene Wahrheiten nebeneinander, die sich möglicherweise sogar ausschließen. Sie können unseren Blick schärfen.
Wenn ich mir aktuelle gesellschaftliche Auseinandersetzungen vor Augen halte, beschleicht mich oft dieses Gefühl „schroff abgegrenzter Welten“. Und die Unversöhnlichkeit, mit der bestimmte Debatten geführt werden, dieses „Schwarz oder Weiß“ hilft mir nicht weiter. Wahrheit bleibt im Zweifel etwas Subjektives und vielschichtig. Auch „harte“ Fakten lassen sich, je vor dem jeweiligen leitenden Interesse, unterschiedlich interpretieren und dann als „Schwerter“ des jeweiligen Glaubens“ nutzen.
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