Die letzten beiden Wochen waren mal wieder voller extremer Erlebnisse. Wir können auch sagen: Voller elementarer Erfahrungen. Haben so unsere Vorfahren in der Savanne gelebt und gefühlt, als sie mit dem Säbelzahntiger kämpfen mussten? Damals war das Leben unmittelbar bedroht. Es ging immer ums Ganze. Und der Tiger konnte in jedem Moment auftauchen.
Als wir die Diagnose „Tumore in Hirn, Lunge und Leiste“ hörten, wussten wir: Das ist unser Tiger. Eine tödliche Bedrohung, die jederzeit zuschlagen kann und absolut unberechenbar ist. Anfangs konnten wir ihn noch nicht sehen. Wir hörten nur sein Knurren und sein Gebrüll. Aber wir konnten nichts Genaues erkennen. Und wir hatten Angst. Angst, die uns auch gelähmt hat.
Und dann begannen wir, der Gefahr ins Auge zu schauen: Eine zweite Untersuchung, die Gespräche mit den Ärzten, die Unterstützung von vielen Seiten – all das half, die Gefahr wie die Möglichkeiten und Grenzen der Gegenwehr besser einzuschätzen. Der Tiger war immer noch da, und wir wussten nun noch konkreter: Er ist immer noch stärker als wir. Aber wir richteten nun unsere Aufmerksamkeit auf ihn, blieben nicht bei uns selbst. Die unbestimmte Angst wurde zur konkreten Furcht.
Und dann kam es zum Showdown. Wir mussten den Kampf aufnehmen. Aber nicht wir allein mussten kämpfen, das machte vor allem das Team im Krankenhaus für uns. Mit einem kleinen Unterschied: Ich konnte mich direkt in seine Obhut begeben. Ute musste nach Hause, sie konnte gar nichts mehr machen. Vielleicht hatte ich es dadurch sogar leichter. Zumindest anders.
Und dann waren wir durch. Unser „Team“ war erfolgreich. Ich wachte auf und war immer noch da. Und der Tiger war weg, erst einmal. Wir lebten! Wir hatten uns, unsere Fähigkeiten und Möglichkeiten. Es ist fast wie vorher.
Aber der Tiger ist nicht tot. Er hat sich nur zurückgezogen. Vielleicht ist er noch stärker und gefährlicher geworden. Leckt sich die Wunden und sinnt auf Rache. Vielleicht ist er aber auch schwächer, vielleicht gibt er auf. Wir wissen es nicht.
Die Gefahr ist da wie vorher, und die Angst auch. Sie wird nicht weniger durch die Erfahrung von Rettung. Diesmal nicht.
Früher war es anders, meistens. Denn wir hatten ja schon immer Gefahren gemeistert. Sind durch dunkle Zeiten im Leben gegangen. Wir kannten Misserfolge, depressive Zeiten, Einsamkeit, Trauer, Angst und kennen sie immer noch.
Manches konnten wir vermeiden, leicht nehmen, umgehen. Andere stellten sich uns in den Weg, taten weh, verletzten uns. Ich wünschte mir auch schon, dass ich das Leben zuzeiten hätte leichter nehmen können. Aber ich komme aus einer christlichen Familie. Gott saß immer schon bei uns am Küchentisch. Und er warf auch schon für uns Kinder und Jugendliche die großen Menschheitsfragen auf: nach Himmel und Hölle, Tod und Leben und ewiger Erlösung.
Das hat mich vermutlich geprägt; Gott ließ mich nicht mehr wirklich los. Ich fand meine Geschichte in den Geschichten der Bibel wieder. Der Kampf am Jabbok (1. Mose 32) war schon früh eine meiner wichtigsten. So wollte ich sein: Wie Jakob, der mit dem Engel kämpft. Denn das entsprach meiner Haltung zu Gott und dem Leben. Denn Gott machte es mir nicht immer leicht. Aber er sollte mir auch nicht davonkommen.
Oder Hiob. Er war verzweifelt über sein Unglück und lehnte sich gegen Gott auf. Darin war er mir nahe. Am Schluss allerdings unterwarf er sich dem Stärkeren. Damit verließ er mich wieder. Die Theodizeefrage blieb für mich ungeklärt und ist es bis heute.
Auch Martin Luther kannte diesen „verborgenen Gott“, diese unheimliche Seite des Lebens. Und wenn du dich vor ihm fürchtest, meinte er, sollst du „gegen Gott zu Gott fliehen“, also zu Jesus. Ansonsten sollten wir ihn wenn möglich ignorieren: „Sofern Gott sich also verborgen hat und von uns nicht erkannt werden will, geht er uns nichts an“, meinte er.
Aber auch diese beiden Möglichkeiten finde ich nicht sehr überzeugend: Ich will vor Gott weder fliehen noch ihn ignorieren. Es geht auch nicht, denn er ist immer stärker. Das hat Hiob doch schon erkannt.
In der Theorie gibt es kein Entrinnen vor Gott, vor dem Leben. Wir können ihn nicht besiegen. Wir können aber standhalten. Wie wenn unser Vorfahr vor dem Tiger stand und nicht weglief. Und die Erfahrung machte: Nicht der Mensch wurde gefressen. Der Tiger trollte sich.
Und dann öffnet sich ein Ausweg, ganz plötzlich. Und der Mensch ist überwältigt. Weil so etwas nicht zu planen ist und es beim nächsten Mal ja auch wieder ganz anders kommen kann. Aber diesmal sind wir gerettet. Und das überwältigende Gefühl kommt nicht nur aus der Rettung selbst. Denn es war schon vorher da, schon als wir standgehalten haben. Ein Gefühl von Kraft. Von Vertrauen. Von Freiheit im Angesicht des Lebens.
Und gleich werde ich wieder misstrauisch bei solch großen Worten. Die Zweifel kehren zurück, die Ängste schauen wieder um die Ecke.
Und dann erinnere ich mich. Nur wenige Tage ist es her, da habe ich es selbst erlebt. Da lag ich in der Anästhesie, und die Atmosphäre war heiter und zugewandt. Wir redeten über leichte Dinge. Die Mitarbeitenden untereinander waren locker und freundlich. Und als ich aufwachte, begegnete ich offenen und zugewandten und hilfsbereiten Menschen. Es war eine unglaubliche Erfahrung.
Ich musste weder flüchten noch kämpfen. Das Licht war einfach da.
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Beitragsbild: Rekonstruktion der Säbelzahnkatze Megantereon im Naturhistorischen Museum Wien. Von frank wouters – originally posted to Flickr as megantereon cultridens, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5268365
Lieber Erik, diese Kraft, dieser Mut, ich kann das nur bewundern. Und dich zu sehen Freitag mitten im Gewühl der riesigen Kreuzung-nach diesen Tagen- ich freue mich mit dir. Schlage den Tiger weiter in die Flucht und mit ihm auch die Angst. Das macht auch uns normal gesunde furchtloser.
Alles gute weiterhin von Gudrun
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Möglicherweise ist Gott ja nicht nur im Säbelzahntiger, sondern auch im Pfeil, der ihn tötet.
Aber in der Theorie bin ich nicht so zu Hause, bin nur der „User“. 😉
Toi-toi-toi für eine erfolgreiche Bogenführung!
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Aber unbedingt! Das ist ja gerade das Spannende, Unberechenbare, Beunruhigende und manchmal Furchtbare und dann wieder unbeschreiblich Schöne am Leben: dass es alles ist. Dass Gott alles ist.
Und ich glaube sogar, dass mir dabei die meisten Theologen zustimmen. In der Theorie. In der Praxis höre ich dann oft: Um der dunklen Seite Gottes zu entkommen (und das heißt ja der dunklen Seite des Lebens), müssen wir uns zum guten Gott, zu Jesus Christus „fliehen“. So hat Luther es ausgedrückt. Das ist für mich eine Flucht vor dem Problem. Und deshalb schreibe ich wohl etwas viel von der Bedrohung durch den Tiger.
Aber dem Tiger ins Auge sehen, wissen um seine Stärke, und dann merken, wie er beidreht, aus welchem Grund auch immer – das ist schon ein großes und gutes Gefühl.
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Lieber Erik, hab endlich den Weg gefunden, hier auch antworten zu können :-))
Das mit dem Säbelzahntiger gefällt mir, nicht nur weil es ziemlich archaisch und ursprünglich ist wie der Kampf des Jakob am Jabbok, sondern weil du damit auch einen Weg aufweist, wie wir Menschen ES (das Leid, etc ….) persönlich angehen können- eben als einen Kampf, durchaus auf Leben und Tod. Was mir bei der Jabbok-Geschichte immer wichtig war: dass es ja Gott ist, der fliehen möchte- und Jakob ihn nicht loslässt, bevor er von ihm den Segen erhält. Hätte ja ewig so weitergehen können, wenn sich Gott darauf nicht eingelassen hätte. Und es gibt da im Grunde keinen Sieger- wenn überhaupt, dann war es Jakob, wie sich aus dem Text entnehmen lässt. „Standhalten“ – das ist in eurer momentanen Situation die wirksame Haltung! Danke für deinen Text!
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Genau, lieber Friedrich. Mit Gott gegen Gott glauben. So ähnlich hat es Luther ja auch schon gesagt. Und nicht nur die Kraft spüren, die aus der Gottesbegegnung wächst, sondern auch die eigene Stärke.
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Lieber Erik, ich möchte dir schreiben, aber mir fehlen die Worte. Alles klingt hohl und floskelhaft. Mit Gott gegen Gott glauben – kann man es besser sagen? Dabei geht es gar nicht darum, wie man etwas SAGT, sondern um die Haltung dahinter. Chapeau!
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Liebe Ute, auch ich halte diese Formulierung für eine von Martin Luthers besten.
Ganz lieben Gruß und vielen Dank für Eure Ermutigungen
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