Exerzitien 33. Teil, Bingen 2018, die „vierte Woche“.
Ich war gesättigt und schlenderte noch ein bisschen ziellos durch die Stadt. Ich schaute mir die Marktstände an, sah auf die Menschen – alle hier schienen ein Ziel zu haben. Die einen, weil sie irgendwohin mussten, die anderen, weil sie wollten. Ich wollte nirgendwohin.
Und so ließ ich mich aus der Stadt heraustreiben, durch das Gartentor, und fand mich auf der Straße Richtung Joppe wieder. Je weiter ich ging, desto weniger Menschen traf ich. Umso überraschter war ich, als mich einer von hinten anrempelte. Ich schaute ihn genauer an. „Kleopas?“, fragte ich. Ich hatte ihn ein paar Mal in der Gefolgschaft von Jesus gesehen. Und auch er erkannte mich. Er stellte mich seinem Freund vor; die beiden waren auf dem Weg nach Emmaus.
Wir passten uns in der Geschwindigkeit an und kamen ins Gespräch, natürlich über Jesus. „Wir kommen gerade von der Jüngerrunde“, sagte Kleopas. „Und einige meinten, sie hätten Jesus gesehen. Er wäre nicht mehr tot. Sehr merkwürdig das Ganze, und wenig glaubhaft.“
„Nun“, meinte ich, „das mit dem leeren Grab mag stimmen. Ich war ganz in der Nähe, als es passierte.“
„Und?“, fragte Kleopas, „was hast du gesehen?“
„Ich weiß auch nicht so recht. Das Grab war leer, und Maria aus Magdala meinte, ihn gesehen zu haben. Ich sah nur einen Schatten und weiß nicht, ob sie recht hat.“
„Sie hat recht“, sagte eine fremde Stimme. Wir hatten nicht gemerkt, dass sich ein weiterer Mann zu uns gesellt hatte, der sich nun in das Gespräch einmischte. Wir schauten ihn fragend an. „Aber das ist doch offensichtlich“, sagte der Fremde. „Ihr kennt doch die Heiligen Schriften. Da steht schon alles drin.“
Und dann fing er buchstäblich bei Adam und Eva an und erzählte und deutete. Kleopas hielt dagegen, es entspann sich eine lebhafte Diskussion. Und als die Rede auf den Jesajatext kam, den Johannes mir gegeben hatte, mischte ich mich auch ein. Und obwohl wir unterschiedlicher Meinung waren, gerieten wir nicht wirklich in Streit. Wir diskutierten die großen Linien der jüdischen Theologie, streiften die griechischen Philosophen, verbissen uns in einen Einzeltext – und wir merkten kaum, wie die Zeit verging.
Die Sonne stand schon knapp über dem Horizont, als wir die ersten Häuser von Emmaus erreichten. Erst da fing ich an, mir Gedanken darüber zu machen, wo ich denn übernachten könnte. Aber Kleopas zerstreute meine Befürchtungen. „Es ist so nett mit euch“, meinte er. “ Wollt ihr nicht über Nacht bleiben?“ Wir willigten ein.
Kleopas und sein Freund wohnten offensichtlich alleine in dem Haus. Und während sich der eine in der Küche zu schaffen machte, schüttelte der andere einige Strohsäcke für das Nachtlager auf. Kurze Zeit später saßen wir um den gedeckten Tisch.
Da nahm, wie selbstverständlich, der Fremde das Brot, sprach ein Dankgebet und teilte es unter uns aus. Dann sagte keiner von uns mehr ein Wort. Kleopas und sein Freund starrten den Fremden an. Schweigend aßen wir, schweigend räumten die Hausherren den Tisch. Ich folgte ihnen in die Küche.
„Es ist wie beim letzten Essen mit Jesus“, flüsterte Kleopas.
„Dieselben Worte, dieselben Gesten“, ergänzte sein Freund.
„Meint ihr, er ist es?“, fragte ich. „Ehrlich gesagt, am Gesicht hätte ich ihn nicht erkannt. Sollte ihn die Kreuzigung so verändert haben?“
„Aber er hat uns genauso begeistert wie unser Rabbi“, sagte Kleopas. „Wisst ihr noch, damals am See Tiberias?“ – „Und in seinem Haus in Kapernaum“, ergänzte sein Freund.
„Wir sollten wieder rübergehen“, unterbrach ich ihre Erinnerungen. Aber als wir zurück kamen, war der Fremde verschwunden. Wir hatten ihn nicht gehen hören.
„Und wenn er es nicht war“, meinte Kleopas nachdenklich, „dann war es seine Gegenwart. Das müssen wir sofort den anderen erzählen.“ Und trotz der vorgerückten Abendstunde machten wir uns auf den Weg. Es sollte spät werden in der Nacht. Und in so mancher weiteren Nacht auch.
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Beitragsbild: Christus und seine Jünger in Emmaus, nach Hendrick Bloemaert – collectie.boijmans.nl : Home : Info : Pic, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=39428721