Ein normales Leben

Manchmal sagen wir: Wir hätten so gerne unser normales Leben zurück. Das Leben vor der Diagnose. Als wir uns noch nicht so bewusst waren, dass eben dieses Leben begrenzt ist. Als wir meinten, es weitgehend im Griff zu haben. Als wir noch davon ausgingen, dass uns unser Körper gehorcht und nicht so aus dem Ruder läuft.

Ist es das, ein „normales Leben“? Dann begegnen uns heute viele Menschen, die ein ebenso „unnormales Leben“ führen wie wir auch. Vielleicht sind sie uns auch früher schon begegnet, schon von Berufs wegen. Wir nehmen sie nur anders wahr.

Eine der Freundinnen, durch deren Leben auch plötzlich ein Riss ging, sagte uns einmal: Euer Leben, das ihr jetzt lebt, das ist euer neues „normal“. Das sagen wir uns immer einmal wieder. Und wir müssen es auch, denn wir haben ja jahrzehntelang im alten „normal“ gelebt.

Viele Menschen bleiben bei uns auf unserem Weg in dieses neue „normal“. Aber es gibt auch welche, die sich entfernen oder „verdunsten“ – sei es aus Unsicherheit, Sprachlosigkeit oder einfach, weil die Lebensverhältnisse nicht mehr zueinander passen. So wie sich Bekannte und Freunde sortieren, wenn man z.B. eine Familie gründet.

In diesem neuen „normal“ treffen wir nicht nur auf neue Menschen, sondern auch auf Menschen neu. Es ist, als ob Masken fallen – wir müssen uns nicht mehr erzählen, wie gut wir das Leben doch meistern. Denn wir wissen, dass wir es nicht im Griff haben. Wir können von unserer Angst erzählen, von den Verletzungen – und dann auch, irgendwie unbefangener als früher, von unseren Stärken und dem, was uns gelungen ist.

onkoambulanz.jpgIn diesem „normal“ kommen wir auch an Orte, an denen eine besondere Atmosphäre herrscht. Oder deren Atmosphäre wir heute anders wahrnehmen. Natürlich sind wir auch vorher immer wieder im Krankenhaus gewesen. Wenn ich jetzt aber in die onkologische Ambulanz komme, spüre ich eine Stimmung von beschädigtem Leben, Hoffnung und Heilung, die ich „im wirklichen Leben“ so nicht wahrnehme. Eine Solidarität von Menschen, deren Leben einen Riss bekommen hat – und die die Hoffnung nicht aufgeben. Menschen, die von der Krankheit gezeichnet sind und solche, die äußerlich fit sind.

Wir reden wenig miteinander. Aber es ist kein peinliches Schweigen. Wir müssen einfach nicht mehr viel erklären.onkostuhl.jpg

Wir haben ein besonderes Verhältnis zur Zeit. Denn immer wieder müssen wir warten – auf den Arzt, die Ärztin, auf das Medikament, die nächste Untersuchung, die Ergebnisse.

Und die Mitarbeitenden, von der Ärztin bis zum Pfleger, so ist meine Erfahrung, haben ein Gespür für diese Atmosphäre. Sie sind freundlich, zugewandt, ernst und heiter.

Und sie erzählen auch von Patienten, die pöbeln, die ungeduldig sind und ängstlich. Es gibt Gespräche, die uns nicht so gut tun. Es ist wie im wirklichen Leben. Das neue „normal“ eben.

„Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“, heißt es in der Bibel (Psalm 90,12). Dieser Satz hat eine tiefe Wahrheit. Doch auch dieser andere aus dem Film Ein Mann namens Ove gilt: „Wir können an den Tod denken oder wir können weiterleben.“ Der erste vielleicht eher für die, die in dem einen, unserem alten „normal“ leben, und der zweite für die im neuen „normal“.

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Bilder:
Beitragsbild: Pixabay
1. Bild: Die Onko-Ambulanz im UKE © Erik Thiesen
2. Bild: Ein typischer, bequemer Sessel in der Onko-Ambulanz © Erik Thiesen

Den Gedanken, dass Freundschaften „verdunsten“, lasen wir in einem Artikel über jemanden, der ebenfalls das neue „normal“ lebt.

Ein Gedanke zu “Ein normales Leben

  1. Ralf Liedtke schreibt:

    Ein schöner Beitrag, der mir gefällt und den ich aus Eurer Sicht gut nachvollziehen kann. Und schön ist auch, dass Ihr abwägt und auch die positiven Dinge, das Gute im „Schlechten“ sehen könnt!

    Ja, was ist eigentlich ein „normales“ Leben und nach welchen Maßstäben definiert sich dieses? Sicher, es gibt auf der einen Seite durch die Gesellschaft geprägte Annahmen, was „normal“ bedeutet, abhängig von der gesellschaftlichen Epoche und Zeit, der Kultur oder auch der Relegion. So war es im Mittelalter sich eher nicht „normal“, ein hohes Alter zu erleben. Die Menschen waren schon froh, wenn sie die 40 erreichten,

    Auf der anderen Seite hat jeder Mensch individuell geprägte Vorstellungen, was Normalität für ihn bedeutet. Und auch hier kommt die Gesellschaft erneut ins Spiel und prägt mit, was „normal“ bedeutet – ein gesichertes Einkommen, eine glückliche Ehe, strebsame Kinder, Haus und Garten, gute Freunde oder ein tolles Cabrio?

    Für einen Hartz 4 Empfänge bedeutet ein´“normales“ Leben sicher etwas ganz anderes als für den Vorstandsvorsitzenden von VW. Und für uns, die wir eine längere Phase von Frieden seit unserer Kindheit in Mitteleuropa erleben durften stellt sich „Normalität“ ganz anders dar als in einem Bürgerkriegsland, wo Not, Angst, Gewalt und Schrecken alltäglich sind.

    „Normal“ ist also ein relativer Begriff. Und ein „normales“ Leben zu führen muss nicht zwangsläufig ein „glückliches“ bedeuten. Oder? Für mich waren „Brüche“ in meinem Leben, die „Normalität“ erheblich störten, im nachhinein betrachtet fast ein „Geschenk“. Obwohl sie zu der Zeit jeweils „schmerzten“ und ich mich und Gott fragte, warum ist mir dieses „normale Leben“ so nicht vergönnt. Was habe ich falsch gemacht oder warum habe ich das verdient?

    Eine neue Normalität muss nicht gut und auch nicht erwünscht sein – die Eure ist sicher schwer zu akzeptieren, wirft viele Fragen auf und ist schwer zu leben. Aber Ihr macht das großartig und ich habe einen riesigen Respekt, wie Ihr diese andere Realität zu gestalten versucht.Und wie Ihr schreibt, manchmal tuen sich ganz neue Türen auf, bringt das „Neue“ auch gute neue Erfahrungen und ein gutes Karma.

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