Lerngemeinschaft

Der Gottesdienst heute war wieder ein besonderes Erlebnis, gemeinsam gestaltet mit Thomas Flower als Lektor und Ute Andresen als Liturgin. Und hier ist die Predigt. Die Grundlage ist das „3. Gottesknechtslied“, Jesaja 50, 4-9.

 

Liebe Gemeinde!

Wir gehören zu den Guten. Okay, ich gebe zu, dass wir das in der Kirche sonst nicht so offen sagen. Denn normalerweise hören wir, dass wir keineswegs gut sind, sondern allzumal Sünder und unvollkommen, voller böser Gedanken und manchmal auch Taten. „Ihr nennt mich gut?“, fährt selbst Jesus seine Jünger an und macht klar: „Niemand ist gut außer Gott.“

Und doch – betrachten wir uns doch einmal unvoreingenommen. Also ohne die Einreden der Theologen und ohne schlechtes Gewissen: Im Vergleich zu anderen sind wir, sagen wir mal, ganz schön gut. Wir sind doch diejenigen, die sich kümmern, um Flüchtlinge oder Familienmitglieder, um die Nachbarn oder um die Umwelt. Wir haben uns vorgenommen, diese Welt zu einem besseren Ort zu machen.

Natürlich: Niemand sagt, dass wir darin perfekt sind. Ja, noch nicht einmal, dass wir es tatsächlich schaffen. Aber irgendetwas, irgendjemand hat uns angesprochen, uns auf den Weg zu machen. Und eine Station ist dieser Gottesdienst. Wir möchten gestärkt werden, angestoßen, ausgerichtet und lernen, wie wir den Alltag gut leben können.

Und wir sind damit Kolleginnen und Kollegen des Mannes, der das Lied geschrieben hat, das im Buch Jesaja aufgeschrieben wurde, das wir eben gehört und dessen Nachdichtung wir gesungen haben: „Gott der Herr hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden.“ Auch er gehört zu den Guten, die andere Menschen aufrichten und ihnen Mut machen können. Und er bezeichnet sich selbst als „Jünger“ – oder, wie das hebräische Wort „limmud“ eigentlich heißt, als Schüler. Oder noch besser: Als Lernender. Denn die Schüler der Thora, der Bibel, lernen nicht so sehr, indem sie ihren Lehrern lauschen, sondern indem sie über die Verse sinnieren und vor allem miteinander diskutieren.

Das klingt für mich erst einmal ungewohnt. Ich habe mir Jesus und seine Jünger eigentlich immer so vorgestellt, dass der Meister erzählt und seine göttliche Weisheit weitergegeben hat und seine Jünger fasziniert zugehört haben, allenfalls Stichwortgeber waren und ansonsten dummes Zeug geredet haben. So wie es ja auch das Evangelium nahelegt, das Thomas Flower eben gelesen hat (Johannes 17, 1-8).

Aber vielleicht war es auch ganz anders.

LimmudDiskussionEin Jünger, ein „Limmud“, ist nicht so sehr Zuhörer als vielmehr Teilnehmer einer Lerngemeinschaft. Hat Jesus vielleicht dann auch tage- und nächtelang mit seinen Jüngern – und sicher auch seinen Jüngerinnen – diskutiert, um dann diese gemeinsamen Gedanken irgendwann auf den Punkt zu bringen und in einer Bergpredigt oder einem Gleichnis zu verkünden? Zumindest würde das dem jüdischen Verständnis von „Limmud“ entsprechen – und Jesus war ja Jude.Limmud

Bis heute werden in der jüdischen Gemeinde „Limmud-Tage“ organisiert, auch in Deutschland. Frauen und Männer, Kinder und Erwachsene, richtig Schlaue und eher Einfache diskutieren über Religion, über Geschichte und Musik, Politik und Gesellschaft, Literatur und Kunst. Lernen können sie alle. Und es gilt die Regel, dass sich alle Teilnehmenden mit Respekt begegnen und keine Meinung ausgegrenzt ist.

So stelle ich mir Gemeinde vor: dass wir eine Gemeinschaft von Lernenden sind. Dass wir die Themen, von denen wir bewegt sind, die uns begeistern, mit anderen teilen. Dass wir uns gemeinsam auf den Weg machen. Viel zu lange haben wir in der Kirche gemeint, es gäbe Experten des Glaubens und es gäbe eine Botschaft, die man nur lernen müsse. Doch was Gott uns zu sagen hat, das sagt er nicht in feststehenden Dogmen und Bibelversen, sondern das sagt er jedem und jeder von uns ganz persönlich – in Gesprächen mit anderen Menschen, in der Stille, durch ein Buch, durch die Natur. Und wie merken wir, dass es wirklich Gott ist, der redet? Ich bin überzeugt: Wenn wir aufmerksam sind, dann merken wir es. Denn Gottes Wort ist hilfreich und aufbauend und befreiend.

So wie es unser Liederdichter in der Bibel beschreibt: „Gott der Herr hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Lernende haben, dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden. Er weckt mich alle Morgen; er weckt mir das Ohr, dass ich höre, wie Lernende hören. Gott der Herr hat mir das Ohr geöffnet.“ Interessant finde ich hier die Reihenfolge: Erst kommt das Reden, dann das Hören. Im Lied von Jochen Klepper, das wir vorhin gesungen haben, ist es andersherum: Gott redet – der Jünger hört und gehorcht. So kennen wir’s. Der Liedermacher bei Jesaja aber hat bereits die Fähigkeit, anderen zu helfen, ehe ihm Gott das Ohr öffnet. Und wahrscheinlich stimmt beides. Wir haben die Fähigkeit, zur rechten Zeit zu reden und zu hören, weil wir uns nicht einbilden, schon alles zu wissen. Wir sind gleichzeitig Lehrende und Lernende, Hörende und Suchende.

Aber das Leben besteht nicht nur aus Reden, Hören und lernen. Es ist härter, das muss auch der Jünger bei Jesaja erfahren. Er wird verfolgt, geschlagen, verachtet. Die genauen Umstände bleiben unklar. Vielleicht bezieht er sich auf die Babylonische Gefangenschaft, vielleicht auch nicht. Wichtiger noch sind unsere Erfahrungen und was wir mit seinen Worten verbinden: „Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel.“ Auch heute machen wir die Erfahrung: Das Leben kann hart sein. Es ist nicht fair. Glücklich, wenn uns nicht allzu großes Unglück widerfährt. Was aber, wenn doch?

Jahrelang, jahrzehntelang hätte ich ziemlich eindeutig gesagt: Wir müssen dagegen ankämpfen. Wir müssen für das Recht eintreten, dem Unrecht widerstehen. Und das ist immer noch meine Meinung. Aber dann habe ich gelernt: Das ist nicht alles. Es gibt Situationen, in denen Widerstand zwecklos ist. Oder unklug. Oder einfach unchristlich – wie Paulus schreibt: Vergeltet nicht Böses mit Bösem.

Jochen Klepper dichtet: „Gott will, dass ich mich füge. Ich gehe nicht zurück.“ Und ich habe gelernt: Das ist die Hohe Schule des Lebens: Zu erkennen, wann ich mich fügen muss. Und es dann auch können. Und „fügen“ heißt ja auch nicht „verlieren“, heißt nicht: sich unterordnen, sich zum Opfer machen. Beim Jesaja-Jünger heißt es: „Ich habe mein Gesicht hart gemacht wie einen Kieselstein.“ Das kann heißen: Ich ließ mir nichts anmerken. Aber auch: Ich ließ mich nicht unterkriegen. So wie Paulus, der an die Korinther schrieb: „Wir sind von allen Seiten bedrängt, aber wir ängstigen uns nicht. Uns ist bange, aber wir verzagen nicht. Wir leiden Verfolgung, aber wir werden nicht verlassen.“

„Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann“, heißt es in dem bekannten Gebet des amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr, „den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ Das ist kein Zustand, den man irgendwann einmal erreichen könnte. Das ist immer wieder zu lernen und einzuüben. Genauso wie das Vertrauen, in das sich der Jünger bei Jesaja hineinhofft und hineinbetet. Immer wieder – wobei er es durchaus mit dem Selbstvertrauen tut, zu den Guten zu gehören: „Er ist nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten? Lasst uns zusammen vortreten! Wer will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir! Siehe, Gott der Herr hilft mir; wer will mich verdammen?“

Da sieht sich jemand vor einem Gericht. Jemand, der das Gefühl hat, zu Unrecht angeklagt zu werden. Und er sieht sich mächtigen Gegnern gegenüber. Aber er versteckt sich nicht. Er tritt vor, mit Selbstvertrauen und breiter Brust – in dem Bewusstsein, dass er nicht alleine ist. Gott ist sein Anwalt. Und andere Menschen stehen ihm zur Seite.

Ich kenne das Lebensgefühl. Das Vertrauen ins Leben. Es ist da, es kommt aus dem Innern, es wird gestützt von Menschen um mich herum. Aber ich kann es nicht festhalten.

Denn auch vor Gericht bekommt man nicht immer Recht, wenn man Recht hat. Wie im Leben, das auch nicht immer fair ist. Gerade dann kommt es darauf an, den Mut und das Vertrauen nicht zu verlieren. Und zusammen zu halten, sich gegenseitig zu stützen und zu unterstützen. Mit den Müden zu reden und aufmerksam zu sein für das, was zu tun ist. Auch wenn es manchmal schwerfällt. Denn Gott steht uns zur Seite.

Amen.

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Bildnachweis:
Limmud-Diskussion: By Olavie16 – Own work, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=31319952
Limmud-Tage Vilnius: By The Relationet Project, CC BY 2.5, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5973957

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