Unbeschwert laufen

Ich träumte, dass ich an der Kirche vorbei unbeschwert ins Gehege laufe – und fragte mich noch im Traum, was an dieser Szene nicht stimmte. Und als ich aufwachte, wusste ich es natürlich: Das letzte Mal, als ich unbeschwert gelaufen bin, war am 15. März 2015. Der Tag, an dem man mir sagte, ich hätte eine „Raumforderung“ im Rachen – zu deutsch: Krebs. Seitdem bin ich nie mehr 7 km am Stück gelaufen – für jemanden, der sich als „aktiven Nichtsportler“ beschreibt, eine Marathon-Strecke.

Heute bekomme ich Atemnot, wenn ich nur etwas zügiger spazieren gehe. Und ich kann manches Positive in meinem Leben heute entdecken – Unbeschwertheit gehört allerdings nicht mehr dazu.

Ich weiß, dass es Menschen gibt, die dieses Gefühl nie kennengelernt haben. Menschen mit einer Depression. Oder einer unheilbaren Krankheit. Oder mit traumatischen Kindheitserfahrungen. Und noch viele andere. Ich aber kenne es, besonders aus den Jahren vor der Diagnose. Als fast alles gut lief: im Beruf, in der Familie, unter Freunden. Es war kein Dauerzustand, aber doch eine immer mal wiederkehrende Empfindung. Ich hätte sie gerne mal wieder.

Die Aussichten stehen nicht so gut. Ich erinnere mich an Claudia, die in einem Interview sagte: „Die Krankheit ist mein Beifahrer, den ich zwar nicht mehr loswerde, aber von dem ich mir auch nicht ins Steuer greifen lasse. Ich gebe den Weg vor.“ Und ihr Interview ist überschrieben mit „Unheilbar, aber glücklich“.

Das kann ich nachvollziehen. Ich bin glücklich, dass ich mit Ute hier in dieser Wohnung, in Niendorf wohnen kann. Dass die Kinder da sind, Freundinnen und Freunde, die Gemeinde und viele Menschen darüber hinaus, auch über diesen Blog. Und dass dieser dunkle Beifahrer durch die Chemo auf ein Minimum geschrumpft ist.

Aber er ist da. Und ich muss ihm immer wieder auf die Finger klopfen, dass er mir nicht ins Steuer greift. Und den Unterschied zum Lebensgefühl von früher versuchte ich einem etwa gleichaltrigen Kollegen so zu erklären: Du hast eine Lebenserwartung von 80 Jahren, ich von 63. Das heißt nicht, dass ich nicht 80 werden kann. Und es gibt keine Garantie, dass du 63 wirst. Aber es ist ein anderes Lebensgefühl.

Ob sich das Gefühl der Unbeschwertheit einmal wieder einstellt?

3 Gedanken zu “Unbeschwert laufen

  1. Ralf Liedtke schreibt:

    Ich teile Deine Gedanken! Was ich Dir wünschen soll, weiß ich spontan nicht so recht! Ich befürchte, dass sich das „Unbeschwerte“ aus Deinem Leben verflüchtigt hat und sich in der alten Form nicht wieder einfinden wird. Du wirst weiter mit dem „Gesellen“ leben müssen, der mitfährt. Und solange Du der Fahrer bist, kann sich ein Glücklichsein immer wieder einstellen, wie Du selbst schön beschreibst.

    Neulich dachte ich, nun bin ich in einer ganz neuen Umgebung, wo ich heimisch werden möchte, mutig und neugierig, doch wieviel Zeit verbleibt mir dafür? Mütterlicherseits haben alle die 90 erreicht oder gar überschritten. Schaue ich mir die andere Seite meiner Ahnen an, ergeben sich große Fragezeichen – bestenfalls hätte ich dann noch 6-7 Jahre, um hier ein neues Glück zu finden. Dies ist eine Vorstellung, die mich eher irritiert. Also – jeden Tag von neuem begrüßen und mit Achtsamkeit in ihn hineingehen. Und sollte ich gesund und munter selbst auch ein hohes Alter erreichen, war das sicher auch nicht verkehrt.

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    • gebrocheneslicht schreibt:

      Ja, manchmal wird es uns bewusster als zu anderen Zeiten, dass unser Leben begrenzt ist. Und dann jeden Tag mit Achtsamkeit nehmen, das ist auch ein guter Rat. Und doch finde ich es auch wichtig Pläne zu machen und zu hoffen, dass uns noch viel Gutes widerfahren wird.

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