Nach Celle hatte ich mir einen Stapel Weltliteratur mitgenommen, die meiner kulturellen Bildung aufhelfen sollte: Aischylos und Sophokles, Goethe, Schiller und Lessing, Fontane und Dostojewski. Das war manchmal interessant und spannend (Faust I), manchmal eher nicht so (Faust II). Dann kam Dostojewski, die Brüder Karamasoff, und in diesem Wälzer eine kleine Geschichte, die mich in höchstem Maß fasziniert und irritiert hat: Der Großinquisitor (unbedingt selbst lesen, z.B. hier).
Die Geschichte spielt in Sevilla im 16. Jahrhundert. Die Scheiterhaufen der Inquisition brennen. Da kommt Jesus auf die Erde. Er spricht kein einziges Wort, aber alle erkennen ihn und laufen ihm nach. Doch plötzlich teilt sich die Menge, und der alte Großinquisitor tritt auf. Er lässt Jesus ins Gefängnis werfen, und die Menschen lassen es geschehen.
Abends besucht der Großinquisitor den Gefangenen. Er wirft Jesus vor, dass der den Menschen die Freiheit bringen wolle, mit der die Menschen aber nichts anfangen könnten. Er greift die Geschichte von Jesu Versuchung auf: Jesus habe das Brot, das Wunder und die Macht, die der Satan ihm angeboten habe, abgelehnt, um damit den Menschen die Freiheit zu geben – die sie der Kirche zu Füßen gelegt haben. Denn es gebe für Menschen nichts Qualvolleres, als selbst zwischen Gut und Böse entscheiden zu müssen. Sie möchten satt werden. Sie möchten sich anpassen und unterordnen. Sie möchten Autorität und Geheimnis. Deshalb hat sich die Kirche mit dem Satan verbündet und den Menschen genau das gegeben – aus Liebe zu ihnen.
Nach dieser Rede geht Jesus zum Großinquisitor – er hat immer noch kein Wort gesprochen – und küsst ihn auf den Mund. Der Inquisitor aber verlässt ihn mit den Worten: Geh, und komm niemals wieder.
Und ich fragte mich: Ist das wirklich so? Laufen die Menschen tatsächlich demjenigen her, der ihnen Brot verspricht und Macht und Wunder? Nicht zuletzt die Wahl von Trump scheint dem Großinquisitor Recht zu geben. Aber auch die Aufgeklärten, diejenigen, die laut „sapere aude“ rufen: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ (Immanuel Kant) – wie unabhängig sind sie wirklich in ihrem Urteil?
In der Kirche gibt es zumindest bis heute die Tendenz zur Autorität: Die Predigt ist ein Monolog, im Bibelkreis erklärt der Pastor, die Pastorin die „richtige“ Auslegung des Textes. Und überhaupt, die Berufsbezeichnung „Hirte“: Er soll für die Schafe sorgen, soll sie führen und auf sie aufpassen. Immer noch besser als die süddeutsche Bezeichnung „Pfarrer“, die eigentlich „Pfarrherr“ heißt – der Herr der Gemeinde.
Trotzdem haben wir noch einen Weg vor uns, bis wir es verinnerlicht haben: sapere aude – am besten in der ursprünglichen Bedeutung, wie Horaz es gemeint hat: Wage es, weise zu sein. Denn Weisheit ist mehr als Verstand.
Der Jesus aus dem „Großinquisitor“ redet nicht. Er küsst. Er liebt. Es spricht viel dafür, dass das der Anfang von allem ist – der Anfang der Weisheit und des Verstandes.
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