Lobetal, Celle

Aus der Reihe „Wie ich wurde, was ich bin“. Alle Beiträge findet ihr in der „Themensuche“ auf der rechten Seite unter der entsprechenden Kategorie.

Als ich 1976 in Neuendettelsau mit dem Studium begann, war das nun ja nicht gerade die große Welt. Aber gemessen an dem, wo ich herkam, hatten sich mir noch einmal neue Horizonte geöffnet. Ich lernte Menschen kennen, die nicht nur theologische Texte interpretieren konnten, sondern auch Autos reparieren und Knoblauch-Spaghetti kochen. Vor allem aber imponierte mir ihr müheloser Umgang mit anderen Menschen. Da hatte ich noch viel vor mir.

Im Lauf der Jahre habe ich dann versucht, meine Fähigkeiten zu entwickeln. Bei einigen ist es mir besser gelungen als bei anderen. Und bei allen Schwierigkeiten und Schmerzen – es war und ist immer noch ein gutes Gefühl: Nach den Sternen zu greifen.

20160624_111735Um meinen Horizont zu erweitern, machte ich im Sommer 78 ein dreimonatiges Praktikum in der Behinderteneinrichtung Lobetal in Celle. Es war eine andere Welt. Vielleicht lag es daran, dass die Sterne an einer anderen Stelle hingen.

Ich kam ins Haus Tanne. 12 Kinder im Schulalter und auf Vorschulniveau. Der 15-jährige Autist stand meistens in der Ecke und schaukelte seinen Körper. Wenn er aber betreut werden musste, wurde er kritisch. Im Lauf der Zeit durfte ich ihn selbst anziehen, ein großer Vertrauensbeweis.

20160624_111531An Holger erinnere ich mich besonders. Er war der Kleinste, 7 Jahre. Und der niedlichste. Mir geht immer noch das Herz auf, wenn ich an ihn denke. Mit seinem Wasserkopf, sagte man, hätte er eine Lebenserwartung von weiteren 7 Jahren.

Die Ausflüge in den Naherholungswald waren etwas stressig. Weil die Kinder so distanzlos waren. Sofort wenn sie Spaziergänger sahen, bettelten sie um Bonbons. Und bekamen oft welche. Wir hatten viel zu tun, sie einzufangen.

Eine Anfechtung war der „Tag der Offenen Tür“. Wir mussten unsere Kinder fein machen, damit wir uns den „Freunden der Einrichtung“ – das waren ja auch finanzielle Unterstützer – angemessen präsentieren konnten. Wir fühlten uns wie im Zoo und waren froh, als das vorbei war.

Vier Wochen lang betreute ich den Abenteuerspielplatz. Eine besondere Herausforderung waren dort die älteren Jungs, die ihn gerne als Tobeplatz benutzten. Körperlich war ich ihnen hoffnungslos unterlegen. Wir kamen trotzdem gut miteinander klar. Abends besuchten mich manchmal einige von ihnen auf meinem Zimmer.

Einmal fragte einer, ob ich ihm einen Brief schreiben würde. „Mach’s doch selbst“, meinte ich. Er guckte mich so an, dass ich erkannte: Er konnte es nicht.

Ich erinnere mich: Ich liebte diese Kinder. Sie haben mir gezeigt: Viele Sterne, nach denen ich mich ausstreckte, sind für sie nicht erreichbar. Deshalb müssen sie andere finden, und die dürfen nicht nur oben hängen. Manche von ihnen findet man auch auf dem Weg, ohne dass man sich danach ausgestreckt hätte.

Und ich erinnere mich an ein Gefühl von Entlastung, als ich spürte: Das Leben ist nicht vollkommen. Aber es kann trotzdem immer ein vollkommenes Leben sein.

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Bilder: (c) Erik Thiesen, fotografiert am 24. Juni 2016, als wir auf dem Rückweg von unserer Urlaubsreise in Celle vorbei kamen.

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