* Vom Engel, der fliegen wollte

Ein Märchen

Liebe Gemeinde,

Kinder brauchen Märchen, heißt es, und ich glaube: Erwachsene auch. Deshalb möchte ich heute ein Märchen erzählen. Und Märchen fangen an mit „Es war einmal“.

Es war einmal ein Engel. Manche Engel werden geboren, dieser Engel wurde geschaffen. Er war sofort erwachsen. Ein Schöpfer schuf ihn aus einem einzigen Holzstück. Und als der Engel fertig war, hielt der Schöpfer ihm einen Spiegel vor und fragte ihn: „Wie gefällst du dir?“ Und der Engel sagte: „Das ist schon ganz gut. Wallendes Haar, ein weißes Gewand und Flügel. Ich bin ein richtiger Engel“, sagte er. „Ein richtiger Engel“, sagte sein Schöpfer. „Aber ich schiele“, sagte der Engel. „Ja“, sagte der Schöpfer. „Das habe ich nicht so hinbekommen. Engel sind eben wie Menschen. Sie sind nicht vollkommen.“

Und dann versuchte der Engel, seine Flügel zu bewegen. Es ging nicht. „Warum kann ich meine Flügel nicht bewegen?“, fragte er. „Sie sind aus Holz“, sagte sein Schöpfer. „Du brauchst sie nicht zum Fliegen. Denn deine einzige Aufgabe ist es, den Menschen bei der Taufe zu helfen. Und dazu kommst du aus der Höhe herunter. Einmal in der Woche, einmal im Monat. Je nachdem, wann Menschen getauft werden.“ – „Aber dazu brauche ich doch Flügel.“ – „Nein, denn das macht ein Mensch für dich. Das ist überhaupt so bei den meisten Engeln: Sie brauchen Menschen, damit sie fliegen können.“

Und der Engel wurde an ein Seil gehängt und in die Höhe gehoben in der Kirche in Niendorf. Und er half bei den Taufen. Jahrein, jahraus. Aus seiner Höhe sah er die Menschen singen und beten und weinen und lachen und andächtig hören. Er sah die Menschen, wie sie schliefen und Quatsch machten und ihren Gedanken nachhingen, gelangweilt und interessiert. Und er dachte sich: Was diese Menschen wohl so denken?

Und einmal in der Woche, einmal im Monat kam er herunter und half bei der Taufe. und schon wenn er herunter schwebte, dann freute er sich über die staunenden Kinderaugen und wie sich die Erwachsenen freuten. Und er half bei der Taufe; er hielt die Schale. Und manchmal stieß ein Kind an seinen Fuß, einmal brach sogar ein Zeh, aber das machte nichts. Denn er war aus Holz. Er kannte keinen Schmerz.

Und es kamen Menschen in die Kirche, die voller Staunen und Freude sagten: Ein Engel, seht ihr? Ja, der Engel hatte viele Freundinnen und Freunde. Sie liebten ihn, und er wurde gebraucht. Was wollte ein Engel mehr?

Eines Tages wollte er mehr. Und er sagte sich: Vielleicht kann ich auch ohne Menschen fliegen? Und dann war es soweit. Ein unachtsamer Moment, ein kleiner Fehler in der Winde, und der Engel war frei. Er flog und flog und es war ein unbeschreibliches Gefühl.

Aber nur kurz. Denn schon bald kam er unten an. Sein Schöpfer hatte Recht gehabt. Seine Flügel konnte er nicht bewegen. Und so kam er ziemlich hart unten auf. Das ging nicht gut aus für seine Arme, und auch sein Bein war lädiert. Aber er fühlte keinen Schmerz, denn er war ja aus Holz. Und die Erinnerung an seinen Flug war unbeschreiblich.

Sofort kamen Menschen und trugen ihn weg. Das war auch ein gutes Gefühl – immer war er für Menschen da gewesen, jetzt waren Menschen für ihn da. Sie behandelten ihn gut. Die Arme wurden repariert, auch seine Beine. Und er war schöner als vorher.

markt-engelLiebe Gemeinde, wir sind mittendrin in diesem Märchen. Unser Engel ist geflogen. Und wenn man ihn fragt, ob er es bereut, dann sagen seine Augen: „Machst du Witze? Für nichts in der Welt würde ich dieses Erlebnis eintauschen. Nur schade, dass ich heute nicht bei der Taufe dabei sein kann.“ In der Tat, er ist nicht da. Aber er kommt wieder.

Und auch wenn dieser Engel nicht da ist, wir wissen, dass wir behütet sind. „Denn Gott hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, dass sie dich auf den Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest“, so heißt es im Psalm 91. Gott hat mehr als einen Engel – und dieser ist ohnehin nur derjenige, der bei den Taufen hilft, sonst aber nicht aus der Kirche herauskommt.

Ich glaube aber, dass er uns durchaus ein Vorbild sein kann. Er hat seinen Ort gefunden. Hier in der Kirche. Auch wir finden unseren Ort. Wo auch immer – in der Familie, im Beruf, in Niendorf oder anderswo. Und der Engel ist da, wenn er gebraucht wird. Meistens. Wenn er es nicht kann, so wie jetzt, dann hat er einen guten Grund. Seine Aufgabe ist es: Menschen zum Staunen bringen. Ihnen Freude schenken und Glück. Ist das nicht genau unsere Aufgabe, was auch immer wir tun: einander glücklich machen? Einander zu Engeln zu werden.

Und dann aber auch: In allen unseren Aufgaben und Zielen das Fliegen nicht vergessen. Die eigenen Wünsche und Träume nicht zu niedrig hängen. Erst dann, in dieser Kombination, bekommt unser Leben Glanz und Strahlkraft. Erst dann können wir das Licht ganz genießen, wenn wir unser eigenes nicht verbergen. Erst dann erleben wir ganz, was Jesus gesagt hat: „Ich bin das Licht der Welt; wer mir nachfolgt, wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern das Licht des Lebens haben.“

Ja, dieses Licht, das auch in der Dunkelheit leuchtet, das soll mit euch gehen. Heute. Morgen. Alle Zeit.

Amen.

Predigt im Gottesdienst mit Taufe im Mai 2016
Hintergrund: In der Kirche am Markt hängt ein Taufengel, der zu jeder Taufe an einem Seil heruntergelassen wird. Einmal aber versagte die Winde ihren Dienst, und der Engel flog ungebremst zu Boden. Er brach sich Arme und Beine. Vor allem aber: Die Taufgemeinde musste auf den geliebten Engel verzichten. In diesem Zusammenhang entstand das Märchen.

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