* Rendezvous in Athen

Ein fiktives Gespräch mit Paulus, aufgezeichnet während der Exerzitien in Bingen im Juli 2016

Zu den Bibeltexten, die mir während der Exerzitien zur Meditation mitgegeben waren, gehörte auch Römer 1,18-32. Paulus zieht dabei in unglaublicher Weise über Nichtchristen her, und der ganze Abschnitt ist durchzogen von einer misanthropischen und homophoben Grundhaltung. „Das kann ich nicht akzeptieren“, meinte ich zu Pfarrer Mückstein – und dachte, damit wäre der Fall erledigt. Doch der Spiritual vermutete hinter meinen emotionalen Ausführungen einen inneren Konflikt. Etwas, das Ignatius „ungeordnete Anhänglichkeiten“ nannte, die unbedingt bearbeitet werden müssen, ehe man davon unbelastet den Weg weitergehen kann. Und er riet mir, mich mit Paulus auseinanderzusetzen. „Aber das habe ich doch schon getan“, meinte ich. „Schon“, war sein Einwand, „aber nur auf intellektueller Ebene. Mein Vorschlag ist: Gehen Sie zu ihm und sprechen mit ihm. Er ist, wie Sie, ein Mensch, der eine wichtige und befreiende theologische Entdeckung gemacht hat und das unbedingt weitergeben will. Möglicherweise sitzen Sie im selben Boot. Besprechen Sie das mit ihm. Und am besten laden Sie Jesus zum Treffen mit ein.“ 

Die Idee reizte mich. Und so arrangierte ich ein Treffen mit Paulus. Hier ist mein Bericht.

AreopagIch hörte Paulus, als ich zu Besuch in Athen war. Es muss um das Jahr 52 gewesen sein. An einem schönen Tag schlenderte ich über den Versammlungsplatz, den Areopag, und kam gerade vorbei, als er eine Predigt hielt, die später als „Areopag-Rede“ weltberühmt werden sollte. Der Mann machte mich neugierig. Und so verabredete ich über Silas, seinen Sekretär, für den späten Nachmittag einen Termin.

Ich war etwas zeitiger da, und so sah ich noch einen gut gekleideten jungen Mann aus dem Zimmer des Paulus herauskommen. Der Faltenwurf seiner Toga wies ihn als Philosophen aus, der diesen Beruf und das Image auch pflegte. Ich schaute ihm nach, als Silas mich zur Tür führte. „Dionysios von Athen“, flüsterte er mir zu. „Ein vielversprechender junger Mann, sagen die Leute.“

Da traten wir auch schon ein. Der Unterschied zu Dionysos war augenfällig. Vor mir saß ein Mann in mittleren Jahren, der aber älter aussah. Das lag vor allem an seinem schmerzverzerrten Gesichtsausdruck. Er trank einen sehr merkwürdig aussehenden und riechenden Kräutersud. Es war offensichtlich: Paulus litt unter einer ausgewachsenen Gastritis. Kein Wunder, bei seinem Arbeitspensum. Er sah meinen Blick, lächelte etwas gequält und sagte nur: „Mein Pfahl im Fleisch.“

Silas fragte, ob ich ein Glas Wein haben wollte. Ich nickte, nippte daran – und meine Befürchtung bestätigte sich. Es war der übliche Mix aus Essig und Wasser. Na, besser als nichts.

Um das Gespräch zu eröffnen, meinte ich: „Das war eine beeindruckende Rede heute Vormittag, verehrter Paulus.“

Paulus schien von meiner Anerkennung nicht begeistert zu sein. Trotzdem redete ich weiter: „Ich finde, das war ein geschickter Einstieg mit dem ‚unbekannten Gott‘. Und wie du seinen Altar dann souverän umgedeutet hast.“ Noch am Vormittag hatte mir mein Gastgeber verraten, dass an diesem Altar keineswegs einem fremden, den Athenern noch unbekannten Gott geopfert wurde, sondern einem, den man bei der allgemeinen Opferung aus Unkenntnis oder Vergesslichkeit nicht bedacht hatte. „Und das Bild“, sprach ich weiter, „‚in ihm leben und weben und sind wir‘, das ist einfach großartig.“

Da unterbrach mich Paulus ärgerlich: „Genau das meinte dieser Dionysios auch schon. Und dann redete er davon, wie wunderbar das doch mit den philosophischen Erkenntnissen der Gnosis zusammenpasst. Aber darum geht es doch gar nicht. Einmal hat man keine Zeit und lässt seine Rede von einem Ghostwriter schreiben…“ Und als ich ihn fragend anschaute, meinte er: „Lukas hat sie geschrieben. Aber mit seinen Gedanken über den unbekannten Gott hat er vom Wesentlichen abgelenkt.“

„Und was wäre dann das Wesentliche?“

„Christus natürlich.“ Und bei diesen Worten trat ein besonderer Glanz in seine Augen. „Dass wir mit Christus gestorben sind und dieses Sterben täglich an uns erfahren und dann mit ihm auferstehen. Das ist doch schon lange vorher angekündigt worden in der Schrift und jetzt geschehen vor unseren Augen, wie der Prophet schreibt…“ – und dann zitierte er Jesaja und Jeremia. Und er redete weiter und weiter, intelligent und kühn, in immer neuen Bildern und Wendungen – und ich gestehe, dass er mich ermüdete. Ich wurde erst wieder aufmerksam, als er zum Finale ansetzte: „Jesus“, rief er, „Jesus ist die Rettung für die Menschen.“

„Und woher weißt du das?“, warf ich ein.

„Ich weiß es“, sagte er. „Ich habe es erlebt. Damals vor Damaskus, als mich ein helles Licht vom Pferd stieß und eine Stimme rief: ‚Saulus, warum verfolgst du mich?‘ Und ich wurde blind, denn ich war innerlich schon immer blind gewesen. Ich befolgte die Gesetze, aber sie nahmen mich gefangen. Und dann, nach drei Tagen, fiel es wie Schuppen von meinen Augen. Und ich war frei vom schlechten Gewissen, von den tödlichen Taten, von der Angst vor dem Versagen. Und vor mir lag ein helles, weites Land voller Frieden und Lieblichkeit. Die Menschen gingen aufmerksam miteinander um. Sie lachten und waren voller Hoffnung. Weil sie voller Vertrauen waren in Gott. Jesus selbst hat sie in dieses Land gebracht. Sein Tod und seine Auferstehung hat die Türen des Paradieses geöffnet.“

„Du hast das Paradies gesehen“, sagte ich. „Und woher weißt du, dass es Jesus war, der dich dorthin geführt hat?“

„Das hat mir ein Mann namens Hananias gesagt. Er gehörte zu den Christen, die ich verfolgt hatte. Er begegnete mir mit Liebe, und meine Seele wurde heil.“

„Das kenne ich“, sagte ich. „Auch ich wollte den Willen Gottes tun und seine Gebote befolgen. Aber es wurde immer enger.“

„Und dein Ausweg?“, fragte Paulus.

„Selber denken“, meinte ich und sah, wie Paulus einigermaßen entsetzt war. Aber ich fuhr fort: „Ich denke, das machst du auch. Du versuchst deine Erfahrung mit dem pharisäischen, dem jüdischen Denken zusammen zu bringen. Mein Hintergrund ist eher der griechisch-materialistische Geist.“

Und Paulus meinte: „Doch den Juden ist es ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit. Wir werden unseren Glauben weder hebräisch noch griechisch begründen können. Das kann nur Gott alleine. Denn er hat gesprochen: ‚Ich will unter den Menschen wohnen und mit ihnen gehen und sie werden mein Volk sein.“ (1. Korinther 6,16)

Da hörte ich eine Stimme hinter mir: „Was allerdings im Grunde nur für das Volk Israel gilt und auch nur, wenn es die Gebote und Gesetze Gottes hält.“ Ich drehte mich um und erkannt Ihn. „Gott hat den Menschen die Gebote gegeben, damit sie sie erfüllen.“

„Und damit sie erkennen, dass sie sie nicht erfüllen können“, ergänzte Paulus. „Deshalb bist du, Jesus, ja des Gesetzes Erfüllung durch deinen Tod und deine Auferstehung.“

Doch Jesus entgegnete: „Ich denke da eher an mein Leben und meine Botschaft. Mein Tod wird ja sehr unterschiedlich gedeutet. Da wird zum Beispiel behauptet, dass ich damit Gott versöhnt hätte. Darauf wäre ich nun nicht als Erstes gekommen. Immerhin habe ich die Gebote zum Teil so sehr verschärft, dass sie kaum noch zu halten sind.“

„Und deshalb“, warf Paulus ein, „wird deine Erlösung umso wichtiger. Eine Erlösung, die wir im Glauben annehmen müssen, damit sie wirksam wird.“

„Aber woher denn“, widersprach Jesus. „Ich habe niemals gesagt, dass der Glaube die Voraussetzung für die Erlösung ist.“

„Aber immer wieder hast du gesagt: Dein Glaube hat dir geholfen.“

„Natürlich. Und ich meinte: Dein Vertrauen in das Leben, in die Welt, in Gott hat dich geheilt. Ich habe gesagt, dass Gott keinen moralisch besonderen Lebenswandel für irgendetwas voraussetzt, auch keine Erkenntnis und kein Wissen, sondern einfach die Haltung des Vertrauens. Sorget nicht, denn die Menschen werden schon kommen, wenn sie merken, dass sie es bei Gott besser haben.“

Aus dem Augenwinkel hatte ich gesehen, wie Jesus mit der Hand kurz über meinem Glas wedelte. Ich trank einen Schluck und staunte nicht schlecht. Aus dem Essig war frischer süßer Wein geworden.

„Ich sorge mich aber“, widersprach Paulus. „Wenn wir nicht von dir und von Gott erzählen, dann weiß kein Mensch davon. Und wenn wir den Glauben nicht erklären, dann fallen sie in alte Sünden und verfehlen das Reich Gottes. Chloe zum Beispiel, die sich selbst zur Prophetin gemacht hat, bringt alles durcheinander.“

„Du hast Recht, lieber Paulus“, meinte Jesus. „Deine Gedanken sind wichtig und werden einmal viel wirksamer sein als die der Philosophen. Und sie werden den Menschen Freiheit bringen und Gottes Liebe. Aber sie werden ebenso oft missbraucht werden zur Unterdrückung und zur Unfreiheit.“

„Mein Ziel ist es, dass sich die Menschen zu dir, Christus, bekennen. Das ist doch das Größte, was wir erreichen können.“

„Ich weiß nicht“, meinte Jesus. „Das Reich meines Vaters ist nicht exclusiv in der Kirche zuhause. Entscheidend wird beim Letzten Gericht nicht das Glaubensbekenntnis sein, sondern die gute Tat.“

„Das kling jetzt aber sehr jüdisch“, meinte ich. Und Jesus nickte: „Mag sein. Aber ich glaube auch, dass wir dem Vater vertrauen dürfen. Er wird uns nicht abweisen, sondern zu seinem Fest einladen.“

„Mag sein“, meinte Paulus. „Aber bis dahin ist noch viel zu tun. Auf mich wartet eine Menge Arbeit. Eine Gemeinde will gegründet werden und eine andere organisiert. Silas, bringe das Schreibzeug.“ Und zu uns gewandt: „Vielen Dank für den Besuch, hat mich gefreut.“

Und Jesus lächelte, als er zur Tür ging: „Da kann wohl jemand nicht aus seiner Haut. Gut, dass Gottes Reich in vielen Formen wachsen kann.“

Anmerkung zu Dionysios: Über den biblischen Dionysios ist wenig bekannt. Lukas nennt ihn als Mitglied des Stadtrats (Decurio). Ich beziehe mich eher auf Pseudo-Dionysius Areopagita, einen Mystiker, der 600 Jahre später gelebt und sich weniger auf die Gnosis als vielmehr auf den Neuplatonismus bezogen hat.

Zu „Pfahl im Fleisch“: Paulus spricht in 2. Korinther 12,7 von einem nicht näher bestimmten Leiden – ein bisher ungelöstes Rätsel der theologischen Wissenschaft ;).

Lukas als Ghostwriter: Die Areopagrede ist von Lukas komponiert worden. Ein Lukas findet sich öfter in den Paulusbriefen, doch wahrscheinlich haben sich der Apostel und der Autor der Apostelgeschichte nicht gekannt.

Das Beitragsbild zeigt die Rede des Paulus auf dem Areopag, von Anton Dietrich (1833–1904) im Auditorium des Christian-Weise-Gymnasiums in Zittau – [1], Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=11277157
Das Bild im Text zeigt
den Areopag von der Akropolis aus gesehen. Von ajbear AKA KiltBear http://www.flickr.com/photos/ajbear/http://www.flickr.com/photos/ajbear/299116407/, CC BY-SA 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1495551

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